Bruno Kissling: Hausarzt und Geburtshelfer
Abschied aus dem aktiven Berufsleben

Bruno Kissling: Hausarzt und Geburtshelfer

Reflexionen
Ausgabe
2019/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10095
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(07):215-217

Affiliations
Praxis Weissenbühl, Bern

Publiziert am 03.07.2019

Lieber Bruno, wir danken dir ganz herzlich für alles, was du Qualitätszirkeln und der Hausarzt-Bewegung gegeben hast.

Begeisterung für Qualitätszirkel

Die Geburt eines Qualitätszirkels (QZ) ist nicht immer eine Meldung wert. Im Falle des QZ Elfenau Bern ist die Situation spezieller. Diese Geschichte hängt mit ihrem Gründer Bruno Kissling zusammen:
Bruno Kissling besucht 1996 einen Moderatorenkurs für QZ, ist sofort begeistert von dieser Form der Fortbildung, kehrt zurück in seine hausärztliche Einzelpraxis im Berner Elfenauquartier und gründet umgehend den QZ Elfenau. Dank Bruno Kisslings klarer, überzeugender Kommunikation findet sich rasch eine aktive Gruppe von Hausärztinnen und Hausärzten ein. Bruno moderiert diesen QZ während genau 99 Sitzungen. Seinem Nachfolger steht er dann zur Seite, wenn der Austausch in den QZ-Treffen harzt. Auf gemeinsamen Spaziergängen suchen die beiden nach Lösungen. Bruno handelt immer konstruktiv, immer unbestechlich, immer dem Wohl aller verpflichtet.
Bruno motiviert unseren QZ, uns während Jahren mit der Komplexität der hausärztlichen Tätigkeit auseinanderzusetzen. Bruno Kissling bringt uns in Kontakt mit Begriffen wie der narrativen Medizin, mit Soft Facts und Grounded Theory. Er holt die Anthropologin Andrea Abraham in unseren QZ. Sie eröffnet uns eine ganz neue Sicht auf unsere hausärztliche Tätigkeit. Die teilnehmende Beobachtung der Anthropologin und die narrative Medizin von uns Hausärztinnen und Hausärzten verändern über die Jahre nachhaltig unsere Sprechstundentätigkeit. Wir lesen, diskutieren, publizieren, geben Fortbildungen und begleiten Forschungsprojekte. Der teambildende und innovative Geburtshelfer ist Bruno Kissling.

Gestalter im SGAM-Vorstand

Bruno Kissling wird in den SGAM-Vorstand gewählt, wo er weit mehr ist als ein Sekretär. Er ist ein Gestalter und bleibt ein Geburtshelfer. Bruno ringt nicht jahrelang um Rahmenverträge. Bruno denkt weltoffen und vernetzt. So verbindet er die Hausarztinsel Schweiz mit ­Europa und der Welt: Als Meilenstein findet der WONCA-Kongress 2009 in Basel statt. Die Schweiz ist nun definitiv kein weisser Flecken mehr auf der Weltkarte der Hausarztmedizin.
Zwischen 2006 und 2014 ist die Zeit unserer Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin». Sie ist nicht denkbar ohne die hier vorliegende Fachschrift Primary Care (seit 2016 Primary and Hospital Care), die Bruno als langjähriger Chefredaktor geprägt hat. Die Mobilisierung für die Grossdemonstration auf dem Bundesplatz vom 1. April 2006 ist eine publizistische Meisterleistung von Menschen wie Bruno im Hintergrund: Mut zur Wut. Am 18. Mai 2014 nimmt die Schweizer Bevölkerung den neuen Verfassungsartikel in der Bundesverfassung mit 88% Ja-Stimmen an!
Bruno denkt und handelt systemisch. So stärkt er unseren ärztlichen Nachwuchs in den Praxen und gründet die Vereinigung Junge Hausärztinnen und Hausärzte Schweiz JHAS. Der 1. JHAS-Kongress findet 2011 in Brunos Heimat Solothurn statt. Bruno engagiert sich in seiner Praxis auch für die Studierenden der Medizin. Ein Student, der eigentlich Herzchirurg werden will, landet im Wahlstudienjahr zufällig bei Bruno, lässt sich von dessen Begeisterung anstecken und kommt vom Hausarzt-Virus nicht mehr los: Sven Streit wird der erste Präsident der JHAS und ist heute Professor für Hausarztmedizin am Berner Institut für Hausarztmedizin BIHAM.
Abbildung 1: 2008 musste die Hausarztmedizin noch draussen in einem Zelt ihre Vorlesungen halten.
Bruno ist nicht nur einer der wichtigsten Geburtshelfer des BIHAM, sondern auch der erste Berner Hausarzt, der eine Vorlesung zum Thema Hausarztmedizin in Bern hält: am 1. April 2008 in einem Zelt vor der Universität Bern am Tag der Hausarztmedizin (Abb. 1). Es ist eine ebenso fundierte Rede wie ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Institut für Hausarztmedizin. Sein Publikum – bestehend aus Medizinstudierenden, Politikerinnen und Politikern und Medienschaffenden – dankt ihm mit einem lang anhaltenden Applaus. Weil diese Rede nicht nur als historisch bezeichnet werden kann, sondern auch viel über Brunos Verständnis der Hausarztmedizin aussagt und seine gesundheitspolitischen Visionen aufzeigt, dokumentiere ich diese Rede in Auszügen hier im Kasten. Diese Rede hat mir Bernhard Stricker, Journalist und Mitherausgeber des Buches «Mut zur Wut», zur Verfügung gestellt. Auch er kennt Bruno Kissling seit vielen Jahren und hat mit ihm an vorderster Front für die Hausarztinitiative gekämpft.

