Infektionskrankheiten reisen mit
Gesundheitsversorgung in den Empfangs- und Verfahrenszentren des Bundes

Infektionskrankheiten reisen mit

Fortbildung
Ausgabe
2019/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.01860
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(02):44-47

Affiliations
a Personalärztlicher Dienst, Inselspital, Bern; b Infektiologie, Inselspital, Bern

Publiziert am 06.02.2019

Seit dem 1. Januar 2018 wurden in den Bundesasylzentren die medizinischen Abläufe neu strukturiert. Das Ziel dabei ist, den Zugang zur Gesundheitsversorgung für die Asylsuchenden sicherzustellen, um übertragbare Krankheiten und andere akute Gesundheitsprobleme rechtzeitig erkennen und behandeln zu können.

Wenn wir an Ankömmlinge in den Bundesasylzentren denken, stellen wir uns meist Menschen vor, die direkt aus einem Krisengebiet eingereist sind und nach den erlittenen Strapazen unter psychischen und körper­lichen Symptomen leiden. Der Gedanke an oder vielleicht auch die Furcht vor «eingeschleppten» Infektionskrankheiten liegen nahe. Asylgesuchsteller haben aber ganz unterschiedliche Flucht- und Migrationsgeschichten. Sie stammen aus diversen Ländern, sind auf unterschiedlichen Wegen, teils im Transit durch mehrere Länder, eingereist und somit auch zeitlich verschieden lange unterwegs. Herkunftsland, Reiseroute, Reisedauer sowie spezifische Expositionsrisiken sind ausschlaggebend für die Differenzialdiagnose infektiöser Erkrankungen [1]. Analoge Überlegungen gelten für febrile Erkrankungen bei Reiserückkehrern [2].

Konzept Gesundheitsversorgung für Asylgesuchsteller

Resultierend aus dem revidierten Epidemiengesetz wurden per 1. 1. 2018 die medizinischen Abläufe in den Bundesasylzentren neu strukturiert und damit die ehemaligen grenzsanitarischen Massnahmen abgelöst. Das Hauptziel ist dabei, den Zugang zur Gesundheitsversorgung sicherzustellen, um übertragbare Krankheiten und andere akute Gesundheitsprobleme rechtzeitig erkennen und behandeln zu können [3].
Asylsuchende können ihr Asylgesuch in den Empfangs- und Verfahrenszentren (EVZ) des Bundes stellen. Insgesamt existieren aktuell in der Schweiz sechs EVZ. In den EVZ werden die erkennungsdienstliche ­Erfassung und Erstbefragung durchgeführt. Solange Asylsuchende in einem Zentrum des Bundes untergebracht sind, gewährleistet dieser die Sozialhilfe und übernimmt die Gesundheitskosten. Die Gesundheitsversorgung im Zentrum wird durch einen Gesundheitsdienst sichergestellt, mit Pflegefachpersonen als primäre Ansprechpartner und einem (oder mehreren) Zentrumsärzten. Je nach Verfahrensstand werden die Asylsuchenden in die Kantone transferiert. Nach erfolgter Zuweisung eines Asylsuchenden an einen Kanton, ist der entsprechende Kanton für die Leistung von Sozialhilfe zuständig. Die medizinische Grundversorgung erfolgt durch niedergelassene Ärzte, die Kosten werden durch die Krankenversicherung getragen.

Medizinische Versorgung im ­Bundesasylzentrum

Medizinische Erstinformation

Wie bereits erwähnt, sind die Pflegefachpersonen in den Gesundheitsdiensten (Medic-Help) die erste ­Anlaufstelle für die Gesuchsteller bezüglich medizinischer Belange. Sie übernehmen die so genannte ­«Gatekeeping-Funktion». Sie führen mit jedem Gesuchsteller/jeder Gesuchstellerin die obligatorische medizinische Erstinformation (MEI) durch. Diese ist ein computerbasiertes, animiertes und gesprochenes Informationstool (Abb. 1), übersetzt in die gängigsten Sprachen der häufigsten Herkunftsländer (www.medic-help.ch). Dabei wird dem Gesuchsteller der Zugang zur medizinischen Versorgung erläutert, er wird über wesentliche infektiöse Krankheiten und deren Übertragungswege (z.B. Tuberkulose, HIV) informiert, und er wird aufgefordert, sich bei Krankheitssymptomen bei Medic-Help zu melden.
Abbildung 1: Informationstool von Medic-Help Asyl. www.medic-help.ch. ­Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundesamtes für Gesundheit BAG.

