Welche Tarifstruktur(en) für welche Art(en) der interprofessionellen Zusammenarbeit?
Hindernisse und Wege bei der Finanzierung der interprofessionellen Zusammenarbeit

Welche Tarifstruktur(en) für welche Art(en) der interprofessionellen Zusammenarbeit?

Aktuelles
Ausgabe
2019/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10106
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(07):198-199

Affiliations
Wissenschaftlicher Mitarbeiter polsan1

Publiziert am 03.07.2019

Die Tarifstrukturen sind Gegenstand mannigfaltiger Kritik, und es sind Reformen nötig, um den Anforderungen des Gesundheitssystems besser gerecht zu werden. Die Tarifpartner beginnen sich für neue Strukturen zu interessieren, die eine bessere interprofessionelle Zusammenarbeit ermöglichen würden.

In Bezug auf die Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit (IPZ) herrscht unter den Akteur­en und Entscheidungsträger/-innen des Schweizer Gesundheitssystems Einigkeit. Im Jahr 2017 hat der Bundesrat das Förderprogramm «Interprofessionalität im Bereich der Gesundheit»2 gestartet. Gleichzeitig haben sich rund zehn Berufsverbände, die im Bereich der Grundversorgung tätig sind, zusammengeschlossen und die Plattform Interprofessionalität gegründet, deren Ziel die Förderung der IPZ und insbesondere ihrer Finanzierung ist. Dieses Thema wird die Plattform an ihrem ersten Symposium am 19. November 20193 vertiefen. Klar ist, dass die Finanzierung vom Tarifsystem abhängig ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, Reformen unter Einbeziehung der IPZ zu prüfen.

Differenziertes Verständnis der IPZ und monoprofessionelle Tarifstrukturen

Bei der IPZ kann man je nach den Zielen, die man erreichen will, zwei Auslegungsrichtungen4 unterscheiden. Einige sehen in ihr eine Chance, dass ihre berufliche Tätigkeit stärker anerkannt wird. Man spricht hier vom «emanzipatorischen» oder strukturellen Ansatz. Dieser zielt darauf ab, die Machtgefälle zwischen den verschiedenen Berufsständen durch Anpassung der bestehenden Strukturen zu verringern, und wird vor allem von den Berufsverbänden (vornehmlich jenen der nicht-ärztlichen) vertreten. Die zweite Sichtweise der IPZ ist «utilitaristisch» oder ökonomisch. Es geht darum, ganz allgemein den Nutzen zu ermitteln, den die IPZ dem Gesundheitssystem bringt. Ihre Unterstützterinnen und Unterstützer sehen in ihr vor allem ein Potenzial für Kosteneinsparungen. Was die Ärztinnen und Ärzte betrifft, erhoffen sie sich, aufgrund des Zeitgewinns durch eine bessere Aufgabenteilung die Betreuung ihrer Patientinnen und Patienten zu verbessern.
Die derzeitigen Tarifstrukturen werden unabhängig von jedem Berufsverband in Zusammenarbeit mit den Versicherungen ausgearbeitet, ohne Konsultation der anderen Berufsstände. Diese Strukturen begünstigen folglich das Silo- oder monoprofessionelle Denken. ­Darüber hinaus wird in keiner dieser Tarifstrukturen (mit Ausnahme des TARMED, doch in einem geringen Masse5) die für die interprofessionelle Praxis erforderliche Zeit berücksichtigt. Dies hat zur Folge, dass Leistungserbringer gezwungen sind, die IPZ entweder in Anwesenheit ihrer Patientinnen und Patienten oder in ihrer Freizeit zu praktizieren. Schliesslich beruht der Grossteil der derzeitigen Strukturen auf Einzelleistungstarifen, welche die interprofessionelle Zusammenarbeit erschweren.

Komplexe Pauschalen? Ja, aber unter bestimmten Bedingungen

Die derzeit von den Entscheidungsträger/-innen erwogene Lösung besteht darin, den gesamten Patientenpfad während eines festgelegten Zeitraums zu berücksichtigen (zum Besipiel ein Jahr) und die Leistungen auf die verschiedenen Erbringer zu verteilen. Man einigte sich auf den Begriff «komplexe Pauschale», da die Pauschalen diverse Berufsgruppen umfassen und für den stationären und ambulanten Sektor gelten würden. Bevor derartige Tarife eingeführt werden können, müssen ­allerdings noch zahlreiche Probleme gelöst werden. Zunächst wird der SwissDRG-Tarif (das Modell, auf dem die neuen Tarife beruhen würden und das im stationären Bereich seit 2012 angewendet wird) regelmässig angepasst, um seine Kinderkrankheiten zu korrigieren. Zudem sollte die Pauschale, unter Erhalt der Flexibilität, ­einen typischen klinischen Patientenpfad und die an der Betreuung jedes Falles beteiligten Berufsgruppen definieren. Schliesslich sollten die Gelder zwischen den einzelnen Leistungserbringern so gerecht und transparent wie möglich verteilt werden.
Ungeachtet dieser Schwierigkeiten und der notwendigen Anpassungen wären die komplexen Pauschalen mit einer pauschalen und interprofessionellen Tarifstruktur vereinbar. Da eine solche Struktur heute nicht existiert, wäre es angebracht, sie im kleinen Massstab (auf kantonaler oder regionaler Ebene) zu testen. Denkbar ist, regionale interprofessionelle Verbände zu schaffen, die gemeinsam diese neuen Strukturen mit den Kostenträgern verhandeln. Ein solches Vorgehen scheint im Rahmen der derzeitigen Rechtslage möglich zu sein. Der Experimentierartikel des KVG, der zur­zeit geprüft wird, soll entsprechende Initiative fördern.

Interprofessionelle Verbände

Die ständige Sorge um die Finanzierung der Gesundheitsversorgung und die Besonderheiten des politischen Systems in der Schweiz machen jede Reform schwierig. Man muss darlegen können, dass sie für die Betreuung der Patientinnen und Patienten einen Mehrwert bietet und gleichzeitig die Kosten nicht ansteigen lässt. Die in der Grundversorgung tätigen Verbände können diese Diskussionen nicht im ­Alleingang führen. Darum müssen sich die Leistungserbringer mittels ihrer Fachgesellschaften auf die Definition jener IPZ einigen, die sie fördern möchten. Sie müssen zum Einsatz erheblicher Ressourcen bereit sein, um zu zeigen, welchen Nutzen sie mit sich bringt, und anschliessend mit den Kostenträgern und der Politik verhandeln. Die Leistungserbringer sollten die Gelegenheit nutzen, sich zu vernetzen und gemeinsam die nötigen Argumente und Belege zu erarbeiten, damit die Reformen zu Ende geführt werden können, die für das System zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung in der Schweiz von entscheidender Bedeutung sind.
Sandra Hügli-Jost
Kommunikationsbeauftragte
mfe Haus- und
Kinderärzte Schweiz
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