Nachwuchsförderung – Auf gutem Weg, aber noch nicht am Ziel
Studie der JHaS in Zusammenarbeit mit dem Berner Institut für Hausarztmedizin

Nachwuchsförderung – Auf gutem Weg, aber noch nicht am Ziel

Forschung
Ausgabe
2019/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10110
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(09):275-277

Affiliations
a Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM); b Junge Hausärztinnen und -ärzte Schweiz

Publiziert am 04.09.2019

Der Nachwuchs kommt, arbeitet Teilzeit, wählt kleinere Praxen, auch auf dem Land und dort, wo er eine Praxisassistenz durchgeführt hat. Eine neue JHaS-Studie in Zusammenarbeit mit dem Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) wurde an einer Pressekonferenz am 25. April 2019 vorgestellt und stiess auf grosses mediales Interesse. Die Resultate werden hier kurz vorgestellt.

Die Hausarztmedizin spielt im Gesundheitswesen eine Schlüsselrolle und ist nicht nur hoch effizient und ­kostengünstig, sondern arbeitet auch eng mit andern Berufsgruppen (Apothekern, Spitex, Spitäler usw.) zusammen. Das Ziel ist: Die Patientin/der Patient steht im Zentrum, die Hausärztin/der Hausarzt koordiniert die Betreuung. 2014 stimmten 88% für einen Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung, worin die Hausarztmedizin als wichtiger Bestandteil abgebildet ist.

Mangel an Hausärztinnen/-ärzten mit attraktivem Berufsbild beim Nachwuchs bekämpfen

Gleichzeitig besteht aber ein ausgeprägter Hausärztemangel: Eine Studie des Instituts für Hausarztmedizin beider Basel stellte 2015 fest, dass in nur wenigen Jahren jede zweite Praxis mangels Nachfolger leer stehen wird [1]. Es konnten verschiedene Gründe ausgemacht werden, die zum Hausärztemangel führten. Ins Gewicht fiel aber besonders, dass Medizinstudierende und junge Ärzt/-innen ihr Interesse daran verloren. Nur noch 10% der Studierenden wählten 2008 die Hausarztmedizin als Berufsziel. Dort setzten die Jungen Hausärztinnen und -ärzte Schweiz (JHaS) an: Sie entrümpelten das Berufsbild und wurden so für ihre Generation zu Vorbildern. Bald wurde ihr JHaS-Kongress zum Ort des Austauschs mit jährlich mehr als 500 Besuchern.

Erste positive Zeichen – Interesse wächst bei Studierenden und jungen Ärzt/-innen

In letzter Zeit mehrten sich positive Zeichen, dass der Nachwuchs wächst: 2017 wurden Studierende wieder befragt und nun entschieden sich 20% definitiv für die Hausarztmedizin. Weitere 40% gaben an, daran interessiert zu sein [2]. 2016 befragten wir JHaS-Mitglieder, wie sie ihre künftige Praxisform sähen, wobei die Mehrheit in kleineren Gruppenpraxen auf dem Land in Teilzeit arbeiten wollten [3]. So erfreulich beide Studien waren, sind Absichten alleine nicht ausreichend und wir müssen verstehen, ob auch Taten folgen.

Eine neue Studie der JHaS soll Klarheit schaffen

Gemeinsam mit dem Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) führte die JHaS deswegen 2019 eine neue Umfrage bei ihren >1100 Mitgliedern durch, die vor allem weiblich und entweder noch in Ausbildung, Weiterbildung oder schon in der Praxis tätig sind. Fast die Hälfte nahm an der Studie teil. Zusätzlich konnte anhand der Zulassungsbewilligung für alle JHaS-Mitglieder, die schon in der Praxis arbeiten, herausge­funden werden, wo sich die Praxen befinden und ob tatsächlich genügend Nachwuchs auch in Agglomerationen und auf dem Land tätig wird. Damit konnten wir zum ersten Mal eine Gesamtschau auf den hausärztlichen Nachwuchs werfen, denn bisher gibt es kein Register von Jungärzt/-innen, die in Praxen einstiegen.

