Was bedeutet Psychosomatik in der Allgemeinmedizin?
Professionalisierung der ­wohlwollenden Neugierde

Was bedeutet Psychosomatik in der Allgemeinmedizin?

Aktuelles
Ausgabe
2019/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10119
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(08):225-227

Affiliations
Basler Institut für Psychosomatische Medizin, Psychosomatik – Kommunikation, Universitätsspital Basel

Publiziert am 31.07.2019

Die Qualifikation, die die Ärztinnen und Ärzte zur Praxis einer Psychosomatischen Medizin befähigt, ist am ehesten als psychosomatische Grund­haltung zu beschreiben, die durch wohlwollende Neugierde, Geduld und Bescheidenheit geprägt ist.

Hintergrund und Fragestellung

Auf dem Gebiet der Psychosomatischen Medizin steht derzeit die Umwandlung des bisherigen Fähigkeitsausweises Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (FAPPM) in einen Schwerpunkttitel zur Diskussion. Wir nehmen dies zum Anlass, mit den Leserinnen und ­Lesern gemeinsam über einige Besonderheiten einer psychosomatisch geprägten ärztlichen Tätigkeit in ­somatischen Disziplinen nachzudenken. Im Oktober 2019 beginnt am Basler Institut für Psychosomatik der 10. Fortbildungskurs (siehe Kasten) zum Erwerb des Fähigkeitsausweises der Schweizerischen Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM), für den die nachfolgenden Überlegungen prägend sind. Im Rahmen dieser Überlegungen werden auch einige Punkte zusammenfassend präsentiert, die sich aus zwei Seminaren ergeben haben, die der Autor als Präsident der Carl-Gustav-Carus-Stiftung zur Förderung der Psychosomatischen Medizin initiiert hatte. In diesen Treffen haben Vertreterinnen und Vertreter der Psychosomatischen Medizin und der Allgemeinmedizin aus Deutschland und der Schweiz über die Frage nachgedacht, was das Besondere einer Psychosomatischen Medizin in einer somatischen Disziplin sein könnte.
Dabei ergab sich in der Wahrnehmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Schnittmenge ein spezielles Charakteristikum, dass sich nämlich beide Fachgebiete auf einem Terrain bewegen, auf dem ein nicht hintergehbarer Anteil an Unsicherheit bleibt; der Umgang mit dem Nicht-Eindeutigen oder Vagen ist konstitutiv für beide Bereiche. Ein Grundversorger wird beispielsweise selten alle diagnostischen Möglichkeiten aufbieten, sondern damit leben (lernen), dass die wahrscheinlichen, aber nicht alle Differentialdiagnosen abgearbeitet wurden; eine psychosomatisch ausgebildete Anästhesistin wird in der Schmerzsprechstunde damit leben (müssen), dass die Klagen einer Patientin auch nach umfangreicher Diagnostik nicht eindeutig ­begründbar sind – und dennoch sind sie ernst zu nehmen. Der Hausarzt weiss besser als die Spezialistin im Spital, wie unsicher die Umsetzung einer Therapie im Alltag ist, da er oft über lange Zeit hinweg Menschen begleitet und in diesen Jahren mit ihnen gemeinsam ein grosses Wissen darüber etabliert hat, was geht und was schwierig werden wird im Leben einer Person. Die Qualifikation, die diese Ärztinnen und Ärzte zur Praxis einer Psychosomatischen Medizin befähigt, ist am ehesten als psychosomatische Grund­haltung zu beschreiben, die durch wohlwollende Neugierde, Geduld und Bescheidenheit geprägt ist.
Diese Eigenschaften sind bei Ärztinnen und Ärzten ­sicher häufig anzutreffen und nicht nur bei Titelträger­innen und Titelträgern der SAPPM. Die Frage ist allerdings, ob es so oft wie gewünscht gelingt, den eigenen Patientinnen und Patienten diese Haltung zu vermitteln und sie auch in mühsamen Arzt-Patienten-Beziehungen zu leben.
Im Folgenden soll kurz skizziert werden, warum es sich lohnen könnte, aus diesen Qualitäten einer inneren Haltung ein professionelles Instrument in der Gestaltung der Begegnung vor allem mit chronisch kranken Menschen zu machen.

