Folge 4: Gefahr durch bittere ­Aprikosenkerne und Bittermandeln
Tox Info Suisse: Über 50 Jahre Beratung bei Vergiftungen

Folge 4: Gefahr durch bittere ­Aprikosenkerne und Bittermandeln

Fortbildung
Ausgabe
2019/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10127
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(09):285-286

Affiliations
Tox Info Suisse, Assoziiertes Institut der Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 04.09.2019

Bittere Aprikosenkerne und Bittermandeln werden über das Internet und im Detailhandel als Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel verkauft. Diese enthalten Amygdalin, ein cyanogenes Glykosid, das während des Verdauungsprozesses Cyanid (Blausäure) abspaltet.

Bittere Aprikosenkerne und Bittermandeln werden über das Internet und im Detailhandel als Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel verkauft. Diese enthalten Amygdalin, ein cyanogenes Glykosid, das während des Verdauungsprozesses Cyanid (Blausäure) abspaltet [1].
Bittere Aprikosenkerne werden vor allem zur alter­nativen Krebsbehandlung angepriesen, jedoch ist dieser Einsatz in keiner Weise wissenschaftlich belegt, und Amygdalin ist als toxische Substanz ohne Effekte bei der Krebstherapie einzustufen. Amygdalin wird, ebenso wie das halbsynthetische cyanogene Glycosid «Laetril», auch mit dem irreführenden Phantasienamen «Vitamin B17» bezeichnet [2]. Diese «Laetril»-­Präparate sind in der Schweiz nicht zugelassen, aber über das Internet erhältlich.
Verbrauchern wird dringend geraten, pro Tag höchstens ein bis zwei bittere Aprikosenkerne zu essen, und Kinder sollen ganz verzichten [3]. Oft fehlen diese Angaben und Warnhinweise auf Produkten, die über das Internet eingekauft werden.

Gesundheitsgefährdung und ­Symptomatik

Geringe Mengen Cyanid können durch Metabolisierung mittels des Enzyms Rhodanase (v.a. in der Leber und Muskulatur vorhanden) zu Thiocyanat entgiftet werden, das renal eliminiert wird. Dadurch kann eine Intoxikation verhindert werden.
Bei übermässigem Verzehr der Kerne kann das in grösseren Mengen freigesetzte Cyanid jedoch als Mitochondriengift unter anderem wichtige Enzyme der Zellatmung blockieren. Folgen sind die Akkumulation von H+-Ionen durch den Ausfall der aeroben Energie­gewinnung und damit eine metabolische Azidose mit erhöhter Anionenlücke und Umstellung auf anaerobe Energiegewinnung mit Laktatanstieg.
Eine schwere Cyanid-Intoxikation kann durch den Verzehr von etwa 30 Aprikosenkernen bei einem Erwachsenen oder ca. 5 Kerne bei einem Kind hervorgerufen werden. Lebensgefährliche Vergiftungen sind bei Bittermandeln nach Einnahme von ca. 50 Bittermandeln bei Erwachsenen oder 10 Bittermandeln beim Kind möglich [1, 4, 5]. Auch in der Veterinärtoxikologie können cyanogene Glykoside in Futtermitteln relevant sein [6].
Die Cyanid-Intoxikation manifestiert sich innert 15 Minuten bis zu 3 Stunden nach Verzehr [5]. Zentralnervöse und kardiovaskuläre Symptome stehen dabei im Vordergrund. Mögliche Symptome sind: Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Tachykardie sowie Dyspnoe. Bei schweren Verläufen kann es zu Koma, Krampfanfällen sowie Hypotonie, ventrikulären Arrhythmien, Blockbilder, Bradykardie und Asystolie kommen. Typisch ist die metabolische Azidose mit erhöhter Anionenlücke und erhöhten Laktatwerten [1]. Ein normales Laktat hingegen schliesst eine relevante Cyanid-Intoxikation aus.

