Keine Angst vor suizidalen Patienten!
Ein Thema, das angesprochen werden sollte

Keine Angst vor suizidalen Patienten!

Fortbildung
Ausgabe
2019/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10024
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(03):83-86

Affiliations
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Spiez

Publiziert am 06.03.2019

Das Erfassen und Einschätzen eines Suizidrisikos ist eine Herausforderung für den Arzt, da Patienten sehr oft spontan keine entsprechenden Hinweise geben. Dieser Artikel beschreibt aus der praktischen Erfahrung des Autors, wie mit dem narrativen Zugang ein konstruktiver Dialog zwischen Arzt und suizidalem Patienten entstehen kann.

Patienten sprechen kaum je spontan über Suizidpläne

Die meisten Ärzte haben Angst vor suizidalen Patienten. Es gibt viele Gründe. Lassen Sie mich mit einem Fallbeispiel beginnen. In einer Hausarztrunde auf dem Land, zu der ich zum Thema Suizidalität eingeladen worden war, berichtet ein Arzt Folgendes:

Fallvignette

Der Hausarzt empfängt einen 56-jährigen Mann, den er vor zwei Jahren zum letzten Mal sah. Der Patient berichtet, er habe sich beim Waldlauf den linken Fuss verstaucht und wolle dies zur ­Sicherheit zeigen. Der Arzt findet eine leichte Schwellung, etwas Druckempfindlichkeit und eine gute Beweglichkeit des Fussgelenks. Er entlässt den Patienten mit einer elastischen Binde und einer Salbe. Zwei Stunden später ruft die Frau des Patienten an und erkundigt sich, ob ihr Mann noch in der Praxis sei. Eine Stunde später ruft sie wiederum an – man habe ihren Mann im Wald gefunden, er habe sich erschossen.
Fast die Hälfte der Menschen, die Suizid begehen, haben vor ihrem Tod keine professionelle Hilfe gesucht. Andere waren vorgängig in Behandlung, in erster Linie bei der Hausärztin oder beim Psychiater, einige hatten einen Termin am Tag, an dem sie sich das Leben nahmen, nicht selten Stunden vorher. Viele dieser Menschen sagen spontan nichts von Suizidplänen, andere sagen auch auf direkte Befragung nichts. Was sind die Gründe? In einer Befragung, die wir in Bern durchführten [1], sagten rund die Hälfte der Leute ein Jahr nach einem Suizidversuch, dass sie rückblickend keine Hilfe angenommen hätten, und nur 10% sagten, ein Arzt hätte helfen können. Oft entwickeln Suizidale ein tunnelartiges Denken, in dem andere Lösungsmöglichkeiten als Suizid zunehmend nicht mehr vorkommen. Sie realisieren zwar, dass sie ein existenzielles Problem haben, denken aber meist nicht, dass dies ein Grund für eine medizinische oder psychiatrische Behandlung wäre. Dazu kommt, dass suizidale Menschen Angst haben, nicht verstanden, oder umgehend und gegen ihren Willen in eine geschlossene Abteilung ­einer psychiatrischen Klinik eingeliefert zu werden.
Der eingangs erwähnte Hausarzt meinte, ob er nun jeden Patienten, der mit einem verstauchten Fuss in die Praxis kommt, fragen müsse, ob er plane sich umzubringen.
Als Erstes ist dazu zu sagen, dass tatsächlich Suizidalität in der Arztpraxis allgemein zu wenig zur Sprache kommt. Ein Grund ist wohl die Angst vor der Pandorabox. Es ist nicht nur die Frage, was in einem solchen Fall zu tun ist, sondern auch eine Frage der zeitlichen Möglichkeiten in einer vollen Praxis. Zweitens ist es so, dass suizidale Menschen, wenn sie überhaupt den Arzt aufsuchen, sehr oft somatische Gründe angeben, wie unser Patient mit dem verstauchten Fuss. Patienten machen es also der Ärztin schwer, an das Thema Suizid heranzukommen. Es liegt also keineswegs nur am Arzt, wenn ein akutes Suizidrisiko verpasst wird. Trotzdem stellt sich die Frage, wie denn das heikle Thema allenfalls doch angesprochen werden kann. Allen Teilnehmenden der Hausarztrunde war klar, dass der Patient beim Arztbesuch den Suizid schon geplant hatte – und dass mit der Arztkonsultation jedoch im ­allerletzten Moment eine Ambivalenz zum Ausdruck kam.
Jemand aus der Hausarztrunde sagte, vielleicht hätte man fragen können, «Und wie geht es privat?» oder «Wie und wann ist denn das passiert?». Vielleicht wäre zum Vorschein gekommen, dass der Patient nachts, wenn er nicht schlafen konnte, in den Wald ging – und auf weiteres Befragen, dass er im Wald einen Ort suchte, wo man ihn nicht so rasch finden würde. Oft zeigt sich rückblickend nach einem Suizid, dass dem Arzt aufgefallen war, dass das Anliegen des Patienten etwas eigenartig war. In solchen Fällen ist es also wichtig zu zeigen, dass auch Raum da ist, über psychische und psychosoziale Probleme zu sprechen. Eine Frage könnte sein: «Drückt der Schuh vielleicht noch anderswo?»
Wesentlich ist auch, dass Ärzte bei der Aufnahme der Anamnese unbedingt nach suizidalen Krisen fragen sollten, genau so, wie nach durchgemachten Krankheiten und Operationen («Status nach Suizidversuch mit Überdosis 5/2005»). Suizidversuche in der Anamnese sind der Risikofaktor Nr. 1 für Suizid. Somit müsste dies wie eine Penicillinallergie zuoberst auf der Kranken­geschichte stehen. Das Suizidrisiko ist bei Status nach ­Suizidversuch 40–60-fach erhöht und wird auch nach 20 Jahren nicht geringer! Der zweite Risikofaktor, der eine Rolle spielt, sind affektive Störungen, das heisst unipolare und bipolare Depressionen. Auch hier gehört die Frage nach Suizidgedanken dazu.