Medizinische Erstkonsultation

Im Anschluss daran wird den Asylsuchenden eine medizinische Erstkonsultation (MEK) angeboten. Diese ist freiwillig und wird von den Gesuchstellern in der Regel gerne in Anspruch genommen. Auch diese, vom Pflegeteam durchgeführte Befragung, ist computerbasiert und wird per Audiodatei in den gängigsten Sprachen vorgelesen. Dabei werden Fragen zu chronischen Krankheiten, medikamentöser Therapie inklusive ­Substanzabusus, aktuellen Krankheitssymptomen und psychischen Beschwerden gestellt. Mehrere Fragen betreffen die Tuberkulose (Tbc). Dabei wird zum ­einen die Anamnese bezüglich stattgehabter Tuber­kulose und durchgeführter Therapie erhoben, zum andern werden die Symptome einer akuten Tuberkulose (Husten, B-Symptome) erfasst. Wie bei den ehemaligen grenzsanitarischen Massnahmen wird unter Einbezug des Herkunftslandes ein Tbc-Score errechnet, der je nach Höhe eine infektiologische Abklärung zum Ausschluss einer aktiven Tuberkulose impliziert.

Ärztliche Sprechstunde im Zentrum

Bei Vorliegen von chronischen Krankheiten oder Krankheitssymptomen, wird der Asylgesuchsteller den Zentrumsärztinnen und -ärzten vorgestellt. Die Abklärung und Therapie beschränkt sich auf akute Leiden. Bereits etablierte medikamentöse Therapien werden weitergeführt. Substanzabhängigen Personen wird eine entsprechende Substitutionstherapie angeboten, mitunter in spezialisierten Zentren. Ein Screening auf asymptomatische Infektionskrankheiten (u.a. HIV, Hepatitis B, Schistosomiasis) ist gemäss Vorgaben des Bundesamtes für Gesundheit BAG in den Zentren nicht vorgesehen [1]. Auch werden chronische Beschwerden, beispielsweise Erkrankungen des Bewegungsapparates oder chronische Hepatitiden, nicht weiterabgeklärt oder einer Therapie zugeführt. Es erfolgt jedoch eine medizinische Beurteilung mit Evaluation der Behandlungsdringlichkeit und Empfehlung bezüglich Diagnostik und Therapie für die nachfolgenden behandelnden Stellen in den Kantonen.
Im neuen Gesundheitskonzept ist die Durchführung von Impfungen bei Erwachsenen in den Bundesasylzentren vorgesehen. Diese Massnahme ist von grosser Relevanz, damit Ausbrüche von vermeidbaren Infektionskrankheiten verhindert werden können (Abb. 2).
Abbildung 2: Zugang zur Gesundheitsversorgung in den Empfangs- und Verfahrenszentren.
Organisation des Zugangs zur medizinischen Gesundheitsversorgung. Aus: Gesundheitsversorgung für Asylsuchende in Asylzentren des Bundes und in den Kollektivunterkünften der Kantone. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundesamtes für Gesundheit BAG.

Reisen nur die Infektionskrankheiten mit?

Die ärztliche Sprechstunde im Zentrum gestaltet sich von den Krankheitsbildern her ähnlich wie eine «normale» hausärztliche Sprechstunde [4]. Alltägliche Krankheiten kommen weitaus häufiger vor als spezifisch tropenmedizinische. Herausfordernd und manchmal auch extrem limitierend sind vor allem soziokulturelle und sprachliche Aspekte.

