10 Jahre seit dem WONCA-­Europe-Kongress 2009 in Basel
16.–19. September 2009

10 Jahre seit dem WONCA-­Europe-Kongress 2009 in Basel

Aktuelles
Ausgabe
2019/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10126
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(09):268-270

Affiliations
a Präsident Organisationskomitee WONCA Europe Conference 2009; b Präsident Wissenschaftliches Komitee

Publiziert am 04.09.2019

Die Gründung des Berufsverbandes mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz war ein bedeutender standes- und gesundheitspolitischer Schritt für die Schweizer Hausarztmedizin. Die Integration in den wissenschaftlichen europäischen WONCA-Kongress stellte diesen Akt gewissermassen unter die Patenschaft der weltumspannenden Hausärztevereinigung WONCA.

Vor 10 Jahren, am 17. September 2019, wurde der standespolitische Berufsverband für Haus- und Kinder­ärzt/-innen mfe im Rahmen des europäischen WONCA-Kongresses in Basel gegründet. Die Gründungsfeier wurde bewusst in diese für die globale Hausarztmedizin wichtigste internationale wissenschaftliche Grossveranstaltung eingebettet. Wir wollen deshalb auch diesen aus nationaler und internationaler Sicht bedeutenden Kongress in Erinnerung rufen und auf die Bedeutung von WONCA für die Entwicklung der schweizerischen Hausarztmedizin hinweisen.

WONCA

World Organization of National Colleges, Academies and ­Academic Associations of General Practitioners/Family Phy­sicians. www.globalfamilydoctor.com, WONCA Europe: www.woncaeurope.org.

Der lange Weg der Emanzipation der Schweizer Hausarztmedizin

Die Gründung von mfe und der europäische WONCA-Kongress in Basel sind zwei bedeutende und nach­haltige Ereignisse. Beide sind Kulminationspunkte der fachlich-wissenschaftlichen und berufspolitischen Emanzipation der Schweizer Hausarztmedizin. Dieser Prozess begann in den 1960er Jahren, verlief in gegenseitiger Beeinflussung und war eingebettet in die Entwicklung des Schweizer Gesundheitswesens.
Die Hausarztmedizin war im Verlauf des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer rasanten medizinisch-technischen Entwicklung und wachsender Spezialisierung immer weiter an den Rand gedrängt worden. Unter diesen Umständen stiegen die Kosten des Gesundheitswesens in schwindelerregende Höhen. In diesem Spannungsfeld wurde der Wert der Hausarztmedizin von der Politik neu entdeckt – anfänglich aber nur sehr zögerlich. Mit ihrem breiten Wissen und der Nähe zu den Patientinnen und Patienten schien sie geeignet zu sein als steuernde und koordinierende Instanz sowie zur Stabilisierung des Gesundheitssystems.
Die Hausarztmedizin, die im Gegensatz zu den Spezialdisziplinen nicht (mehr) wissenschaftlich in der Universität verankert war, musste ihre abhandengekommene Anerkennung als gleichberechtigte Fachdisziplin und ihren Platz in der Universität hart erkämpfen. Es wurde ein rund 50 Jahre dauernder, oft steiniger Marsch zur fachlichen und politischen Emanzipation der Schweizer Hausarztmedizin. Den Grossteil des ­Weges ging sie in enger Verknüpfung mit den wissenschaftlichen und politischen Hausarztgesellschaften Europas und der Welt.
Wir möchten einige bedeutende Stationen auf diesem Weg stichwortartig in Erinnerung rufen. Den Älteren unter uns ist vieles bestens bekannt, weil sie es ­per­sönlich miterlebt und auch mitgeprägt haben. Den jüngeren Kolleg/-innen zeigt die Aufzählung im ­Kasten auf der folgenden Seite, dass die Situation, in der wir heute leben, historisch noch jung ist, durchaus noch als fragil betrachtet werden muss und weiterhin eines sorgsamen weiteren Ausbaus bedarf.