Die Zeit ist reif für das Institut für ­Hausarztmedizin an der Uni Bern

Auszug aus der Rede Bruno Kisslings zum Tag der Hausarztmedizin am 1. April 2008 in einem Zelt vor der Universität Bern.
Liebe Studierende der Medizin an der Universität Bern, liebe Hausärztinnen und Hausärzte, sehr geehrte Regierungsräte, Grossrätinnen und Stadtdräte, sehr geehrte Medienleute, sehr geehrte Gäste. (…)
Wir begehen diese Feier aus Anlass des Tages der Hausarztmedizin, der heute am 1. April zum zweiten Mal begangen wird. Wir treffen uns an einem ungewöhnlichen Ort, in einem Zelt – draussen vor der Tür der ehrwürdigen Alma Mater Bernensis. (…)
Das Zelt, in dem wir uns hier befinden, ist uns ein Dach über dem Kopf gegen die Launen des Aprilwetters. Aber es ist mehr als das. Dieses Zelt ist eine Metapher.
Dieses Zelt ist eine notdürftige Unterkunft für die alte Hausarztmedizin, die ihren Platz unter dem Dach der Universität im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte sukzessive verloren hat.
Dieses Zelt ist zugleich eine provisorische Erstunterkunft für ­Pioniere, die in die Terra incognita der neuen Hausarztmedizin vordringen.
Und – dieses Zelt ist ein Skandal. Die grösste Disziplin der Medizin, die Hausarztmedizin, gehört nicht in ein Zelt, sondern – definitiv – zurück an die Universität. (…)
Das Berufsbild des Hausarztes wurde immer mehr an den Rand gedrängt, die Allgemeinmedizin «verdunstete» aus den Hallen der Universität, ohne dass sie jemals rausgeworfen worden wäre. Der letzte Dekan stellte, wie auch viele andere Autoren von Editorials, vor wenigen Jahren die Frage: «Braucht es den Hausarzt noch?» (…)
Meine Antwort lautet klar und eindeutig: «Ja, es braucht den Hausarzt noch! Mehr denn je!» (…)
Es braucht den Hausarzt nicht als sogenannten «Minispezialisten». Dazu gibt es tatsächlich keine Daseinsberechtigung, und dies wäre auch eine völlig falsche Vorstellung über den Hausarztberuf. Sein Tätigkeitsfeld hat sich im Lauf der Zeit total verändert. (…)
Die Medizin hat sich innerhalb der letzten 150 Jahre aufgrund enormer technischer Fortschritte von einer Medizin für akut erkrankte Menschen zu einer Medizin für polymorbide Patienten mit chronischen, oft organüberschreitenden Krankheiten ent­wickelt. Die Kunst eines einzelnen Arztes genügt nicht mehr. Und auch medizinisches Fachwissen alleine reicht nicht mehr aus. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist oft erforderlich, um die Möglichkeiten der modernen Medizin auszuschöpfen. Neue Aufgaben sind dazugekommen: Die umfassende Prävention; die Beratung von Menschen in ihrer Angst und Unsicherheit; der Einbezug von biologischen, psychologischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Elementen; psychologische und philosophische Betreuung im verwischten Grenzgebiet zwischen Gesund- und Kranksein; die richtige Mischung von Cure, Prävention, Care und Palliation; alles zur richtigen Zeit. Die Hausarztmedizin ist zu ­einer sehr komplexen Tätigkeit geworden.
Dies alles ist die Domäne der Allgemeinmedizin, der Hausarztmedizin. Sie ist nicht einfach die Summe der von den Hausärzten praktizierten Spezialitäten, sondern «mehr als diese Summe».
Die umfassende Betreuung der betroffenen Menschen erfordert neue ärztliche Kompetenzen und interdisziplinäre Arbeitsweisen, für die bisher in der Schweiz kaum jemand ausgebildet worden ist. Die Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte sind im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit allmählich auf diese Erkenntnisse gestossen und mehr oder weniger autodidaktisch in ihren Beruf hineingewachsen. (…)
Nun noch einige Worte an die Politikerinnen und Politiker: Für ein Gesundheitssystem lohnt es sich, die Hausarztmedizin ins Zentrum zu stellen.
In Hausarztmedizin-basierten Gesundheitssystemen geht es den Menschen aller Gesellschaftsschichten in allen messbaren Gesundheitsbereichen besser; und die Kosten sind tiefer. Dies hat Barbara Starfield in ihrer ausgedehnten Metastudie namens «Contribution of Primary Care to Health Systems and Health» eindrücklich dargelegt.
