Bittersüsse Pfunde
Praktische Tipps für eine erfolgreiche Beratung zur Gewichtsreduktion

Bittersüsse Pfunde

Fortbildung
Ausgabe
2019/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10019
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(02):48-51

Affiliations
Kompetenzzentrum für Ernährungspsychologie, Zürich

Publiziert am 06.02.2019

Übergewichtige Menschen haben häufig schon eine lange Diätkarriere hinter sich. Demnach ist für sie Abnehmen erfahrungsgemäss geprägt von den beiden Extremen «übereifrige Motivation» und «hoffnungslose Resignation». Beide führen oft zu Schwierigkeiten, den Plan der Gewichtsreduktion erfolgreich umzusetzen.

Realistische Ziele

Zu Beginn einer Therapie überwiegt die Hoffnung auf eine dauerhafte Gewichtsreduktion. Bei Rückschlägen sinkt die Motivation rapide. Die Behandlung von ­Übergewicht besteht demnach hauptsächlich darin, die bestehende, manchmal geringe Motivation von ­Patientinnen und Patienten für eine Gewichtsveränderung zu steigern. Gleichzeitig geht es auch darum, Illusionen aufzulösen und sie in ihrer Übereifrigkeit zu bremsen. Das Gespräch gleicht in dieser Phase ­einer Gratwanderung, denn die realistischen Erfolgsziele entsprechen oft nicht den Hoffnungen adipöser Patienten: Die meisten Adipositas-Patienten wollen ihr Gewicht etwa drei- bis viermal schneller verlieren, als empfohlen wird. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die meisten effektiv nur zwischen 5 und 15% des Ausgangsgewichts abnehmen können. Die wenigsten sind mit einem solchen «bescheidenen» Ziel zufrieden. Umso wichtiger ist, dass in der Beratung deutlich wird, dass nur ein geringer und langsamer ­Gewichtsverlust einen langfristigen Erfolg und substanziellen Nutzen für die Gesundheit bringt. Es bedarf somit einer umfassenden Vorabklärung im Erstgespräch, um mit einer klar definierten, realistischen Zielvorgabe die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie zu schaffen.

Ressourcen und Barrieren

Die Lebensumstände der Patientinnen und Patienten spielen eine wichtige Rolle für das Erreichen der ­gesetzten Ziele. Belastungen wie unregelmässige Arbeitszeiten, familiäre oder finanzielle Schwierigkeiten erschweren die Umstellung auf eine gesunde, ausgewogene Ernährung. Ressourcen wie intakte Beziehungen oder kognitive Fähigkeiten erleichtern die Ernährungsumstellung. Das sorgfältige Abwägen von Belastungen und Ressourcen in Bezug auf ein realistisches Ziel erleichtert den Start in eine erfolgreiche ­Gewichtsreduktion. Der erste Schritt ist daher ausschlaggebend, um eine langfristige Änderung des Essverhaltens und einen Gewichtsverlust ohne rigide Diät zu erzielen. Nur ein Behandlungsansatz, der auf den ernährungsphysiologischen und -psychologischen Bedürfnissen des einzelnen Patienten basiert und gleichzeitig den Genuss (anstelle des Verbotes einzelner Lebensmittel) in den Mittelpunkt stellt, kann auf lange Sicht Erfolg haben.

Essverhaltensmuster

Übergewichtige Patientinnen und Patienten zeigen sich in der Praxis mit verschiedenen Essmustern. Um eine geeignete Behandlungsstrategie zu definieren, hilft ein Überblick über die häufigsten Formen von Essverhaltensmuster. Folgend sind die gängigsten vier Esstendenzen kurz erläutert.

Impulsives Essen

Der impulsive Esser kann den Köstlichkeiten im Alltag kaum widerstehen. Er ist vorwiegend auch als genüsslicher oder hedonistischer Esser bekannt. Kommt er mit wohlschmeckenden Speisen in Kontakt, fällt es ihm schwer, «Nein» zu sagen. Buffets oder Speisekarten stellen ihn vor eine grosse Herausforderung.
Wenn ein impulsiver Esser abnehmen will, wird er ­lernen müssen, leckerem Essen zu widerstehen.
Folgende skalierende Fragen helfen, diese Esskontrolle Schritt für Schritt zu erlernen:
– Bei welcher Hungerstärke möchte ich dem Essimpuls nachgeben?
– Bei welchem Lustfaktor möchte ich dem Essimpuls nachgeben?
– Wie viele Ausnahmen pro Woche möchte ich mir gönnen?