Bedeutung der europäischen Definition der Allgemeinmedizin/Hausarztmedizin

Die seit den 1990er Jahren bestehende Zusammen­arbeit mit WONCA und den mit ihr assoziierten Netzwerken EQuiP (Qualität), EURACT (Lehre) und EGPRN (Forschung) hatte der Schweizer Hausarztmedizin viele wichtige und wertvolle Inputs gebracht. Die europäische Definition der Hausarztmedizin hat aber einen regelrechten Entwicklungsschub im Emanzipationsprozess der Schweizer Hausarztmedizin ausgelöst. Die Definition hat den wissenschaftlichen Stellenwert der Hausarztmedizin nach innen und aussen verankert. Mit ihren fachspezifischen Agenden für Praxis, Lehre und Forschung hat sie die Bedeutung der Hausarzt­medizin für den individuellen Patienten und ihren gesellschaftlichen Stellenwert für ein gerechtes, zugängliches und bezahlbares Gesundheitswesen festgelegt. Unter den Prämissen der europäischen Definition haben sich das Selbstverständnis der Hausarztmedizin und das Selbstbewusstsein der Hausärzt/-innen global gefestigt. Der internationale Rückhalt hat der Schweizer Hausarztmedizin Bedeutung, Kraft und Schub ­verliehen. Diese Emanzipation führte letztlich auch zum Mut, den europäischen WONCA-Kongress in die Schweiz zu holen.
Die Allgemeinmedizin ist eine akademische und wissenschaftliche Disziplin mit eigenen Lehrinhalten, ­eigener Forschung, eigener Nachweisbasis (Evidenz) und eigener klinischer Tätigkeit; als klinisches Spe­zialgebiet ist sie auf die Primärversorgung ausge­richtet. Der WONCA-Baum. © 2004/2011 Schweizer Kollegium für Hausarztmedizin / U. Grüninger, www.kollegium.ch

Kulmination am europäischen ­WONCA-Kongress in Basel

Die Organisation des WONCA-Kongresses in Basel und die Gründung von mfe wurden sozusagen zu einem wissenschaftlichen, standes- und gesundheitspolitischen Kulminationspunkt. Es ist eine Freude, in diesem Jahr das 10-jährige Jubiläum beider Ereignisse zu ­feiern. Es kann mit gutem Recht gesagt werden, dass es ohne die Motivation, den Einfluss und die Unter­stützung von WONCA Europe/World keine solche entscheidende Entwicklung der Hausarztmedizin in der Schweiz gegeben hätte.

Wünsche für die Zukunft

Als Wunsch für die Zukunft der Schweizer Hausarztmedizin sowie ein weiterhin fruchtbares Zusammen­gehen von Wissenschaft und Politik möge die Grussbotschaft von Igor Švab von 2009 gelten. Als damaliger Präsident von WONCA Europe gab er mfe und der Schweizer Hausarztmedizin folgende eindrücklichen Worte auf den Weg:
“WONCA Europe is the largest and most prosperous region of family doctors in the world, where family medicine is being recognized as the key discipline in the health care system. It is our job to make the word of family medicine heard and appreciated. When we do that, it is important not only that we defend the values of our profession, but that we work together with each other in a productive way. Family medicine should speak in one voice, because that makes us stronger. There are a lot of differences within Europe, but also within the countries themselves. Sometimes we have several different organisations, all sharing the principles of family medicine, but not working together and sometimes even fighting each other. This is a recipe for disaster.
In this respect the decision to join the three organisations in Switzerland into one organisation of all Swiss family doctors is certainly a very good one. The new organisation will certainly have a lot to discuss, and there will ­certainly be problems among you. But this is like in a marriage: you join together in order to lead a better life, although you sometimes need to make compromises.
As the WONCA Europe president I am very pleased to welcome the new association of Swiss family doctors into our family and I wish you a prosperous future.”
Unser Wunsch ist, dass das WONCA-Feuer in der Schweizerischen Hausarztmedizin weiterbrennt und alle, die praktizierenden Hausärztinnen und Hausärzte, die universitären Institute für Hausarztmedizin und die politischen Instanzen, weiter befruchtet. WONCA Europe/World hat uns im Aufbau, in der Entwicklung der Hausarztmedizin viele Türen geöffnet, entscheidende Impulse und starken Rückhalt gegeben.
Lasst uns diese europäischen/internationalen Kontakte weiter pflegen!

