Polypharmazie bei Älteren
State of the Art

Polypharmazie bei Älteren

Fortbildung
Ausgabe
2019/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10047
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(04):113-115

Affiliations
Chefredaktor; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin Zürich

Publiziert am 03.04.2019

Ältere Patientinnen und Patienten stellen inzwischen einen grossen Teil unserer Praxisklientel, womit sich auch das Krankheitsspektrum und der Betreuungs­bedarf verändert: Ein Grossteil dieser Patientinnen und Patienten ist mehrfach- und komplexerkrankt (multimorbide). Eine Leitlinien-gerechte Behandlung dieser gleichzeitig bestehenden Krankheiten führt beim einzelnen Patienten unweigerlich zu einer Vielzahl an Medikamenten, und damit auch zu Problemen.

Definition und etwas Statistik

Polypharmazie wird meist definiert als die dauerhafte Einnahme von fünf oder mehr Wirkstoffen beim gleichen Patienten [1]. In letzter Zeit wird immer lauter gefordert, dass die Definition sich nicht nur auf eine Zahl beschränkt, sondern dass auch die Angemessenheit (appropriateness) der Medikation berücksichtigt wird, bezogen auf die Situation des Patienten. Der durchschnittliche Rentner hierzulande nimmt 5,6 Medikamente ein [2], während diese Zahl bei Alters- und Pflege­heimbewohnern auf 9,3 steigt [3]. Interaktionen zwischen den Wirkstoffen, veränderte pharmakologische Bedingungen im Alter bei Absorption und Elimination sowie direkte pharmakologische Wirkungen führen zu einer Zunahme von unerwünschten Wirkungen durch die Polypharmazie. Für jedes zusätzliche Medikament steigt das Risiko für Hospitalisation, Pflegeheimeinweisung und Tod um 8,6% [4].

Lösungsansätze

Die Polypharmazie ist aber nicht schicksalshaft. Doch wie sollen wir konkret dagegen intervenieren? Die bisherige Forschung dazu [5] hat ergeben, dass mehrere Schritte zielführend sind.

Schritt 1: Medikamentenabgleich (medication reconciliation)

Bitten Sie die Patientin, alle ihre Medikamentenpackungen in die Praxis mitzubringen. Daraus erstellen Sie oder Ihre MPA, am besten mit der Patientin zusammen, eine aktuelle Medikationsliste («brown bag review»), die den Status quo erfasst und enthüllt, welche Verschreiber (z.B. Spezialisten, Spitäler) sonst noch ­aktiv sind, welche Medikamente die Patientin ohne Kenntnis der Ärztin einnimmt und wie es um die ­Medikamententreue (Adhärenz) steht.

Schritt 2: Systematische Evaluation der Angemessenheit der Medikamente

Hier haben sich vier Kriterien als nützlich herausgestellt, mit denen jedes einzelne Medikament auf seine Sinnhaftigkeit überprüft werden kann (Tab. 1). Bei der Beurteilung der Angemessenheit spielen Alter, Nierenfunktion, Gebrechlichkeit und Rest-Lebenserwartung eine wichtige Rolle: Erlebt der Patient wirklich noch den Nutzen einer Medikation, wie zum Beispiel eines Statins? Erhöht seine generelle Gebrechlichkeit mit Gangstörung das Risiko eines Sturzes durch ortho­statische Kreislauf-Dysregulation infolge einer kardio­vaskulären Medikation? Hier können zudem Listen wie die Beer’s-Kriterien, die START/STOPP-Kriterien oder die PRISCUS- und die FORTA-Listen (deutsch­sprachiger Raum) hilfreich sein. Entscheidend für ein erfolgreiches Optimieren der Medikationsliste ist aber letztlich der nächste Schritt.
Tabelle 1: Kriterien beim Medikamenten-Review (adaptiert nach [16]).
Schlüsselfrage zu jedem einzelnen MedikamentAntwort Nachfolgende Aktivität
Ist es (noch) indiziert?NeinStop
Ist der (potenzielle oder bereits erlebte) Schaden grösser als der Nutzen?JaStop
Ist es korrekt dosiert?NeinDosisreduktion
Gibt es eine bessere (wirksamere, verträglichere) Alternative?JaWechsel auf die Alternative