Suizidalität

Im Jahre 2015 starben in der Schweiz 1071 Menschen durch ­Suizid (ohne Sterbehilfe), drei Viertel davon waren Männer.
Fast die Hälfte der Suizide haben einen oder mehrere Suizidversuche in der Vorgeschichte. Die Zahl der jährlich behandelten Suizidversuche wird auf über 10 000 geschätzt. Etwa 16% machen innerhalb des ersten Jahres wiederum einen Suizidversuch, 25% in zwei Jahren.
Langfristige Risikofaktoren für Suizid sind frühere Suizidversuche, psychiatrische Störungen (affektive Störungen, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen), familiäre Belastung mit Suizid. In der aktuellen Situation sind Hoffnungslosigkeit und Gefühle der Ausweglosigkeit Hinweise auf ein Risiko.
In der Altersgruppe 20 bis 29 Jahre ist Suizid bei Männern verantwortlich für einen Drittel aller Todesfälle.
Gesamthaft ist die Suizidrate in der Schweiz wie in den meisten europäischen Ländern seit den 90er Jahren gesunken, allerdings seit 2010 etwa konstant geblieben (Altersstandardisierte Rate 2015: 11/100 000). Interessant ist, dass die Suizidrate zum Beispiel in den USA in den letzten 15 Jahren um 25% zugenommen hat und weiterhin jährlich steigt.