Vorgehen bei schwerer Intoxikation

Schwere Intoxikationen mit diesen Fruchtkernen sind glücklicherweise selten und wurden bis anhin auch noch nie bei Tox Info Suisse registriert. Meist ist eine supportive Therapie bei symptomatischen Patient/-innen ausreichend [1]. Besondere Vorsicht hingegen ist bei Überdosierungen von Laetril («Vitamin B17») geboten, aufgrund eines hohen und variablen Amygdalingehalts pro Kapsel [7].
Die Massnahmen entsprechen derjenigen der Cyanid-Intoxikation [8]
– Dekontamination: Gabe von Aktivkohle (1 g/kg Körpergewicht) in der Frühphase;
– Sauerstoffzufuhr (wenn möglich 100% O2);
– Supportive und symptomatische Therapie wie Kreislaufstabilisierung und Azidosekorrektur;
– Antidotale Behandlung mit Natriumthiosulfat und/oder Hydroxocobalamin nur bei schweren Verläufen – Rücksprache mit Tox Info Suisse empfohlen.

Tox Info Suisse entwarnt

Aprikosenkerne, die als «Süsse Aprikosenkerne» vermarktet werden, enthalten einen erheblich geringeren Anteil an cyanogenen Glycosiden. Entsprechend liegt der Gehalt an freisetzbarem Cyanid deutlich tiefer. Dies gilt auch für Bittermandelöl. Unbedenklich sind normale Mandeln und Bittermandelaromen sowie Marzipan und Persipan [9].
Abbildung 1: Wie bei Mandeln gibt es süsse und bittere Aprikosenkerne.

Hinweis

Diese Serie erfolgt in Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden des Tox Info Suisse, die für Primary and Hospital Care ausgewählte Texte aus den «Giftinfos», die regelmässig auf der Website des Tox Info Suisse unter https://toxinfo.ch/giftinfos_de publiziert werden, aufbereiten. Für diese Zusammenarbeit möchte sich die Redaktion des PHC ganz herzlich bedanken!
Dr. med. Katharina E. Hofer
Tox Info Suisse
Freiestrasse 16
CH-8032 Zürich
Katharina.Hofer[at]
toxinfo.ch
1 Barceloux DG. Cyanogenic foods (cassava, fruit kernels, and cycad seeds). Disease-a-month: DM.2009;55:336–52.
2 Milazzo S, Horneber M. Laetrile treatment for cancer. Cochrane Database Syst Rev. 2015;4(XXX):CD005476.
3 BfR – Bundesinstitut für Risikobewertung. Zwei bittere Aprikosenkerne pro Tag sind für Erwachsene das Limit – Kinder sollten darauf verzichten. Aktualisierte Stellungnahme Nr. 009/2015 des BfR vom 7. April 2015. https://mobil.bfr.bund.de/cm/343.
4 Suchard JR, Wallace KL, Gerkin RD. Acute cyanide toxicity caused by apricot kernel ingestion. Ann Emerg Med.1998;32:742–4.
5 Akyildiz BN, Kurtoglu S, Kondolot M, Tunç A. Cyanide poisoning caused by ingestion of apricot seeds. Ann Trop Paediatr. 2010;30:39–43.
6 Kupper J, Schuman M, Wennig R, Gorber U, Mittelholzer A, Artho R, Meyer S, Kupferschmidt H, Naegeli H. Cyanide poisoning associated with the feeding of apricot kernels to dairy cattle. Vet. Rec. 2008;162:488–9.
7 Arnold TC, Hollowell CE, Ryan ML. Just When You Thought It Was Safe. A Death from Laetrile. Clin Toxicol (Phila). 2006;44:697 [Abstract]
9 Neue Daten aus BfR-Humanstudie: Kein Cyanid-Risiko bei Verzehr von Marzipan und Persipan Mitteilung Nr. 006/2015 des BfR vom 3. März 2015 bzw «Archives of Toxicology» veröffentlicht (DOI 10.1007/s00204-015-1479-8, open access.