Der Nachwuchs kommt

Die Umfrage hat einige, für die Schweiz und die Hausarztmedizin, relevante Punkte herausgefunden: Die wichtigste und erfreulichste Nachricht ist: Der hausärztliche Nachwuchs kommt. Bereits 30% der JHaS-Mitglieder (entspricht mehr als 350 Hausärzt/-innen) sind in der Praxis tätig.

Teilzeit, in Doppel- und kleineren ­Gruppenpraxen

Viele haben ihre Wünsche umgesetzt und arbeiten heute Teilzeit. Und trotzdem: Die Menge an Sprechstunden, die sie in Teilzeitarbeit anbieten, lässt sich ­sehen: ca. 700 000 Patienten betreuen sie in der Sprechstunde, am Telefon, bei Hausbesuchen oder im Notfalldienst (Abb. 1). Als beliebteste Praxisformen wurden die Doppel- und kleinere Gruppenpraxis mit bis fünf Ärztinnen und Ärzten gewählt (73%). 17% wählten noch grössere Praxen, 10% wählten noch immer eine Einzelpraxis, sodass diese Praxisform noch bestehen bleibt (Abb. 2).
Abbildung 1: Von den >350 neuen Hausärzt/-innen der JHaS arbeiten viele Teilzeit, und trotzdem betreuen sie ­gemeinsam jährlich über 700 000 Patient/-innen.
Abbildung 2: Die jungen Hausärzt/-innen sind mehrheitlich Teamplayer und arbeiten grösstenteils in Doppel- oder kleineren Gruppenpraxen. Obwohl das Modell Einzelpraxis häufig als «Auslaufmodell» bezeichnet wird, wählen noch immer 10% der jungen Hausärzt/-innen dieses Modell.

Praxen eröffnet, wo Patient/-innen leben – städtisch, periurban und auf dem Land

Dank dem Zulassungsregister konnten wir die Standorte der neuen Praxen in städtisch, periurban und ländlich einteilen (BFS Stadt/Landtypologie 2012) und die Verteilung mit der ständigen Wohn­bevölkerung (BFS 2015) vergleichen. Wir stellen fest: Junge Hausärzt/-innen wählten ihren Standort dort, wo auch die Bevölkerung lebt, ausgewogen in allen drei Gemeindegrössen, also auch auf dem Land (Abb. 3).
Abbildung 3: Die jungen Hausärzt/-innen wollen nicht nur in der Stadt oder der Agglomeration arbeiten – auch Stellen auf dem Land sind von Interesse. Der Nachwuchs verteilt sich ausgewogen anhand der Wohnbevölkerung.

Den Wünschen folgten Taten

Die Jungen Hausärzt/-innen sind in der ganzen Schweiz tätig. Auffallend war, dass >40% dort eine Praxis übernahmen oder einstiegen, wo sie vorher noch als Assistenzärzt/-innen eine sogenannte «Praxisassistenz» absolviert hatten (Abb. 4). Hausärzt/-innen unterrichteten sie dort über meist sechs bis zwölf Monate, damit der Nachwuchs lernt, was er für den späteren Praxis­alltag zu wissen (und können) braucht. Diese meist durch Kantone finanzierten Praxisassistenzstellen (noch fehlend im Tessin) wirken, denn sie sind für den Nachwuchs der Steigbügel in die Praxis­tätigkeit. So erfreulich diese Kernaussagen der Umfrage sind, zeigen sie aber auch klar auf, wie wichtig es ist, weitere Anstrengungen zu unternehmen. Zum Beispiel können Kantone noch vermehrt in Praxisassistenzprogramme investieren.
Abbildung 4: In den zehn Jahren wurden >350 Praxen übernommen oder junge Ärzte/Ärztinnen stiegen in Praxen ein – ein grosser Teil dort, wo sie bereits eine Praxisassistenz absolvierten. Die Praxisassistenz – sie wirkt und ist für ­Kantone der Schlüssel für eine nachhaltige Grundversorgung.