Die Schweizer Hausarztmedizin in ­Stichworten

– 1932 Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin SGIM
– 1966 Facharzttitel für Allgemeinmedizin
– 1977 Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin SGAM
– 1980er und 1990er Jahre; internationale Verknüpfungen:
• Beitritt der SGAM zur Société Internationale de Médecine Générale (SIMG)
• 1995 Beitritt der SGAM zur European Society of General Practice/­Family Medicine (ESGP/FM) – WONCA Region ­Europe
• Kontinuierliche Zusammenarbeit mit der European Working Party on Quality in Family Practice (EQuiP), European Academy of Teachers in General Practice (EURACT), European General Practice Research Workshop/Network (EGPRW/EGPRN)
– 1983–1997 Installation von fakultären Instanzen für Allgemeinmedizin an allen fünf Medizinischen ­Fakultäten (Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich)
– 1994 Gründung des Kollegiums für Hausarztmedizin KHM von SGAM und SGIM, der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie SGP, den fünf medizinischen Fakultäten und der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW
– Einführung der Praxisassistenz
– 1996 neues Krankenversicherungsgesetz (KVG): Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit, Qualität, Solidarität
– 1990er Jahre
• Qualitätssicherung/-förderung/-entwicklung
• Evidenzbasierte Medizin (EBM)
• Guidelines
• Fortbildungsobligatorium und Nachweispflicht, Credits, neue Fortbildungsordnung FMH und neues Fortbildungsprogramm SGAM: von Hausärzt/-innen für Hausärzt/-innen, SGAM-Qualitäts­label
• Qualitätszirkel, eingeführt aus EQuiP, als Fortbildung ­unter Peers
• Hausarztversicherungsmodelle, Managed Care
• Beginn von hausarztspezifischer Forschung: Groupe de Recherche Clinique en Ambulatoire (GRCA), Forschung in der Hausarztmedizin (FoHAM)
– 2000 Gründung PrimaryCare als Zeitschrift der SGAM für Hausarztmedizin
• 2016 Umbenennung in Primary and Hospital Care – Die Zeitschrift für Allgemeine ­Innere Medizin in Hausarzt­praxis und Spital
– 2002 «Europäische Definition der Allgemeinmedizin/Hausarztmedizin» 20021 von WONCA Europe
• Einbau der definierten hausärztlichen Kernkompetenzen in das Weiter- und Fortbildungsprogramm der SGAM
– 2003 «Braucht es den Hausarzt noch?» – Frage des damaligen Dekans der Medizinischen Fakultät der Universität Bern
– 2004 TARMED
– 2005–2014 Gründung der Institute für Hausarzt­medizin an allen fünf Schweizer Universitäten (Basel, Bern, Genf, Lausanne, Zürich)
• 2007–2016 Professuren für Hausarztmedizin an allen fünf Schweizer Universitäten
• Hausarztcurricula in der Ausbildung/Lehre
• Hausarztspezifische Forschung stark zunehmend
• Ausbau Praxisassistenz
– 2005 Entscheid der SGAM zur Bewerbung als Durchführungsort des europäischen WONCA-Kongresses 2009
– 2006 erste Hausärztedemonstration in Bern
– 2006 Gründung Junge Hausärztinnen und -ärzte Schweiz (JHaS)
– 2009 zweite Hausärztedemonstration in Bern
• 1. April als Tag der Hausarztmedizin
– 2009 WONCA Europe Conference in Basel (16.–19. September)
– 2009 Gründung des Berufsverbandes mfe Haus- und Kinder­ärzte Schweiz (17. September)
• Standespolitischer Zusammenschluss von SGIM, SGAM und SGP
• «One structure, one voice»
• Zusammenlegung der zuvor getrennten, oft kontroversen und manchmal sich gegenseitig schwächenden Positionen; gemeinsame Strategie und gemeinsamer Auftritt in der Gesundheitspolitik
• Lancierung Volksinitiative «JA zur Hausarztmedizin»
– 2014 Verankerung der Hausarztmedizin in der Bundesverfassung (Art 117a. Medizinische Grundver­sorgung) als zentrales Element der medizinischen Grundversorgung – Ab­stimmung «JA zur Hausarztmedizin» (18. Mai) mit 88% Ja-Stimmen (knapp 2,5 Mio. JA-Stimmen)
– 2015 Neuer Facharzttitel und neue Fachgesellschaft für ­Allgemeine Innere Medizin (AIM / SGAIM) unter Zusammen­legung der Facharzttitel und Fachgesellschaften für All­gemeinmedizin SGAM und Innere Medizin SGIM (17. Dezember).
1 https://www.woncaeurope.org/gp-definitions – die Definition wurde nach 2002 wiederholt geringgradig weiterent­wickelt, die aktuelle Version stammt von 2011.
Dr. med. Bruno Kissling
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH
CH-3005 Bern
bruno.kissling[at]live.com