Nicht-infektiologische Krankheiten

Häufige nicht-infektiologische Erkrankungen sind: Chronische kardiovaskuläre und endokrinologische Krankheiten (Hypertonie und Diabetes mellitus), Erkrankungen des Bewegungsapparates (degenerativ oder posttraumatisch), chronische Schmerzen, psychische Probleme und Symptome in Zusammenhang mit chronischem Substanzabusus, gastrointestinale Symptome und Symptome in Zusammenhang mit Mangelerscheinungen (Eisenmangel). Auch Abklärungen hinsichtlich einer Schwangerschaft erfolgen regel­mässig.
Schwangere Asylsuchende werden rasch möglichst in eine geburtshilfliche Sprechstunde überwiesen. Im Zentrum wird bei Eintritt die Immunität bezüglich MMR (Masern, Mumps, Röteln) und Varizellen sero­logisch überprüft und ein Multivitaminpräparat mit Folsäure und Eisen verschrieben.

Infektionskrankheiten

Infekte der oberen Atemwege

Atemwegsinfektionen sind häufig. Meist sind es banale Erkältungskrankheiten oder virale Bronchitiden, die selbstlimitierend verlaufen und konservativ behandelt werden können. Asylgesuchsteller werden informiert, dass bei prolongiertem Fieber oder fehlender Besserung eine Wiedervorstellung in der Sprechstunde notwendig ist. Dann sind bakterielle Super­infektionen oder spezifische Infektionen (inkl. Tbc) zu suchen und auszuschliessen.

Kutane Infektionen

Viele Asylgesuchsteller leiden unter Skabies, einer durch Krätzmilben verursachten parasitären Infektion. Diese manifestiert sich durch stark juckende, ­erythematöse Papeln, häufig an typischen Hautstellen (Finger und Interdigitalräume/ Leiste/ Axilla u.a.). Bakterielle Superinfektionen oder eine Ekzematisierung sind zu beobachten. Die Skabies wird mit einer Einmaldosis Ivermectin p.o., wiederholt nach 14 Tagen, behandelt. Das Medikament muss jedoch über eine internationale Apotheke bezogen werden. Kleinkinder (<15 kg) und Schwangere werden topisch mit Permethrin 5% therapiert. Wundinfekte, seien es ulzeröse oder phlegmonöse entzündliche Hautveränderungen, meist nach Verletzung/Trauma, führen ebenfalls oft zu Arzt­konsultationen. Auch hier sind mikrobiologisch meist gängige Erreger (Staphylokokken, Streptokokken) zu finden und zu behandeln. Bei schlecht oder nicht heilenden Wunden sollte die Differenzialdiagnose je nach Herkunftsland und Transitroute erweitert und Rücksprache mit einem Spezialisten für Infektionskrankheiten gehalten werden.

Gastrointestinale Infektionen und Hepatitiden

Bauchschmerzen sind oft geäusserte Beschwerden. Helicobacter pylori-assoziierte Gastritiden werden aktiv gesucht und nach den gängigen Therapieschemata behandelt. Bei Diarrhoe werden Stuhluntersuchungen auf Bakterien (1 Probe) sowie Parasiten und Würmer (3 Proben im SAF-Röhrchen) durchgeführt. Je nach Befund wird eine entsprechende Therapie eingeleitet. Bei zusätzlich bestehender Eosinophilie und passender geografischer Herkunft/Transitroute, sollte die Diagnostik durch eine Helminthen-Serologie inklusive Schistosomen und Strongyloides ergänzt werden.
Je nach Herkunftsland (u.a. Subsahara-Afrika, Ost­europa, Asien) und Expositionsrisiko sind chronische ­Hepatitiden häufig. Im Zentrum werden sie nicht aktiv gesucht, da bei unklarem Asylstatus die Einleitung ­einer Therapie nicht sinnvoll ist. Den nachfolgenden Gesundheitsversorgern in den Kantonen wird jedoch empfohlen, die Infektionen gemäss den Empfehlungen zu suchen und je nach Gesamtsituation (Klinik, Bleibemöglichkeit in der Schweiz) zu behandeln [1].