Zur Professionalisierung der ­wohlwollenden Neugierde

Der Unterschied zwischen subjektiven und ­objektiven Tatsachen

Westliche Medizin hat sich unter Bezug auf die Grundlagen der Naturwissenschaften den objektiven Tatsachen verschrieben. Jeder Mensch auf der Welt, der über eine entsprechende Ausbildung verfügt, wird ein Laborresultat oder ein MRI gleich interpretieren. In ­diesem Sinne sind die Befunde objektiv, weil sie unabhängig von der Person, die sie feststellt, als dieses oder jenes beurteilt werden. Subjektive Tatsachen kann man nur im eigenen Namen aussagen – sie sind einem Beobachter entweder gar nicht oder nur unzuverlässig zugänglich. Dazu gehört das Befinden des Autors während des Schreibens dieses Artikels, das Ausmass des Leidens an einer objektiv festgestellten Krankheit, die Überzeugung, eine Krise überwinden zu können oder die Angst, an ihr zu scheitern. Aus diesen Überlegungen dürfte klar werden, dass Medizin als angewandte (Natur-)Wissenschaft es nie nur mit rein objektiven, dafür fast immer (auch) mit subjektiven Tatsachen zu tun hat.

Das Sprechen über subjektive und ­objektive ­Tat­sachen

Objektive Tatsachen kann man mit ziemlicher Sicherheit feststellen, subjektive Tatsachen muss man sich erzählen lassen. Über Laborwerte oder Daten der Krankheitsgeschichte kann eine Patientin oder ein ­Patient im Stil eines Rapports berichten, über die momentane Befindlichkeit eher in Form eines Narrativs, einer ad hoc entwickelten Erzählung. Damit Patientinnen ihren Ärzten ihre Geschichten erzählen, müssen sie sich eingeladen fühlen – sie sollten wissen, wie viel Zeit die Ärztin hat und ob sie bereit ist, sich «mein Narrativ« anzuhören. Wie wir alle wissen, ist es mühsam, jemandem eine Geschichte zu erzählen, der ständig mit Nachfragen unterbricht – dann reisst der Erzähl­faden und man belässt es bei nichtssagenden Feststellungen («Hochzeit war schön, 120 Leute, gute Musik, super Location»). Von daher ist eine einladende professionelle Kommunikation eine unersetzliche Kernkompetenz einer Ärztin oder eines Arztes, die ihre Aufmerksamkeit für Narrative als Kommunika­tionsform subjektiver Tatsachen öffnen will.

Psychosomatische Medizin als ­historische ­Disziplin

Psychosomatisches Denken und Handeln hat eine Geschichte, in deren Verlauf verschiedene Hypo­thesen oder ganze Modelle formuliert wurden. Im ­Rahmen psychodynamischer Ansätze sollten sie erklären, wie das Unausgesprochene (und manchmal Unaussprechliche) in einer Lebensgeschichte oder in einer Begegnung zwischen Arzt und Patient verstanden und für die Behandlung genutzt werden kann. Andere Diagnostik- und Behandlungskonzepte aus dem Bereich verhaltenstherapeutischer Ansätze haben sich für dieses Unausgesprochene weniger interessiert und das eindeutiger in Form beobachtbaren Verhaltens Feststellbare in den Mittelpunkt gerückt. Beide Ansätze, also mehr psychodynamisch und mehr verhaltens­therapeutisch basierte, haben sich bei zahlreichen ­Störungsbildern als wirksam erwiesen. Ihre Wirk­prinzipien sollten der psychosomatisch tätigen Ärztin bekannt sein, damit sie weiss, was sie einem Patienten empfiehlt, wenn sie ihn an einen psychodynamisch orientierten oder einen verhaltenstherapeutisch qualifizierten Kollegen überweist.

Psychosomatische Medizin in ­somatischen ­Dis­ziplinen

Im Gegensatz zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Medizin oder dem Behandlungsangebot der klinischen Psychologie müssen sich Kolleginnen und Kollegen in somatischen Fächern immer aufs Neue darüber klar werden, ob sie – für den Moment – die objektiven Tatsachen auf die Seite schieben und sich auf die subjektiven Aspekte konzentrieren können und handkehrum: Ob sie die subjektiven Aspekte hintanstellen und die objektiven Tatsachen abklären. Dieser ausgesprochen schwierige Balanceakt ist wesentlicher Bestandteil der Unsicherheit, mit der jemand umgehen muss, der in seiner Praxis Patientinnen und Patienten betreuen will, deren persönliche Geschichten wesentlich sind für ihr Befinden und für den Erfolg einer Behandlung.

