Immersion communautaire, ein beispielhafter Lehrgang
Persönliche Bilanz eines Hausarztes und Lehrenden

Immersion communautaire, ein beispielhafter Lehrgang

Lehre
Ausgabe
2019/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10035
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(03):73-76

Affiliations
Mitglied der PHC-Redaktion, Facharzt Allgemeine Innere Medizin, Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Dozent IUMF PMU UNIL, Vizepräsident UEMO

Publiziert am 06.03.2019

Seit zehn Jahren stellen wir unseren Leserinnen und Lesern jedes Jahr vier der besten Arbeiten von Bachelor-Studierenden vor, die das Immersionsmodul Gemeinschaftsgesundheit (immersion communautaire IMCO) an der Biologischen und Medizinischen Fakultät der Universität Lausanne absolviert haben. Im Jahr 2019 werden wir fünf neue Arbeiten präsentieren.

Modul immersion communautaire

Ziel des Moduls immersion communautaire ist, dass die Studierenden [1]:
– eine gesundheitsrelevante Problematik vom Standpunkt der Gemeinschaftsmedizin und -gesundheit aus erfassen;
– die Rolle der Ärztinnen und Ärzte aus der Perspektive der Gemeinschaft heraus analysieren;
– im Rahmen einer Feldforschung wissenschaftliche Forschungsmethoden auf ein Gesundheitsproblem anwenden;
– mit den Akteuren der von dem Problem betroffenen Community kommunizieren;
– den Nutzen der Ausbildung durch Peers im Rahmen einer Kollektivarbeit kennenlernen.
Diese allgemeinen Ziele können in spezifische Ziele umgesetzt werden, die in Verbindung mit der Untersuchungsmethode oder dem gewählten Gesundheitsproblem stehen (Tab. 1).
Tabelle 1: Spezifische Lernziele [1].
In Verbindung mit der Untersuchungs­methodeIn Verbindung mit dem gewählten Gesundheitsproblem
In der Gruppe arbeitenDie Priorität der Frage feststellen
Einen Fachliteraturüberblick erstellenPräsentation der Bedeutung in Bezug auf die Gesundheits­determinanten
Eine wissenschaftliche Fragestellung festlegenDen Rahmen beschreiben
Einen Forschungsplan ausarbeitenDie derzeitige Behandlung vorstellen
Informationen bezüglich (ethischen) ­Möglichkeiten und Grenzen sammelnEmpfehlungen formulieren
Fragenspezifische Analyse und Diskussion 
Präsentation der Resultate
Ein Jahr nach Schaffung des Moduls durch Prof. Alain Pécoud und Prof. Jean-Bernard Daeppen habe ich gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen (darunter Mitglieder des Instituts für Hausarztmedizin Lausanne) als Tutor einer Gruppe von Studierenden begonnen. Seither habe ich sechs Arbeiten von Studierenden der Medizin in der Schweiz betreut und sieben in Indien im Rahmen einer Feldforschung im interprofessionellen Kontext (Bachelor-Studierende der Medizin, der Pflegewissenschaft und der Anthropologie). Zudem wurde ich Mitglied des Lenkungsausschusses des Moduls.

Was veranlasst einen Hausarzt dazu, sich für Community-Medizin zu interessieren, und sich für deren Lehre einzusetzen?