Das Turm-zu-Babel-Syndrom und der narrative Zugang

Das traditionelle medizinische Modell geht davon aus, dass Suizidalität Ausdruck einer psychischen Störung ist und klinische Suizidprävention vor allem darin besteht, das psychiatrische Krankheitsbild (in erster ­Linie affektive Störungen) zu erfassen und adäquat zu behandeln. Wir haben im Studium gelernt, dass Suizidalität eine Form von Pathologie ist. Das Problem ist ­jedoch, dass suizidale Patienten Suizidgedanken als Ich-synton, um nicht zu sagen als etwas für sie Normales erleben. Dadurch wird die Kommunikation zwischen Arzt und Patientin massiv erschwert. Die beiden sprechen verschiedene Sprachen – wie beim Bau des Turms zu Babel.
Wir [2] haben in Bern ein Modell für das Gespräch mit dem suizidalen Patienten entwickelt, in dem wir Suizid nicht als psychiatrische Pathologie verstehen, sondern als Handlung. Grundlage ist die sogenannte Handlungstheorie, die davon ausgeht, dass Handlungen (also auch Suizidhandlungen) zielorientiert sind und einer inneren Logik folgen. Die Handlungstheorie sagt aber auch aus, dass wir Handlungen und die Vorgeschichte dazu in Form von Geschichten erzählen, die im psychologischen Kontext als Narrative bezeichnet werden. Der narrative Zugang ist die beste Grundlage für ein gemeinsames Verständnis und damit für eine therapeutische Beziehung. Patientinnen und Patienten schätzen es, wenn ihr Gegenüber sie wertfrei zu verstehen versucht und ihnen nicht eine medizinische Beurteilung überstülpen will. Dabei gilt, dass Depressionen und andere psychiatrische Diagnosen nach wie vor ihre Bedeutung als Risikofaktoren haben können, aber nicht die Erklärung für die Suizidalität sind. Der narrative, pa­tientenorientierte Zugang bedeutet aber auch, dass der Arzt in der Lage sein muss, seine Expertenrolle abzulegen, da nur der Patient der Experte seiner Geschichte sein kann. Der Arzt ist in der Rolle des nicht-Wissenden, der sein Gegenüber zu verstehen versucht.
Eingangsfragen können sein: «Ich könnte mir vorstellen, dass Sie in einer solchen Situation auch schon daran gedacht haben, mit dem Leben Schluss zu machen ... Erzählen Sie mir doch bitte, wie es soweit gekommen ist.»
Die in Bern entwickelte Kurztherapie (Attemp­ted Suicide Short Intervention Program, ASSIP) für Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, ist auf dem narrativen Interview aufgebaut und auf der therapeutischen Arbeit auf ein gemeinsames Ziel, nämlich die Hintergründe zu verstehen versuchen und Strategien für den Umgang mit zukünftigen suizidalen Krisen («safety planning») zu entwickeln [3, 4].
Unsere Erfahrungen aus Hunderten von Interviews zeigen, dass die Leute im Allgemeinen eine erstaun­liche narrative Kompetenz aufweisen und zwischen 15 und 30 Minuten brauchen, um eine kohärente Geschichte zu erzählen. Die Rolle der Ärztin ist die des aufmerksamen Zuhörens.

Eine patientenorientierte therapeutische Beziehung wirkt antisuizidal

Hausärzte sollen nicht Therapeuten für suizidale ­Menschen werden. Wesentlich ist aber, Offenheit für das Thema Suizid und Interesse am Menschen zu ­zeigen. Eine therapeutische Beziehung ist antisuizidal und hilft, das Suizidrisiko im gemeinsamen Gespräch abzuschätzen. Damit lässt sich meist gemeinsam das weitere Vorgehen klären, sei es die Zuweisung in eine psychiatrische Sprechstunde, zur stationären psychiatrischen Behandlung, oder vorerst ein Antidepressivum zu verschreiben. Wenn die Zeit mitten in der ­vollen Sprechstunde fehlt, ist es hilfreich – und anti­suizidal –, den Patienten später oder am nächsten Tag wieder einzubestellen. Eine voreilige Einweisung in eine psychiatrische Klinik ist nicht in jedem Fall die richtige Massnahme. Für die klinische Suizidprävention gilt: Die therapeutische Beziehung, das heisst das Interesse am Menschen und seiner Geschichte, ist die beste Suizidprophylaxe. Angst vor suizidalen Patienten ist ein schlechter Begleiter für einen solchen Zugang.

Die wichtigsten antisuizidalen ­Massnahmen in der Hausarztpraxis

– Patienten auf emotionale Krisen und Suizidgedanken ansprechen.
– Nach früheren suizidalen Krisen fragen.
– Der Arzt als interessierter Zuhörer: Therapeutische Beziehung herstellen.
– Patienten kurzfristig wieder einbestellen. Interesse signalisieren.
– Angebot zur Kontaktaufnahme bei Zunahme des Suizidrisikos.
– Bei depressiver Symptomatik: Antidepressiva einsetzen (Achtung: Patient muss wissen, dass anfänglich eine Zunahme der Suizidgedanken möglich ist, und dass die antidepressive Wirkung verzögert einsetzt).
– Einbezug der Angehörigen.
– Mittel zum Suizid wegschaffen (Medikamente, Waffen, Strick).
– Beizug Psychiater (mit Einverständnis des Patienten), Kontrolltermin beim Hausarzt beibehalten!
– Klinikeinweisung (auch fürsorgerische Unterbringung), wenn möglich mit Einverständnis des Patienten (Argument: Suizidgedanken sind vorübergehend).
Prof. em. Dr. med.
Konrad Michel
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Spiezbergstrasse 27
CH-3700 Spiez
konrad.michel[at]upd.unibe.ch