Zwanghaftes Essen

Der zwanghafte Esser zeigt die Tendenz zum regel­mässigen Überessen. Dies geschieht nicht selten nach einer Phase von restriktivem Essverhalten. Nur schon kleine Abweichungen von den strengen Diätvorgaben kann einen Kontrollverlust und zwanghaftes Essen aus­lösen (Gefühl vom «Dammbruch», «jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an»). Ein schlechtes Gewissen und Versagensgefühle folgen dem übermässigen Essen und nicht selten eine weitere Phase der Restriktion.
Wenn ein zwanghafter Esser abnehmen will, wird er lernen müssen, regelmässige Mahlzeiten in ausgewogener Menge und Zusammensetzung einzunehmen. Auch Genussmomente helfen, das rigide Denkmuster aufzuweichen. Das heisst keine Diätmahlzeiten, weniger schlechtes Gewissen und dadurch weniger Essanfälle. Am Ende der Woche wird er dadurch weniger ­Kalorien zuführen.
Folgende Fragen helfen dem zwanghaften Esser, seine Essentscheide sinnvoller zu fällen:
– Fühle ich mich nach dieser Mahlzeit satt und zufrieden?
– Welche Nahrungsmittel möchte ich mir im kontrollierten Rahmen regelmässig gönnen?
– Kann ich die gewählte Ernährungsform auch im Langzeitverlauf konsequent einhalten?

Snacking

Der Snacker isst zu den Hauptmahlzeiten oder in ­Gesellschaft auffällig wenig. Viele übergewichtige 
Snacker behaupten darum von sich, eigentlich gar nicht so viel zu essen. Anamnestisch berichten sie, sich von erstaunlich geringen Mengen/wenig Kalorien zu ernähren. Beim genaueren Hinschauen wird schnell ersichtlich, dass unregelmässige Hauptmahlzeiten mit tiefem Befriedigungsgrad (ein Sandwich, ein Salat) mit häufigen Zwischenmahlzeiten (Süssigkeiten, Käse, Salami) ergänzt werden. Am Ende eines Tages kann ein Snacker problemlos 2000–3000 kcal zugeführt haben, ohne sich dabei gesättigt zu fühlen. Wenn ein Snacker abnehmen will, wird er lernen müssen, geregelte und ausgewogene Hauptmahlzeiten einzunehmen. Idealerweise hält er eine vier- bis sechsstündige Mahlzeitenpause ein.
Folgende Fragen helfen dem Snacker, einen guten Mahlzeitenrhythmus zu trainieren:
– Fühle ich mich nach dieser Mahlzeit satt und zufrieden?
– Kann ich nach dieser Mahlzeit problemlos ein paar Stunden ohne Essen auskommen?
– Womit, ausser mit Nahrungsmitteln, kann ich zwischen den Mahlzeiten auftanken?

Emotionales Essen

Der emotionale Esser ist auch als Frustesser bekannt und weit verbreitet. Er neigt dazu verschiedene Emotionen mit Nahrungszufuhr zu beantworten oder durch Essen eine Spannungsregulation zu erwirken. Essen kann ein wirkungsvoller, auf die Dauer jedoch nicht der beste Weg sein, ein Zuwenig an Zeit, sozialen Kontakten oder sinnlichem Erleben zu kompensieren. Wenn ein emotionaler Esser abnehmen will, wird er lernen müssen, alternative Coping-Strategien für sein Gefühlsleben zu entwickeln, ausserdem den Hunger von einer bestimmten Emotion unterscheiden zu lernen. Wer den Teufelskreis des chronischen Überessens unterbrechen will, soll öfters innehalten und sich folgende Fragen stellen:
– Habe ich wirklich Hunger?
– Was fühle ich im Moment? Was bewegt mich gerade?
– Was habe ich jetzt davon, wenn ich etwas esse?
– Wie wird sich meine Stimmung, mein Körpergefühl verändern?
– Was ausser Essen würde mir sonst noch guttun?

Der lange Weg zur Verhaltensänderung

Gewohnheiten zu verändern ist ein langwieriger und anstrengender Prozess. Selbstverständlich lassen sich solche langjährigen, tief verankerten Muster nicht von heute auf morgen durchbrechen. Eine Veränderung beginnt Schritt für Schritt im achtsamen Umgang mit sich selbst und dem eigenen Körper. Daraus entstehen wertvolle Erfahrungen, die ein ausgewogenes und bewusstes Essverhalten wirkungsvoll fördern. Es bedarf der achtsamen Selbstbeobachtung, alternativen Strategieentwicklung und langfristigem Training. Es folgt eine allmähliche Befreiung von einer automatisiert-emotionalen Nahrungsaufnahme hin zu einem bewussten, genussvollen Essen. Hunger und Sättigung in Bezug auf Appetit und Lust gilt es klarer zu differenzieren. Diese Körpersignale sollten als Grundkompetenz des Menschen gefördert werden, was wiederum das Selbstbewusstsein in Bezug auf eine Gewichtsreduktion stärkt.