Als Mitglied des universitären Instituts für Hausarztmedizin Lausanne ist es meine Aufgabe, Hausarzt­medizin zu lehren. Was hat die Gemeinschaftsmedizin damit zu tun? Das ist eine Frage der Identität – in einer Zeit, in welcher der Meinung mancher zufolge die Allgemein- und Hausarztmedizin das individuelle Arzt-Pa­tienten-Verhältnis gegenüber der Primärversorgung mit ihrer interprofessionellen und gemeinschaftsorientierten Sichtweise sowie gegenüber «Gesellschaftsmedizin» verteidigen sollte. Keine Primärversorgung ohne Hausärztinnen und Hausärzte, versichert man mit Nachdruck bei der European Union of General Practioners (UEMO) [2]. Doch kann man Hausärztin oder Hausarzt sein, ohne eine gemeinschaftsorientierte Sichtweise zu haben?
In der englischen Definition der Hausarztmedizin von WONCA Europe heisst es [3]: «Family medicine has a specific responsibility for the health of the community», dass sie also laut der deutschen Fassung der Definition «eine spezifische Verantwortung für die Gesundheit der Allgemeinheit» trägt. Und weiter wird erklärt: «Die Disziplin anerkennt ihre Verantwortung in Gesundheitsfragen sowohl gegenüber dem einzelnen Patienten als auch gegenüber der Gemeinschaft. Dies kann unter Umständen zu Spannungen und Interessenskonflikten führen, die entsprechend bewältigt werden müssen.»
Daraus kann geschlossen werden, dass die Gemeinschaftsmedizin von den Hausärztinnen und Hausärzten mit grosser Umsicht gehandhabt werden muss, da sie sonst einen Konflikt ihrer Agenden riskieren, die vor allem patientenzentriert sein müssen.
Eine weitere Begriffsvermischung, und zwar die bisweilen durch die Übersetzung des englischen Begriffs «Community» entstehende Verwirrung, ist vielleicht der ausserhalb des englischen Sprachraums oftmals geäusserten Sorge vor der Gefahr des Kommunitarismus geschuldet, der die Identität [4] einzelner Gesellschaftsgruppen zu sehr in den Vordergrund stelle und so der Gettobildung Vorschub leiste. Hat die «Gesellschaft» Vorrang vor der «Gemeinschaft» [5]? Steht die Gesundheit der Allgemeinheit über dem Interesse an dem Umfeld, in dem unsere Patienten leben?
In der Hausarztmedizin können meiner Ansicht nach nicht einfach gesundheitspolitische Massnahmen umgesetzt werden, ohne dabei die lokalen Gegebenheiten zu berücksichtigen; sonst besteht die Gefahr einer – wie es Balint ausdrücken würde [6] – «apostolischen» Praxis und gar einer vorgeformten, die Patientenbeziehung und das Patientenwohl ausser Acht lassenden Sichtweise. Gleichwohl leben unsere Patientinnen und Patienten in einem Umfeld, das es zu verstehen gilt. Wie erwerben die Angehörigen einer Gemeinschaft «ihre individuelle und gesellschaftliche Identität durch gemeinsame Überzeugungen, Vorstellungen, Werte und Normen»? Wie werden sie sich «ihrer Gruppenidentität, ihrer gemeinsamen Sorgen und Bedürfnisse» bewusst? (Definition der WHO des Begriffs «Community» [7]). Insbesondere müssen wir verstehen, wie der Kontext zu gesundheitlicher Diskriminierung und Ungleichheit führen kann. Das IMCO-Modul wurde ausgearbeitet, um diese, den Anliegen des Instituts für Hausarztmedizin Lausanne ganz und gar entsprechenden, Fragen zu erwägen [8].
Es sei daran erinnert, dass im Rahmen des IMCO-Moduls ein Tutor vier bis fünf Studierende bei der Arbeit an einer wissenschaftlichen Fragestellung aus dem Gesundheitsbereich, die sie bewegt, und bei der Durchführung einer Feldstudie ausserhalb des Spitals betreut. Sie befragen unter Anwendung einer qualitativen Methode (die bisweilen auch einen quantitativen Ansatz einschliesst) gesellschaftliche Akteure und konzentrieren sich vor allem auf die sozialen Gesundheitsdeterminanten.
Um die Frage nach dem Mehrwert des Engagements ­eines Hausarztes für das Immersionsmodul Gemeinschaftsgesundheit – für ihn selbst als Tutor und für die Studierenden – zu beantworten, bin ich von den 13 von mir betreuten Arbeiten (Tab. 2) und den vor Ort und während der Nachbesprechung mit den Studierenden entstandenen Aufzeichnungen ausgegangen. Ich habe zwölf Themen ausgemacht, die in pädagogische Ziele umgesetzt werden können, die sich auf das Know-how («Savoir-faire») und auf das Verhaltensmuster («Savoir-être») beziehen.
Tabelle 2: 13 Arbeiten von Studierenden.
Legitimität einer Intervention der Krankenkassen bei der ­Depressionsbehandlung
Zwangsstörung – eine «neue Krankheit»?
Masern an der Universität Lausanne und der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne: Sind Epidemien unvermeidbar?
Wie wird man «walk-in patient» in Lausanne?
Auswirkungen der Einheitskasse auf die Behandlung ­chronischer Krankheiten: Das Beispiel Diabetes
Ästhetische Chirurgie: Beweggründe und Notwendigkeit
Ein Kleinkind mit Anämie in Mangaluru (Indien)
Wie setzen die Santal in Bolpur ihre Ressourcen ein, um Typ-II-Diabetes zu behandeln?
Santal-Frauen und Geburtenkontrolle: Kenntnisse, ­Auffassungen und Einstellungen
Verfügbare Ressourcen bei den Santal: Die Pflege von ­Kindern zwischen 0 und 5 Jahren
Multidisziplinärer Ansatz zur Pflege älterer Menschen bei den Santal
Depression bei den Santal
«Kunki» und «Konka»: Der Wahnsinn bei den Santal

Know-how

Die Auswirkungen des Kontexts auf die Gesundheitsversorgung verstehen

Zum Beispiel stellte die Gruppe, die sich für eine Arbeit über ästhetische Chirurgie entschied, einen Boom privater Kliniken in der Genferseeregion fest. Führt dieser Angebotskontext dazu, dass nicht sinnvolle Interventionen durchgeführt werden? Warum kann die Nachfrage nach der einen oder anderen Operation von Land zu Land variieren? Welche Rolle spielt die Kostenübernahme oder das gesellschaftliche Bild des idealen Körpers?

