Ein Schlüssel zur modernen ­Medizin?
Das Konzept Gebrechlichkeit

Ein Schlüssel zur modernen ­Medizin?

Editorial
Ausgabe
2019/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10052
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(07):195

Affiliations
Chefredaktor Primary and Hospital Care; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin, Zürich

Publiziert am 03.07.2019

Die Ansichten, wohin sich die moderne Medizin sinnvollerweise bewegen soll oder wird, sind vielfältig: Digitalisierte Medizin, angereichert mit künst­licher Intelligenz? Personalisierte Medizin mit exakt auf den genetischen Hintergrund des Individuums passenden Interventionen? Hochtechnisierte Spitzenmedizin, ökonomisch auf Effizienz getrimmtes Gesundheits­wesen, oder perfektionierte interprofessionelle Zusammenarbeit?
Es ist natürlich naiv zu denken, es gäbe den goldenen Schlüssel für die Lösung aller Probleme, mit denen sich Medizin und Gesundheitssysteme heutzutage ­herumschlagen. Zu denken, man hätte ihn gefunden, ist anmassend. Wahrscheinlicher ist, dass ein ganzes Massnahmenpaket nötig ist, in der Art wie es Gesundheitsstrategen skizzieren (in der Schweiz zum Beispiel in Form von «Gesundheit2020»). Ein weiteres Schlüsselelement möchte ich Ihnen hier näherbringen: Die Gebrechlichkeit.
Warum soll ein so negativ besetzter Begriff nun der Schlüssel für ein modernes Medizinverständnis sein? Gebrechlichkeit und verwandte Begriffe wie Fragilität (frailty) und Vulnerabilität meinen, dass eine erhebliche Gefährdung vorliegt, zu zerbrechen (zusammenzubrechen, sich etwas zu brechen), und darum eine ­erhöhte Vorsicht und Aufmerksamkeit im Umgang mit der/dem Gebrechlichen nötig ist. Gebrechliche Menschen bedürfen mehr Unterstützung und Fürsorge als robuste, gesunde Menschen.
Kann das Konzept der Gebrechlichkeit, respektive deren Vermeidung und der menschenwürdige Umgang damit ein Leuchtturm für die moderne Medizin sein? Folgende Gründe sprechen dafür: Bisher fokussierte –vereinfacht ausgedrückt – die wissenschaftlich orientierte Medizin auf die Verbesserung pathologischer biologischer Prozesse, ergänzt durch die psychosoziale Perspektive. Erst relativ junge Fächer wie Geriatrie oder ­Rehabilitationsmedizin kümmerten sich um die Hochaltrigen und Gebrechlichen, und die palliative Medizin hat sich erst in den letzten Jahren zum eigenständigen Fach entwickelt. Erst seit Kurzem werden alte und ­gebrechliche Patientinnen und Patienten vermehrt in Wirk­samkeitsstudien und Leitlinien-Empfehlungen ein­geschlossen. Bisher war aufgrund zu strikter Ausschlusskriterien keine Aussage zur Wirksamkeit vieler Therapeutika bei dieser fragilen Population möglich. Gleichzeitig steigt aber mit der demografischen Entwicklung und der Hochaltrigkeit die Zahl gebrech­licher Menschen, die Gesundheitssysteme sind gefordert – nicht nur in der Bewältigung der Versorgung von Gebrechlichen, sondern auch im Bemühen, die ­Lebensphase der Gebrechlichkeit möglichst weit ans Ende eines Menschenlebens zu schieben und damit ihre Dauer zu verkürzen.
Das Leid infolge Gebrechlichkeit zu lindern, ist ein moralischer Imperativ, welcher der modernen Medizin wieder einen menschlicheren Inhalt geben könnte. Denken Sie an Patient/-innen, die schrittweise ihre Autonomie verlieren, stürzen, verunsichert und überfordert sind, unter Schmerzen leiden. Welches Potenzial an zu verbessernder Lebensqualität durch erhöhte Aufmerksamkeit und Zuwendung! Welch ein Gegenwert für ­gezielte Interventionen, der einer erfolgreichen koronaren Katheterintervention oder raffinierten bildgebenden Diagnostik in nichts nachsteht. Salopp ausgedrückt, wird das Problem also zur möglichen ­Lösung für die Orientierungslosigkeit der modernen Medizin.
Die Vulnerabilität der gebrechlichen Patient/-innen bedeutet aber auch, dass sie Schutz vor allzu aggressiver ­Diagnostik und Therapie benötigen. Wenn der Nutzen einer Intervention immer unwahrscheinlicher (oder aufgrund der oben angesprochenen Datenlage immer unsicherer) wird, weil Hochaltrigkeit und Gebrech­lichkeit dominieren, dann ist der Verzicht auf diese ­Intervention oft eine gute Option. Schutzbedürftigkeit meint in diesem Sinne also auch Schutz des gebrech­lichen Patienten vor unnötiger oder sogar schädlicher Diagnostik und Therapie. Wir Ärztinnen und Ärzte sind gefordert, uns für unsere vulnerablen Patientinnen und Patienten nicht nur zu über­legen, was sie brauchen, ­sondern auch, was sie besser nicht bekommen. Nicht zu vergessen ist, dass es mit der Konstruktion eines Betreuungsapparates nicht getan ist. Für eine erfolgreiche ­Verbesserung oder Stabilisierung eines gebrechlichen ­Zustandes braucht es eigene Aktivitäten und Selbst­verantwortung des Patienten. Hier ist ein gesundes Mittelmass zwischen betreut werden, überversorgt sein und für sich selbst sorgen gefragt.
Prof. Dr. med. ­Stefan ­Neuner-Jehle, MPH
Institut für ­Hausarztmedizin Zürich
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
stefan.neuner-jehle[at]usz.ch