Für ein gesundes Gesundheitssystem bräuchte es 100 Hausärzte auf 100 000 Einwohner. Im Kanton Bern waren es 2005 nur 68/100 000. (…)
Das Interesse an der Hausarztmedizin unter den Medizinstudierenden konnte in Basel mit einem mehrjährigen Einzeltutoriat von 4% zu Beginn des Studiums auf 10% am Ende des Studiums gesteigert werden; das zeigt die longitudinale Berufszielstudie von Peter Tschudi, dem ersten Professor für Hausarztmedizin in der Schweiz und Leiter des schweizweit ersten Instituts für Hausarztmedizin in Basel. (…)
Die Eröffnungen von Hausarztpraxen haben sich nach dem Niederlassungsstop Mitte 2002 nachhaltig halbiert, während sich die Spezialarztpraxen nach einem ersten Schock bereits jetzt schon wieder auf die Vorzahl eingespielt haben.
2007 konnten 110 neue Facharztdiplome für Allgemeinmedizin ausgestellt werden.
Betrachten Sie diese Zahlen vor dem Hintergrund, dass in der Schweiz wegen des hohen Durchschnittsalters der Schweizer Hausärzte von 57 Jahren bis zum Jahr 2016 – das ist in acht Jahren – zirka 3000 Hausärzte ersetzt werden müssen.
Damit die Zahl der Hausärzte gesteigert werden kann, ist es unentbehrlich, dass die Hausarztmedizin während der gesamten Studiendauer präsent ist. Das geht nur mit den etablierten Strukturen ­eines Instituts. Die Hausarztmedizin gehört nicht in ein Zelt vor der Universität, sondern wieder hinein in die Universität – als vollwertige und gleichberechtigte Partnerin wie die anderen Spezialitäten. (…)
Liebe Politikerinnen und Politiker, lasst uns dieses skandalöse Zelt abbrechen und führen wir die Hausarztmedizin auch in Bern zurück unter das Dach der Alma Mater Bernensis.
Vielen Dank
Bruno Kissling
Zum QZ Elfenau gehört auch die Ärztin und Filmemacherin Sylviane Gindrat. Sie wählt Bruno zu einem der Protagonisten für ihre Film-Trilogie «Am Puls der Hausärzte». Der Film läuft 2014 in der ganzen Schweiz erfolgreich in den Kinos und am Fernsehen. Bruno zeigt sich in dieser Dokumentation von einer sehr authentischen Seite. Er erzählt von seiner Erschöpfung, dem drohenden Burn-out nach zehn Jahren Praxistätigkeit: das beeindruckt und bewegt. Bruno wird sichtbar als bescheidener Arzt, der weiss, wie wir alle in emotionale Grenzbereiche vorstossen, wenn wir uns Tag für Tag von den Geschichten unserer Patientinnen und Patienten berühren lassen.
Lieber Bruno, wir danken dir ganz herzlich für alles, was du unserem QZ und der Hausarzt-Bewegung gegeben hast. Du bist aussergewöhnlich. In deinem Buch «Ich stelle mir eine Medizin vor …», das du im Dialog mit der jungen Ärztin Lisa Bircher verfasst hast, schreibt sie über dich: «Du bist wirklich unglaublich vielseitig. Du bist Buchautor und Künstler. Und das alles neben einem ausgefüllten Hausarztleben.»
Vor dreieinhalb Jahren hast du deine Einzelpraxis ­erfolgreich mit den Praxen eines jungen und eines gleichaltrigen Kollegen im Quartier zusammengeführt. Du glaubst an Teams, die gemäss deinen eigenen Worten eine sagenhafte Kraft haben und Wunderbares bewirken können.
Jetzt hängst du dein Stethoskop definitiv an den berühmten Nagel. Aber dein nächstes Buchprojekt, es sei verraten, handelt von der ärztlichen Konsultation. Es soll im Herbst 2019 erscheinen. Wir freuen uns darauf.
Dr. med. Jörg Rohrer
Allgemeine Innere Medizin FMH
Weissenbühlweg 3
CH-3007 Bern
jf.rohrer[at]hin.ch
– Qualität in der Medizin, Briefe zwischen einem Hausarzt und einer Ethnologin, Andrea Abraham und Bruno Kissling, 2015, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel.
– Ich stelle mir eine Medizin vor …, Briefwechsel einer jungen Hausärztin mit einem erfahrenen Hausarzt, Lisa Bircher und Bruno Kissling, 2018, rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich.
– Mut zur Wut, Die Geschichte der Volksinitiative «Ja zur Hausarztmedizin» 2006–2014, Peter Tschudi und Bernhard Stricker, 2015, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel.