Die Zeit und ihre Zeiten
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Die Zeit und ihre Zeiten

Reflexionen
Ausgabe
2019/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.01836
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(04):127-128

Affiliations
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt, Ziefen BL

Publiziert am 03.04.2019

Heute muss alles schnell gehen. Die Autos, die Fahrräder mit E-Motoren, die mobilen Telefone, das Internet, das Einkaufen, einfach alles. Wenn man keinen Zeitmangel hat, ist dies fast verdächtig.

Heute muss alles schnell gehen. Die Autos, die Fahrräder mit E-Motoren, die mobilen Telefone, das Internet, das Einkaufen, einfach alles. Wenn man keinen Zeitmangel hat, ist dies fast verdächtig. Als die Computer vor bald dreissig Jahre Einzug hielten, versprach man sich Zeitgewinn. Davon sehe ich aber buchstäblich nichts.
Wenn ein Patient im Wartezimmer die genau gleichen fünfzehn Minuten wartet während derer sein Hausarzt einem mühsamen Patienten gegenüber sitzt und vergeblich Zeit aufzuholen versucht, erleben der Wartende und der Arzt ganz verschiedene Zeiten. Zeit ist nicht einfach Zeit. Es gibt eine langsame und eine schnelle, eine langweilige und eine spannende Zeit usw. Zeit kann schrumpfen oder sich dehnen. Zeit ist völlig subjektiv, obwohl der Chronometer etwas anderes behauptet.
Wenn ich an meine Kolleginnen und Kollegen denke, gibt es auf den extremen Polen die Zeitmeister und die Zeitopfer. Die ersten haben die Sprechstunde im Griff; sie arbeiten wohl in dem berühmten Flow? Die anderen leiden unter dem Diktat der Zeit. Um es gleich zu sagen: Dies hat nichts oder wenig mit der Qualität als Ärztin oder Arzt zu tun, aber ich weiss von meinen Freunden, dass es die erste Sorte leichter hat. Ein gelernter Sozialarbeiter und Organisator meinte einmal, Ärzte seien generell einfach schlechte Zeitmanager. Aber wir haben eben Ausreden: Notfälle dazwischen, dringender Telefonanruf einer leitenden Ärztin aus dem Spital, schwieriger Patient, unerwartetes Problem anlässlich der Konsultation; lauter ehrbare Gründe. Und trotzdem gibt es so grosse Unterschiede unter den Kolleginnen und Kollegen, die das alles nicht erklären können.
Eigentlich wäre es an der Zeit, die Zeit vermehrt zu thematisieren, denn offenbar ist sie zu einem immer kostbareren Gut geworden. Rüdiger Safranski, der deutsche Autor und Philosoph, ist einer, der es versteht für das Publikum zu schreiben. Eines seiner Bücher heisst «Zeit» [1]. Das Buch enthält Reflexionen über die Langeweile, die bewirtschaftete Zeit, das Spiel mit der Zeit, die Zeit und die Ewigkeit usw. Es ginge aber vielleicht auch bescheidener und pragmatischer, indem man das Thema im Qualitätszirkel bespricht oder an einem Kongress einen Workshop gestaltet. Wir reden ja oft über Dinge, die für unser tägliches Leben nicht so wichtig sind. Aber die Zeit ist Gold wert und wir verschwenden sie oft für unnötige Dinge, wir setzen ­falschen Agenden, wir überlassen den Patienten das Zeitmanagement, wir sind nicht realistisch beim Einschätzen des Zeitbedarfes für Sprechstunde, Haus­besuche, Sitzungen, Nebenarbeiten. Alles zusammen gezählt ergibt das schnell die berühmte Stunde, die man früher zu Hause sein wollte.
Jetzt aber aufgepasst, es geht nicht um die Kompression der Zeit, der grosse Irrtum der digitalen Medien und Apparate. Es geht nicht darum, noch mehr Daten, Worte, Ziffern etc. durch den digitalen Durchlauferhitzer zu jagen. Es geht nicht um Quantität, sondern um Qualität. Was tue ich vernünftig und empathisch in den fünfzehn Minuten, die ich für den Patienten zu Verfügung habe? Manchmal passt es, manchmal nicht, aber gibt es Regeln, gibt es Fallen? Ähnliche Fragen nochmals, wenn ich an den Berichten sitze. Wie fokussiert bin ich? Habe ich die Fragestellung verstanden, schreibe ich zielgerichtet? Safranski setzt einen Untertitel auf den Buchdeckel: «Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen». Das ist treffend.
Wir haben längst nicht alles in der Hand, schon gar nicht die eigene Geburt; da liegen wir eines Tages ungefragt, und die Zeit beginnt zu laufen. Im Kinderbuch «Grosser-Tiger und Christian» [2], ein wunderbares Lese- und Vorlesebuch von Fritz Mühlenweg, beschreibt der Autor aus eigener Erfahrung, wie die mongolischen Nomaden anfangs des 20. Jahrhunderts unendlich Zeit hatten und alles liegen liessen, wenn einer der seltenen Besuche kam. Zeit war bei aller Armut ihr grosser Reichtum. Heute ist das umgekehrt – bei allem Reichtum kaum noch Zeit. Es geht ja noch weiter nach der Sprechstunde, denn da kommt vielleicht der Tennisclub, das Theater-Abo, die Spanisch-Lektion, alles tolle Dinge. Aber wissen wir, was wir uns antun? Und dann ab in die Ferien, wo man unendlich Zeit hat oder hätte.
Ja, und jetzt kommt meine Schlussbeichte. Ich habe ­einige im Alltag «langsame» Kollegen gekannt, die die angenehmsten (fast mongolischen) Zeitverschleuderer in den Ferien waren. Ich habe sie benieden, so entspannt und genussvoll faul, wie sie sein konnten. Ich hingegen, eher schnell und diszipliniert in der Sprechstunde, zahlte meinen Preis für meinen internalisierten Tarmed-Taktfahrplan. Wenn zu lange nichts lief, bekam ich Kopfschmerzen. Ausgleichende Gerechtigkeit. Der souveräne «Master of Time» muss für mich ­zuerst noch geboren werden. Bisher habe ich keinen gesichtet.
Dr. med. Edy Riesen
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]gmx.ch
1 Rüdiger Safranski, Zeit. 272 Seiten. Hanser Verlag. Fester Einband. ISBN 978-3-446-23653-0.
2 Fritz Mühlenweg, Grosser-Tiger und Christian. Mit Illustrationen von Dieter Wiesmüller. 752 Seiten, dtv junior. ISBN 978-3-423-
71770-0.