Win-Win-Win-Situation

Im Kanton Bern wurde als Beispiel 2017 das Stellenangebot für Praxisassistenten von 21 auf 35 einstimmig erhöht, wofür das BIHAM gemeinsam mit den Ärzteorganisationen Ärztegesellschaft des Kantons Bern (BEKAG) und Verein Berner Haus- und Kinderärzte (VBHK) kämpfen musste. Um die Wirksamkeit des Programms zu evaluieren, veröffentlicht das BIHAM nun zeitgleich eine Langzeitstudie aller 165 ehemaliger Praxisassistenzärzt/-innen, die in den letzten zehn Jahren durch das BIHAM betreut wurden. >80% wurden Hausärzt/innen oder sind auf dem Weg in die Praxis, auch hier >40% dort, wo die Praxisassistenz durchgeführt wurde [4]. Eine Win-Win-Win-Situation: Der Kanton gewinnt Hausärzt/-innen, oft auch auf dem Land, die Hausärzt/-innen finden durch das Programm eine Nachfolge und die jungen Hausärzt/-innen geniessen in der Praxisassistenz eine optimale Vorbereitung auf ihren späteren Beruf. In Bern ist das Programm beliebt, trotz Erhöhung müssen Gesuche sogar abgelehnt werden, da die Stellen für 2019 bereits im April vergeben sind.

Zusammenfassung

– Wir sehen eine sehr positive Entwicklung: Studierende interessieren sich für die Hausarztmedizin, junge Ärzte/Ärztinnen machen besonders nach einer Praxisassistenz den Schritt in eine Praxis, dies verteilt über die ganze Schweiz. Den Wünschen folgten Taten. Wir sind aber noch nicht am Ziel.
– Wenn >60% der Studierenden ihr Interesse für die Hausarztmedizin äussern, müssen wir sie mittels attraktiver Weiterbildung (Curricula) für die Praxis­tätigkeit vorbereiten. Dazu braucht es eine Begleitung (Mentoring) durch erfahrene Hausärzt/-innen, die den Nachwuchs in ihrem Berufsziel aktiv unter­stützen und zu Themen, wie Selbstständigkeit oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie beraten und begleiten können. Langzeitstudien werden weiterhin wichtig sein, um die Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen. Die Nachwuchs­förderungskommission der Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) engagiert sich hierfür gemeinsam mit ihren Partnern und mit Unterstützung der JHaS.
– Ist der Praxiseinstieg einmal gelungen, wollen wir die Praxistätigkeit langfristig sichern in Anbetracht von mehr und mehr Patient/-innen (Stichwort Zunahme chronischer Krankheiten). Optimale Versorgung braucht auch Versorgungsforschung, wie sie an unterdessen mehreren Instituten für Hausarztmedizin (Dachverband SAFMED, www.safmed.ch), dank Unterstützung von Institutionen wie dem Schweizerischen Nationalfonds und seinem Nationalen Forschungsprogramm NFP 74 «Gesundheitsversorgung» (www.nfp74.ch) durchgeführt werden.
Die Autoren danken Gabriela Rohrer, Linda Habib, Thomas Berger und Sandra Hügli-Jost für die Mithilfe bei der Durchführung der 
Studie sowie tatkräftige Unterstützung bei der Medienkonferenz. Die Grafiken wurden durch Marc Siegenthaler, www.lesgraphistes.ch erstellt.
Prof. Sven Streit
Berner Institut für ­Hausarztmedizin (BIHAM)
Leiter Nachwuchsförderung und Vernetzung Hausärzte
Universität Bern
Mittelstrasse 43
CH-3012 Bern
sven.streit[at]biham.unibe.ch
1 Zeller A. Work Force Studie 2015: «Den Puls der Schweizer wissenschaftlich gefühlt». https://synapse-online.ch/de/article/doi/syn.2016.00324/.
2 Diallo B, Rozsnyai Z, Bachofner M, et al. Wer strebt Ende Medizinstudium eine Hausärztekarriere an? 60% der Schweizer Studierenden zeigen grosses Interesse. Eingereichtes Manuskript.
3 Gisler LB, Bachofner M, Moser-Bucher CN, et al. From practice employee to (co-)owner: young GPs predict their future careers. A cross-sectional survey. BMC Family Practice. 2017;18(1):12.
4 Rozsnyai Z, Diallo B, Streit S. 10 Jahre Praxisassistenzprogramm im Kanton Bern. Schweizerische Ärztezeitung. 2019;100(19):642–3.