Schritt 3: Abgleich mit Bedürfnissen, Präferenzen und Behandlungszielen

Erst wenn klar wird, wo die subjektiven Prioritäten der Patientin für die Behandlung liegen, lässt sich ein sinnvolles und angemessenes Absetzen von Medikamenten durchführen, das von der Patientin mitgetragen wird. Es kann somit auch sinnvoll sein, diesen Schritt 3 (Abgleich mit den Bedürfnissen) schon vor dem Schritt 2 (systematische Evaluation der Angemessenheit) auszuführen: Erst wenn wir die Bedürfnisse und Ziele des Patienten kennen, können wir über die Angemessenheit eines Medikamentes nachdenken, dessen Einsatz ja dazu dienen soll, diesen Zielen näherzukommen.
Die Präferenzen und Wünsche des Patienten spielen natürlich auch die Hauptrolle, wenn es nun darum geht, die Vorschläge des «deprescribing» zu diskutieren und gemeinsam zu der Entscheidung, ob sie umgesetzt werden sollen oder nicht, zu finden. Nun argumentieren Sie vielleicht, dass wir Hausärztinnen und Hausärzte unsere Patienten ja gut kennen und daher schon wissen, welches ihre Ziele sind. Tatsächlich entgeht uns aber bei einem von fünf Patienten dessen sub­jektiv wichtigstes Leiden [6], sodass sich eben die Ex­ploration der Patientensicht als Voraussetzung zum ­«deprescribing» lohnt. Ein verständlicher, nun aktualisierter Medikationsplan und eine Folgekonsultation, um allfällige negative Folgen des «deprescribing» aufzufangen, verbessern die Wirksamkeit des Vorgehens weiter.
Ideal, aber noch Zukunftsmusik, ist die Inte­gration ­eines solchen Ablaufes in unsere digitalen Kranken­geschichten, kombiniert mit Warnsystemen (zum Beispiel Interaktions-Check, Konflikte zwischen Krankheiten und Behandlungen, Verschreibungskaskaden). Ebenso nützlich wird es einst sein, eine Zugriffsmöglichkeit auf die Medikationsliste im elektronischen ­Patientendossier für alle Verschreiber zu haben.

Die Krux mit den Zielwerten

Diabetesbehandlung

Ein Knackpunkt bei diesem Prozess ist die Beurteilung der Indikation für ein Medikament, respektive die weiter oben angesprochene Leitlinien-gerechte ­Behandlung. Bis vor kurzem empfahlen beispielsweise Leitlinien für die Diabetesbehandlung einen Ziel-HbA1c-Wert von 6 bis 7%. Beim älteren Patienten (mittleres Alter 64) zeigte sich jedoch im Bereich von 6,5% oder tiefer eine erhöhte Mortalität (durch iatrogene Hypoglykämien). Auf der anderen Seite der HbA1c-Skala steigt die Mortalität bei Werten >9,5% wieder an, bedingt durch krankheitsbedingte Ereignisse [7]. Mit anderen Worten, den älteren Diabetiker stellt man besser auf HbA1c-Zielwerte von 8 bis 9% ein, ohne ­einen Nutzen zu verschenken. Dies ist inzwischen auch in internationalen Leitlinien, wie auch in Empfehlungen der Choosing Wisely-Kampagnen (www.choosingwisely.org) berücksichtigt. Je gebrechlicher die Patientin, desto grosszügiger darf die HbA1c-Einstellung nach oben sein.

Blutdruckbehandlung

Ähnlich ist die Situation bei der aktuell heiss diskutierten Blutdruckbehandlung. Profitieren ältere Patienten ab etwa 80 Lebensjahren wirklich von einer aggressiven Blutdruckbehandlung mit Zielwerten ­unter 130/80 mmHg, wie sie die aktuellen amerikanischen Leitlinien empfehlen? Neue Arbeiten aus Holland und Israel (Kohortenstudien) ergaben, dass die Mortalität spätestens ab einem Alter von 85 Jahren steigt, wenn die Patienten aggressiv behandelt werden, das heisst ein Blutdruck unter einem Zielwert von 140/90 mmHg [8, 9]. Ein systolischer Zielwert von 150 mmHg scheint also angemessener für diese hochaltrige Patientenpopulation, zumal damit weniger ­adverse Medikamentenwirkungen wie Elektrolytentgleisungen oder Orthostase auftreten.

Primärprävention

Bei der Primärprävention mit Statinen sieht es genauso aus: Gemäss einer gerade erschienenen Metaanalyse besteht beim über 80-Jährigen kein gesicherter Nutzen [10]. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass ein Absetzen von Statinen bei durchschnittlich 74-Jährigen ohne negative Folgen bleibt und sogar die Lebensqualität verbessert [11].
Bei der Primärprävention mit Acetylsalicylsäure bzw. Thrombozytenaggregationshemmern wird selbst bei kardiovaskulären Risikopatienten der Benefit durch vermehrte Blutungen unter Therapie pulverisiert [12] – nach diesen Erkenntnissen ist es besser, Acetylsalicylsäure in dieser Indikation nicht mehr einzusetzen oder eben aktiv abzusetzen.

Und wenn der Patient nicht will?