Erweiterung kommunikativer ­Kompetenzen

Im Fortbildungskurs wird entsprechend den oben beschriebenen Grundsätzen sehr viel Wert daraufgelegt, kommunikative Kompetenz zu erweitern, um das Öffnen und Schliessen des Gesprächsraumes bewusst gestalten zu können und um bestimmte Techniken zu beherrschen, die das Sprechen über heikle Themen erleichtern. Entsprechend berichten Kursabsolventinnen und -absolventen immer wieder darüber, dass sie einerseits besser über Dinge sprechen können, die vorher nicht zur Sprache kamen und dass sie andererseits besser in der Lage seien, Gespräche in der Hand zu behalten, so dass sie sich davor schützen, über ihre Kräfte hinaus in Anspruch genommen zu werden. Unsere Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer, die überwiegend erfahrene Hausarztkolleginnen und -kollegen sind, haben auch berichtet, dass sie sich durch den Besuch des Kurses wieder mit neuem Elan ihren Patientinnen und Patientin zugewandt haben [5]. Professionellere Kommunikation kann dazu führen, dass Patientinnen und Patienten «auspacken«, was sie an psychosozialen Problemen mit sich herumschleppen. Dann hilft die regelmässige Supervision in kleinen Gruppen, indem sie einen Rahmen bietet, innerhalb dessen sich Kolleginnen und Kollegen gegenseitig unterstützen können, wenn sie unter der Last überbordender psychosozialer Probleme Gefahr laufen, ihre wohlwollende Distanz zu verlieren und in der Not ihrer Patientinnen und Patienten unterzugehen.
Ein kritischer Punkt einer Fortbildung, die sich an erfahrene Kolleginnen und Kollegen richtet, ist das Ausmass an Theorie, das man den Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern zumutet. Die Richtlinien der SAPPM sehen vor, dass von den 360 Stunden, die man zum Erwerb des Fähigkeitsausweises (FAPPM) absolvieren muss, 120 Stunden theoretische Inhalte umfassen. Ein gewisses Mass an Theorie ist notwendig. Bei der Auswahl der theoretischen Inhalte lassen wir uns von der Überlegung leiten, dass sie Orientierung über den Einzelfall hinaus bieten. Das Ziel einer Auseinandersetzung mit theoretischen Modellen ist demnach die Fähigkeit, im konkreten Beispiel einer Patientengeschichte oder im eigenen Vorgehen das Typische zu erkennen und es aus unterschiedlichen Perspektiven ­betrachten zu können.
Diese Überlegungen sind sicher nicht erschöpfend, aber sie regen hoffentlich dazu an, noch einmal darüber nachzudenken, was das Besondere eines psychosomatischen Zugangs in der somatischen Medizin sein könnte, und sie geben Anregungen, wie eine entsprechende Fortbildung gestaltet werden könnte.
10. Weiterbildungskurs Psychosomatische und Psychosoziale Medizin FAPPM
Basler Institut für Psychosomatische Medizin
Prof. Wolf Langewitz, Universitätsspital Basel, Psychosomatik
KursangeboteTerminInhalt
Tageskurse24.10.2019Psychosomatische Grundhaltung
28.11.2019Das Ärztliche Gespräch I
16.1.2020Das Ärztliche Gespräch II
20.2.2020Motivational Interviewing
2.4.2020Das Psycho-Analytische Verständnis der ­Arzt-­Patient-Beziehung
14.5.2020Das Systemische Verständnis für Erkrankungen
25.6.2020Das Verhaltensmedizinische Verständnis von ­Erkrankungen
3.9.2020Supportive Psychotherapie und Rückblick auf Jahr 1
22.10.2020Somatoforme Störungen
3.12.2020Depression in der Allgemeinpraxis
28.1.2021Beratung von Menschen in unterschiedlichen ­Lebensphasen
18.3.2021Psychotraumatologie
29.4.2021Abwehr, Coping, Lebensqualität und partizip­atorische Entscheidungsfindung
10.6.20121Der chronische Schmerzpatient, Chronische ­Erkrankungen
19.8.2021Schwierige Arzt-Patient-Beziehungen Psycho­somatische Therapie versus Psychotherapie
30.9.2021Was ist Psychosomatische Medizin? Rückschau auf den Kurs
Supervision in KleingruppenTermine nach ­VereinbarungFallbesprechungen mit Video-Unterstützung
Entspannungs­verfahrenIm 2. JahrZwei Verfahren aus: Autogenes Training, PMR, Hypnose, Achtsamkeit
Kurskosten: CHF 7800 pro Jahr
Kursort: Basel Innenstadt
Anmeldung über das Sekretariat der SAPPM (Astrid Roos-Maeder, SAPPM (sekretariat[at]sappm.ch).
Dr. med. Alexander Minzer
Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM
Breitenstrasse 15
CH-4852 Rothrist
alexander.minzer[at]hin.ch
 1 Uexküll, Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin, 8. Auflage, Elsevier Verlag 2017; vor allem: Kapitel 27.2 Techniken der Patienten-zentrierten Kommunikation und Kapitel 66: Funktionelle Störungen, somatoforme Störungen.
 2 Leitfaden SAMW Kommunikation im medizinischen Alltag (www.samw.ch).
 4 Wolf Langewitz: Leib und Körper in der Psychotherapie, Psychotherapie im Dialog, 2016.
 5 Widmer D & Loeb P: «Was bringt der Fähigkeitsausweis SAPPM?« Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2018;18(22):405–7.