Dankbarkeit
Das Buch in meiner inneren Bibliothek

Dankbarkeit

Reflexionen
Ausgabe
2019/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.01841
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(02):59-60

Affiliations
Ehemaliger Redaktor PHC; pensionierter Hausarzt, Ziefen BL

Publiziert am 06.02.2019

Seit ein paar Monaten pensioniert, stosse ich auf die Frage, was mir von den vielen Jahren im Beruf bleibt.

Seit ein paar Monaten pensioniert, stosse ich auf die Frage, was mir von den vielen Jahren im Beruf bleibt?
Um es vorwegzunehmen, es gab im Beruf auch anstrengende Stunden, Langeweile, Ärger und Überdruss. Das wurde mir wieder bewusst, als wir kürzlich bei meinem Schwiegersohn, unserer Tochter und ihren vier Kindern zum Nachtessen waren. Mein Schwiegersohn, mein Nachfolger, musste kurz Dampf ablassen und von seinem mühsamen Nachmittag berichten, ehe er entspannen konnte. Ich konnte ihm das mit jeder Faser nachempfinden! Am Vorabend hatten wir uns gerade noch darüber gefreut, wie wir um 19:30 Uhr am grossen Stubentisch einer Nachbarin eine tiefe Schnittwunde genäht haben, die bis aufs Retinaculum der Beugesehne des Dig. IV reichte. Das war Hausarzt­leben. Beide fanden wir die primäre Versorgung vertretbar und ich assistierte, während sich meine Grosskinder (die wir eigentlich hüten sollten) ums Haus und in der Nachbarschaft herumtrieben. Bei der kurzen Heimfahrt mit dem Velo empfand ich Zufriedenheit und Stolz, dass die Praxis weiter läuft (mit einem Compagnon als mein Nachfolger) und dass in der Person meines Schwiegersohnes ein richtiger «Dorfdokter» am Werk ist.
Zurück denkend an meine Jahre in der Praxis, empfinde ich eine grosse Dankbarkeit gegenüber meiner Familie, meinen Freunden, meinen nächsten Kollegen und meinen Patienten. Und da sind noch die Vorfahren, die mir die Genetik, und die Eltern, die mir eine behütete Jugend verschafft hatten. Klar, es hätte ein anderer Beruf sein können, Lehrer, Jurist, Journalist, und vielleicht hätte ich alles mit der gleichen Hingabe gemacht? Trotzdem vermute ich, dass der Beruf des Hausarztes eine grosse Chance bot, um nicht nur einer privilegierten ­Arbeit nachzugehen, sondern auch Mensch zu werden. Nicht dass ich etwa weise geworden wäre oder unfehlbar, aber die Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod hat mich auf einen guten Weg gebracht, um besser mit den wahren Frage des Lebens umgehen zu können. Je länger ich den Beruf ausübte, desto bescheidener wurde ich.
Die Medizin gibt ja gerne vor, für alles Antworten und Lösungen zu haben, aber das ist überhaupt nicht die ganze Wahrheit. Wir reparieren gerne und verlängern die Lebensspanne der Menschen, aber was dann daraus wird, überlassen wir den Philosophen oder – für die, die sich für Religion interessieren – den Theologen. Die Krankheit imponiert mir je länger je mehr als soziales Geschehen. Natürlich gibt es die Bakterien und Viren, die Abnützung, die malignen Tumoren, die Psychosen usw., aber der Kontext, in dem sie auftreten, ist ganz entscheidend bei der Bewältigung oder dem Ertragen. Das scheinbare Paradoxon des glücklichen Kranken besteht darin, ob er seinen Platz gefunden hat in der Gesellschaft, Familie, Gemeinschaft, bei den Freunden … und natürlich auch bei sich selbst. Das ist neben der materiellen Sicherheit das grosse Gegengewicht auf der Waage, wo sich entscheidet, ob jemand an einer Krankheit leidet oder sie gut ertragen kann. Selbstverständlich spielt die Medizin eine grosse Rolle. Dass es aber bei guter medizinischer Versorgung so viele unzufriedene, um nicht zu sagen unglückliche Menschen gibt, beweist doch, dass die Medizin alleine es nicht richten kann.
Deshalb bin ich dankbar, dass ich meine Gebresten und Verunsicherung nicht alleine ertragen und überstehen musste. Es waren immer Menschen da, die mich gern hatten und meine Zweifel zwar ernst nahmen, aber ­dagegen hielten mit Liebe, Vertrauen, Weisheit und vor allem auch Humor.
Die Patienten ihrerseits lehrten mich täglich, ohne dass ich immer genau sagen konnte, was es war. Sie lehrten mich nicht zuletzt mit ihren negativen Eigenschaften, sie lehrten mich aber auch mit ihrem Witz und mit ihrer oft erstaunlichen Klugheit, oder einfach mit ihrem Dasein. Sie lehrten mich auch, dass oft alles anders kommt als man denkt. Ich begriff, dass ich mir zu oft ein Bild machte von jemanden und dass der Bibelspruch «Du sollst Dir kein Bildnis machen» stimmt. Oft zeigte sich nach Jahren ein ganz anderer Mensch hinter der Maske, die er oder sie lange getragen hatte. Manche Menschen habe ich über dreissig Jahre begleitet und dann erst «entdeckt».
Wenn ich zurückdenke war es eine gute Zeit, während der es auch Nöte, Ängste und Schmerz gab. Es ist eine Illusion zu glauben, man käme ohne Leiden und Schmerz durch das Berufsleben. Es ist ein Unsinn, einen Beruf zu imaginieren, der alle Anstrengung und Frustrationen von einem fern hält. Was mir enorm geholfen hat, war das anthropologische Interesse, wie Menschen, Familien, Gruppen und Gesellschaften funktionieren, das ­Interesse an Geschichten und Charakteren. Das ist das Buch, das in meiner inneren Bibliothek ruht. Ich werde wohl noch ein paar Jahre weiter darin blättern und mich darüber freuen dürfen.
Dr. med. Edy Riesen
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt
Hauptstrasse 100
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edy.riesen[at]gmx.ch