Aufkommende Phänomene wahrnehmen

Die Wahl des Forschungsthemas kann auf der Fähigkeit zur Wahrnehmung aufkommender Phänomene beruhen, so wie bei der Arbeit über die Patientinnen und Patienten, die in die Notaufnahme eines Spitals kommen («walk-in patients»). Während der Forschung in Indien zum Thema Diabetes erforderte die Ent­deckung von für Kinder zugänglichen Süssigkeiten­geschäften in bestimmten Dörfern, dass man die Vorgänge beobachtet und untersucht.

Vulnerable Gruppen erkennen

Eine chronische Krankheit (sei es Depression oder ­Diabetes) bedeutet Vulnerabilität. Verstärken die Krankenkassen diese Vulerablität durch ihre «Jagd nach ­guten Risiken»? In Indien erhalten ältere Menschen weder eine Altersrente noch Unterstützung durch staatliche Gesundheitsprogramme, weshalb sie eine sehr vulnerable Gruppe sind.

Methodologische Disziplin erlernen

In dieser Hinsicht haben wir viel von den Pflegefachpersonen und den Anthropologinnen und Anthropologen gelernt [9–10], nicht nur hinsichtlich der methodologischen Bezugnahmen, sondern auch durch die Zusammenarbeit bei der Feldforschung.

Konfliktträchtige Elemente erkennen

Häufig handelt es sich um Wertekonflikte. Ein Gesprächspartner tritt zum Schutz der Bevölkerung für die Impfpflicht ein, während ein anderer im Namen der Autonomie des Individuums die Wahlfreiheit verteidigt. Bei den Studierenden treten innere Konflikte auf: Darf man in einem Santal-Dorf [11], in dem alle Türen offen stehen, das Innere eines Hauses betreten?

Lösungen suchen und Verbesserungen empfehlen

Nach einer Bilanzierung der bestehenden Lösungen schliessen die Studierenden ihre Arbeit mit Empfehlungen ab.

Verhaltensmuster

Eine reflexive Position einnehmen

Dabei geht es um eine epistemologische Reflexivität, bei der die Studierenden die Realität ihrer Studien­objekte und die Relevanz ihrer wissenschaftlichen Ansätze hinterfragen sollen: Wer ist ein älterer Angehöriger einer im ländlichen Indien lebenden Volksgruppe? Ist eine Untersuchung mittels Strassenbefragung aussagekräftig? Wie baut sich medizinisches Wissen auf? Wie definiert man eine Krankheit? Aber auch die emotionale Reflexivität ist ein Faktor: Warum habe ich mich bei dem Gespräch mit einem Politiker, der Vorstellungen äusserte, die sich nicht mit meinen decken, unwohl gefühlt? Wie soll ich das Gespräch fortführen, ohne meine Rolle aufzugeben? Wie kann ich mit meinem Unbehagen umgehen, wenn ich mir in den indischen Dörfern, in die ich reise, wie ein Eindringling vorkomme?

Sich in andere hineinversetzen

Die Technik des Interviews erfordert diese Position, um die Argumente des Gesprächspartners erforschen zu können. Wenn man allerdings den geäusserten Standpunkt nicht teilt, fällt dies besonders schwer. Ich denke etwa an einen Versicherer, der für konkurrierende Kassen eintritt, während die befragende Studentin eine Anhängerin der Einheitskasse ist.

Vielfältige Standpunkte berücksichtigen

Wenn man die unterschiedlichen Sichtweisen der zu einem Thema Befragten wiedergeben soll, kann man einfach eine Liste der Standpunkte präsentieren. Schwieriger wird es, wenn innerhalb einer multidisziplinären Forschungsgruppe verschiedene Sichtweisen bestehen. Interessanterweise waren diese Schwierigkeiten in einer nicht interprofessionellen Gruppe, die nur aus Studierenden der Medizin bestand, weniger einfach handhabbar.

Unklarheit akzeptieren

Ein spontaner Ausruf der Studierenden der Medizin: Ich kann Unschärfe nicht mehr ertragen! Bei der Zusammenarbeit vor Ort mit Anthropologinnen und Anthropologen konstruiert man Schritt für Schritt seine Problemstellung, und in vielen Momenten wird Unklarheit spürbar.