Wie eine aktuelle Studie aus unserem Institut («Chronic Care Study») präliminär zeigt, möchte jeder vierte Patient, der von der Hausärztin einen Vorschlag zum Absetzen eines Medikamentes bekommt, lieber nichts ändern [13]. Häufige Gründe sind laut Literatur eine konservative Grundhaltung («hat mir immer schon gut getan, lieber nichts daran ändern») Ängste, was ohne das Medikament passieren könnte, und die Vielzahl verschiedener Verschreiber, denen gegenüber die Patientin loyal bleiben möchte; ausserdem ein Gefühl von Entwertung («die Behandlung lohnt sich bei mir nicht mehr, ich bin nichts mehr wert») [14]. Auch auf der Ärzteseite finden sich eine gewisse Passivität, aber auch ­Bedenken bezüglich Zeitaufwand, falsch gesetzter ­Anreize für die Pharmakotherapie und schwieriger ­Gespräche mit Patienten über so heikle Themen wie Lebenserwartung und Lebensqualität.
Umso wichtiger ist eine einfühlsame Kommunikation beim «deprescribing». Das Angebot an den Patienten, sich bei neu auftretenden Krankheitssymptomen (die zuvor durch die Medikation verhindert waren) niederschwellig zu melden, bietet Sicherheit und erhöht die Erfolgsquote. Auf jeden Fall gibt es für die angemessene Verschreibung von Medikamenten beim älteren Patienten noch Luft nach oben. Eine solche ­Intervention – nach unseren Studienresultaten am besten ­systematisch alle sechs Monate – lohnt sich: Metaanalysen zeigen eine Reduktion der Mortalität bei polypharmazierten Patientinnen und Patienten, bei denen «deprescribing» betrieben wird, um etwa ­einen Drittel [15]!

Fazit

Zusammengefasst lautet das Rezept gegen eine unangemessene Poly­pharmazie:
– Bewusst werden, was die Patientin einnimmt, und an andere Verschreiber denken.
– Die aktuelle Medikamentenliste kritisch überdenken, angeleitet durch die Ziele des Patienten und unser ärztliches Know-how, ob ein Medikament angemessen sei.
– Gemeinsam Nutzen und Schadenspotenzial abwägen und zur Frage des Absetzens entscheiden.
– Den Prozess des Absetzens einfühlsam begleiten, mit Vermittlung von Sicherheit.
Prof. Dr. med. Stefan Neuner-Jehle
Institut für ­Hausarztmedizin
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
stefan.neuner-jehle[at]usz.ch
 1 Masnoon N, Shakib S, Kalisch-Ellett L, Caughey GE. What is polypharmacy? A systematic review of definitions. BMC Geriatr. 2017;17(1):230.
 2 Bundesamt für Statistik, 2018.
 3 Helsana Arzneimittelreport 2017.
 4 Viktil KK, Blix HS, Moger TA, Reikvam A. Polypharmacy as commonly defined is an indicator of limited value in the assessment of drug-related problems. Br J Clin Pharmacol. 2006;63(2):187–95.
 5 Cooper JA, Cadogan CA, Patterson SM, et al. Interventions to improve the appropriate use of polypharmacy in older people: a Cochrane systematic review. BMJ Open. 2015;5(12):e009235.
 6 Neuner-Jehle S, Zechmann S, Grundmann Maissen D, Rosemann T, Senn O. Patient-provider concordance in the perception of illness and disease: a cross-sectional study among multimorbid patients and their general practitioners in Switzerland. Patient Prefer Adherence. 2017;11:1451–1458.
 7 Currie CJ, Poole CD, Evans M, Peters JR, Morgan CL. Mortality and other important diabetes-related outcomes with insulin vs other antihyperglycemic therapies in type 2 diabetes. J Clin Endocrinol Metab. 2013;98(2):668–77.
 8 Blom JW, de Ruijter W, Witteman JC, et al. Changing prediction of mortality by systolic blood pressure with increasing age: the Rotterdam study. Age 2011;35(2):431–8.
 9 Streit S, Verschoor M, Rodondi N, et al. Variation in GP decisions on antihypertensive treatment in oldest-old and frail individuals across 29 countries. BMC Geriatr. 2017;17(1):93.
10 Cholesterol Treatment Trialists’ CollaborationEfficacy and safety of statin therapy in older people: a meta-analysis of individual participant data from 28 randomised controlled trials. Lancet 393 (2019), pp. 407–415.
11 Kutner JS, Blatchford PJ, Taylor DH, et al. Safety and benefit of discontinuing statin therapy in the setting of advanced, life-limiting illness: a randomized clinical trial. JAMA Intern Med. 2015;175(5):691–700.
12 McNeil JJ, Wolfe R, Woods RL, Tonkin AM, Donnan GA, Nelson MR, et al. Effect of Aspirin on Cardiovascular Events and Bleeding in the Healthy Elderly. N Engl J Med 2018 Oct 18;379(16):1509–1518.
13 Hasler S, Senn O, Rosemann T, Neuner-Jehle S. Effect of a patient-centered drug review on polypharmacy in primary care patients: study protocol for a cluster-randomized controlled trial. Trials 2015 Aug 26;16:380.
14 Reeve E, To J, Hendrix I, Shakib S, Roberts MS, Wiese MD. Patient barriers to and enablers of deprescribing: a systematic review. Drugs Aging 2013 Oct;30(10):793–807.
15 Page AT, Clifford RM, Potter K, Schwartz D, Etherton-Beer CD. The feasibility and effect of deprescribing in older adults on mortality and health: a systematic review and meta-analysis. Br J Clin Pharmacol 2016 Sep;82(3):583–623.
16 Garfinkel D, Mangin D. Feasibility study of a systematic approach for discontinuation of multiple medications in older adults: addressing polypharmacy. Arch Intern Med 2010 Oct 11;170(18):1648–54.