Urogenitale Infekte

Harnwegsinfekte, vaginale Mykosen oder bakterielle Vaginosen (Gardnerella-Infektionen) sind bei Asylgesuchstellerinnen häufig und einfach zu therapieren. Je nach Beschwerden und Expositionsanamnese ­werden sexuell übertragbare Krankheiten bei beiden Geschlechtern serologisch (HIV/Lues), mittels Erststrahlurin (Gonokokken/Chlamydien) oder Abstrich (vaginal/urethral) aktiv gesucht.

Tuberkulose

Wie bereits erwähnt, werden alle Asylgesuchstellerinnen und Asylgesuchsteller in der MEK bezüglich aktiver Tuberkulose gescreent (active case finding). Der Ausschluss einer akuten Tuberkulose anlässlich der Einreise in die Schweiz bedeutet jedoch nicht, dass die Person im Verlauf nicht an Tuberkulose erkranken könnte. Eine Reaktivierung in den ersten Jahren nach Einreise ist häufig, weshalb bei Menschen mit entsprechender Klinik und Herkunft aus einem Risikogebiet (u.a. Subsahara-Afrika, Osteuropa, Asien) die Tuberkulose bei entsprechender Symptomatik immer aktiv gesucht und ausgeschlossen werden muss. Andere europäische Staaten, wie beispielsweise die Niederlande, screenen Asylsuchende aus Hochrisikoländern mittels IGRA (Gamma-Interferon-Test) oder Mantoux auf latente Tuberkulose, und bieten bei positivem Resultat eine prophylaktische Therapie an. Diese Vorgehensweise ist mit der End TB Strategy der WHO kompatibel [5].

Durch Impfung verhütbare ­Infektionskrankheiten

Varizellen-Ausbrüche in den Zentren sind relativ häufig und stellen eine grosse logistische Herausforderung mit Durchführung von postexpositionellen Massenimpfungen dar. Besonders vulnerabel sind Schwangere und immunsupprimierte Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller. Asylsuchende sollen grundsätzlich als ungeimpft betrachtet werden, es sei denn, ein Impfausweis ist vorhanden [6]. Bei den zu verabreichenden Impfungen wird unterschieden in prioritäre Impfungen (MMR, Varizellen und Diphtherie/Tetanus/Pertussis/Polio) und nicht-prioritäre Impfungen (u.a. Hepatitis B) [7]. In den EVZ wir die erste Dosis der prioritären Impfungen appliziert. Nachfolgeimpfungen oder nicht-prioritäre Impfungen sollen nach Transfer in den Gesundheitseinrichtungen des jeweiligen Kantons durchgeführt werden.
Die Autorinnen sind alle in der ärztlichen Sprechstunde im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) Bern tätig
Dr. med. Patricia Iseli
Personalärztlicher Dienst, Inselspital
CH-3010 Bern
patricia.iseli[at]insel.ch
1 Notter J, et al. Infektionen bei erwachsenen Flüchtlingen. Schweiz Med Forum 2016;16(4950):1067–107.
2 Neumayr A, et al. Fieber bei Reiserückkehrern. Schweiz Med ­Forum 2018;18(16):345–54.
3 https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/infektionskrankheiten-bekaempfen/infektionskontrolle/gesundheitsversorgung-asylsuchende.html
4 Alberer, et al. Erkrankungen bei Flüchtlingen und Asylbewerbern. Dtsch med Wochenschr 2016;141(1):e8-e15.
5 http://www.who.int/tb/post2015_strategy
6 Ausbruchsmanagement/ Impfempfehlungen in den Asylzentren des Bundes und den Kollektivunterkünften der Kantone. Im Auftrag des BAG. J. Notter, S. Ehrenzeller, P. Tarr. Veröffentlichung anstehend, in Vernehmlassung.
7 Tarr P, et al. Impfungen bei erwachsenen Flüchtlingen. Schweiz Med Forum 2016;16(4950):1075–9.