Das Prinzip der Gegenseitigkeit erlernen

Man kann kein Interview führen, keine Informationen sammeln, ohne zu sagen, wer man ist und was man tut. In den Santal-Dörfern [11] geschieht dies durch das Zusammentreffen mit dem Vorsteher des Dorfes, ein Glas Reisbier, Gesänge, die Herstellung einer Beziehung. Das ähnelt den Grundzügen der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, die ebenfalls mit dem Aufbau der Beziehung beginnt, bevor Informationen ausgetauscht werden.

Zusammenarbeiten

Zum Schluss müssen die Studierenden ein Poster, ein Abstract und eine Powerpoint-Präsentation erstellen, die sie im Anschluss an die Feldforschung im Juni am im Juli stattfindenden IMCO-Kongress präsentieren können. In der Gruppe werden die Aufgaben verteilt und die Stundierenden lernen, ihre Beobachtungen, Gespräche und Standpunkte zu synthetisieren. Die Interprofessionalität bereichert natürlich diese Zusammenarbeit.

Schlussfolgerung

Als Fazit ist zu sagen, dass ich bei meinem Einsatz für diese Arbeiten nicht das Gefühl habe, auf andere Werkzeuge als bei meiner täglichen Arbeit als Hausarzt zurückgreifen zu müssen. Im Gegenteil: Mithilfe des reflexiven Ansatzes und der qualitativen Methodologie, die durch numerische Daten ergänzt wird, lernte ich gemeinsam mit den Studierenden, besser zu beobachten, besser zuzuhören, besser offene, zur Meinungs­äusserung veranlassende Fragen zu stellen, Unklarheit besser zu akzeptieren und vor allem Fragestellungen, Ideen und Lösungen zu konstruieren, die möglichst dem Gemeinschaftskontext angepasst sind, so wie wir es auch mit unseren Patientinnen und Patienten tun müssen.
Für das Korrekturlesen dieses Artikels bedanke ich mich bei Bernard Burnand, Sophie Paroz, Ilario Rossi, Nicolas Senn und Jean-Bernard Daeppen.
Dr méd. Daniel Widmer
Médecine interne générale
Médecine psychosomatique
et psychosociale ASMPP
Chargé de cours IUMF PMU UNIL
Vice president UEMO
2, av. Juste-Olivier
CH-1006 Lausanne
drwidmer[at]belgo-suisse.com
 2 Die UEMO, deren Vizepräsident der Autor ist, hat zur Erklärung von Astana über die primäre Gesundheitsversorgung Stellung bezogen. Siehe: http://www.uemo.eu/2018/12/17/uemo-welcomes-astana-declaration/.
 3 Wonca. The european definition of general practice/familiy medicine. 2011.
 4 Finkielkraut A. L’identité malheureuse. Paris: Gallimard; 2015;217p.
 5 Tönnies F, Bond N, Mesure S. Communauté et société: catégories fondamentales de la sociologie pure. Paris: Presses universitaire de France; 2010;276 p.
 6 Balint M. The doctor, his patient, and the illness. Lancet. 1955;268(6866):683–8. Darin beschreibt Balint die apostolische Funktion so: «Es schien beinahe, als ob jede Ärztin bzw. jeder Arzt über das offenbarte Wissen verfüge, was richtig und was falsch ist, wenn es sich darum handelt, was ihr bzw. sein Patient erwartet und verträgt. Und darüber hinaus: Als ob die heilige Pflicht bestehe, die Unwissenden und Ungläubigen unter ihren bzw. seinen Patienten zu bekehren.»
 7 WHO. Health promotion glossary. 1998.
 8 Senn N, Dafflon M, Ronga A, Cornuz J, Widmer D. Développement d’une vision populationnelle en médecine de famille: intérêts, ressources et défis. Rev Med Suisse. 14:759–61.
 9 Loiselle CG. Méthodes de recherche en sciences infirmières: approches quantitatives et qualitatives. Saint-Laurent: ERPI; 2007.
10 Olivier de Sardan J-P. La rigueur du qualitatif: les contraintes empiriques de l’interprétation socio-anthropologique. Louvain-La-Neuve: Academia-Bruylant. 2008;365 p. (Anthropologie prospective).
11 Die Santal sind eine indische Volksgruppe («Scheduled Tribe»), siehe: Carrin M. La fleur et l’os: symbolisme et rituel chez les Santal. Paris: Editions de l’Ecole des hautes études en sciences sociales; 1986. 193 p. (Cahiers de l’homme: ethnologie, géographie, linguistique).