Nützliche Instrumente

Tools zur Selbstbeobachtung, einerseits vom Ess- aber auch vom Bewegungsverhalten, sind nützliche ver­haltenstherapeutische Hilfsmittel zur Verhaltensänderung. Sie gewährleisten eine Auseinandersetzung mit den eigenen Mustern, den verschiedensten Auslösern oder den aufrechterhaltenden Bedingungen. Positive Veränderungen werden wiederum als Verstärker wirksam.

Wochenpläne («Tagebücher»)

Solche Raster dienen einerseits der Selbstbeobachtung (Dokumentieren des Status quo), andererseits können sie wertvolle Instrumente sein, wenn es darum geht, konkrete Veränderungen zu planen, zeitlich zu fixieren und deren Umsetzung zu dokumentieren.

Skalierende Fragen

Skalierende Fragen, also eine Einteilung der Intensität zum Beispiel auf einer Zehnerskala, eignen sich sehr gut, den Essimpuls besser kontrollieren zu können. Wer regelmässig auf die Hunger- und/oder Sättigungsstärke achtet, kann mit der Zeit die Nahrungsmengen besser regulieren. Ein achtsamer Umgang mit diesen Körpersignalen reduziert ausserdem die Essgeschwindigkeit, was als ein relevanter Erfolgsfaktor bei der ­Gewichtsreduktion gilt.

Energie-verbrauchende Emotion versus Energie­reserve aufbauen

Wenn Essen zur Emotions- oder Spannungsregulation dient, ist es hilfreich, wenn der Patient die Ursache (Emotion) und deren Auswirkungen (Essimpuls) in einen Zusammenhang bringen kann. Im ersten Schritt soll er sich bewusst werden, welcher Gefühlszustand am häufigsten zum Essen führt. Im weiteren Verlauf bekommt die Patientin die Aufgabe, diese Emotion im Alltag frühzeitig in ihrer Intensität zu identifizieren. Schlussendlich geht es darum, in den tiefen Eskalationsstufen mit alternativen Coping-Strategien reagieren zu können. Als grundlegende Massnahme hilft es, gleichzeitig die Energiereserven durch Ressourcen oder Pausen möglichst hoch zu halten (Abb. 1).
Abbbildung 1: Negative Emotionen bauen Spannungen auf, die bei gleichzeitig knappen Energiereserven mit übermässigem Essen kompensiert werden.

Praktischer Einstieg in eine Kurzintervention zur ­Gewichtsreduktion

Gemäss Adipositas-Consensus 2016 besprechen Sie mit der Patientin/dem Patienten vorzugsweise die folgenden grundsätzlichen Fragen beim Erstgespräch:
1. Entspricht die Gewichtsreduzierung dem eigenständigen Wunsch des ­Patienten, oder wurde er von anderen Personen dazu überredet?
2. Welches Ereignis hat in dem Patienten den Wunsch geweckt, sein Gewicht genau jetzt reduzieren zu wollen?
3. Wie hoch ist die Belastung des Patienten, in welcher Stimmung befindet er sich gerade?
4. Leidet der Patient unter einer Essstörung?
5. Kann der Patient die Notwendigkeit einer Behandlung für sich nachvollziehen und glaubt er an ihren Erfolg?
6. Wie viele Kilo möchte der Patient abnehmen? Welche Vorteile verspricht er sich davon?
Ausgehend von den Erkenntnissen aus diesen Fragen folgt dann eine erste Kurzintervention mit Förderung der Motivation und Festsetzen eines klaren, gemein­samen Zieles durch den Arzt, eine geschulte Praxiskoordinatorin oder die Patientin, oder aber die Überweisung des Patienten an eine professionelle Ernährungsberatung zur längerfristigen Begleitung.
Jsabella Zädow, dipl. ­Ernährungsberaterin FH, Msc. In Health Care Management
Kompetenzzentrum für Ernährungspsychologie
Rautistrasse 12
CH-8047 Zürich
jsabella.zaedow[at]hin.ch
– Adipositas Consensus, Schweizerische Gesellschaft für ­Endokrinologie und Diabetologie (SGDE), 2016.
– Ellrott T, Thiel M. Verhaltenstherapeutische Strategien in der Adipositastherapie, 2016.
– Herpertz S, de Zwaan M, Zipfel S. Handbuch Essstörungen und Adipositas, Springer Verlag, 2015.
– Toman Erika, Mehr Ich weniger Waage, Abnehmen ohne Illusionen und mit Seele und Verstand, Zytglogge Verlag, 2017.
– Zädow Jsabella, Master-Thesis: WZW-Kriterien in der ambulanten Ernährungsberatung bei adipösen Patienten, 2012.