Update Mangelernährung
Was haben unsere Darmbakterien damit zu tun?

Update Mangelernährung

Fortbildung
Ausgabe
2019/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10133
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(10):320-323

Affiliations
a Kantonsspital Aarau; b University Hospital Geneva; c Kantonsspital St. Gallen

Publiziert am 02.10.2019

Die Mangelernährung ist häufig und ein zunehmendes Problem der wachsenden polymorbiden, älteren Bevölkerung. Im Folgenden möchten wir einige Punkte bezüglich dem Thema Mangelernährung diskutieren und auf eine spezielle Form – das Kurzdarmsyndrom – eingehen. Wir möchten ebenfalls neue spannende Konzepte zur Rolle des Mikrobioms in der Mangelernährung kurz vorstellen.

Einige Grundsätze der Mangelernährung

Bis zu 30% der Patient/-innen im stationären Setting weisen ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung auf [1], weshalb die Malnutrition zu einem bedeutenden Thema im stationären Setting geworden ist. Besonders betroffen sind polymorbide Patient/-innen, die durch ihre Immobilisation und den chronischen Krankheitsverlauf häufig prädisponiert sind.

Was sind die pathophysiologischen Ursachen der Mangelernährung?

Die Vorgänge, die zu einer Mangelernährung führen, sind komplex und beinhalten verschiedene physio­logische und pathologische Mechanismen. Diese können bei längerdauernder, chronischer Krankheit kumulieren. Appetitminderung ist eine physiologische Adaptation bei schwerer Krankheit und führt zu ­verminderter Aufnahme von Nahrungsmitteln. Im Zusammenspiel mit Immobilisation, vermehrter Inflammation und einer hormonellen Dysregulation entsteht eine progrediente Sarkopenie mit Verschlechterung der Muskelfunktion. Die Inflammation, die über vielseitige Mechanismen zu Muskel­abbau und ­somit zur Kachexie als Leitsymptom der Malnutrition führt, spielt dabei eine zentrale Rolle. Es wird ver­mutet, dass ein Ungleichgewicht an anti- und proinflammatorischen Zytokinen zu verminderter Pro­teinsynthese und somit zum Muskelabbau führt. Diese Wechselwirkung ist bi-direktional. Die Mangel­ernährung hat wiederum einen direkten Effekt auf die Entzündungsreaktion im Körper, wobei sich dadurch ein Teufelskreis aufrechterhält [2]. Die anabole und somit Muskelaufbau-stimulierende Wirkung verschie­dener Hormone wie Testosteron und Wachstums­hormone ist im Rahmen schwerer Erkrankungen erniedrigt. Dafür wird Cortisol als Stresshormon in ­erhöhtem Masse gebildet, was katabol auf den Muskel wirkt.

Was bedeutet Malnutrition für Patient/-innen?

Mangelernährung ist mit einem schlechten Outcome (längere Spitalaufenthaltsdauer, erhöhte Rehospitalisationsrate, tiefere Lebensqualität) und mit einem höheren Risiko für Infektionen und Mortalität assoziiert [1, 3–5]. Eine Mangelernährung zu verhindern oder bestmöglich zu behandeln ist deshalb von zentraler Wichtigkeit.
Der Einsatz von Ernährungstherapie scheint intuitiv richtig zu sein. Jedoch gibt es aus pathophysiologischer Sicht verschiedenen Hinweise, dass eine zu schnelle Korrektur mit zuviel an Ernährung in der akuten Krankheitsphase auch schädlich sein kann («over­feeding»).
Eine Expertengruppe hat 2016 einen Ernährungsalgorithmus entwickelt, der im klinischen Setting angewendet werden kann und vor allem auf physiologischen Überlegungen beruht (Abb. 1) [6].
Abbildung 1: Adaptierter Algorithmus nach Konsensus der Expertengruppe [6]. ­Reprinted from Bounoure L, et al. Detection and treatment of medical inpatients with or at-risk of malnutrition: Suggested procedures based on validated guidelines. ­Nutrition. 2016;32(7-8):790–8., with permission from Elsevier.
Zunächst gilt es, Risikopatient/-innen zu identifizieren. Ein mögliches Screening Tool ist der Nutritional Risk Score (NRS 2002; www.ksa.ch/sites/default/files/cms/edm/pocketguide/appendix/14_nutritional_risk_score_n_kondrup.pdf), der das Alter des Patienten, den Er­nährungszustand und die Schwere der Krankheit miteinbezieht. Bei erhöhtem Score besteht ein Risiko für Mangelernährung. Im interdisziplinären Team wird die Notwendigkeit einer individuellen Ernährungstherapie besprochen. Danach wird die Ernährungstherapie gemäss dem Algorithmus je nach Erfolg gegebenenfalls stufenweise eskaliert. Die individuellen Behandlungsziele werden entsprechend dem Schweregrad der Erkrankung definiert.
Die Mangelernährung ist häufig das Resultat verschiedener Faktoren, die bei chronisch kranken Patient/-innen zusammen kommen. Es gibt aber auch spe­zifische Krankheitsbilder, die zu einer Resorptions­störung im Darm und – wenn nicht richtig therapiert – zu einer Mangelernährung führen können, wie zum Beispiel das Kurzdarmsyndrom.

Das Kurzdarmsyndrom – ein spezifisches Beispiel der Malnutrition

Das Kurzdarmsyndrom bezeichnet eine Form des Darmversagens, die durch eine relevante Darmver­kürzung (z.B. postoperativ) zustande kommen kann. Darmversagen wird laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) definiert als die Un­fähigkeit, aufgrund einer eingeschränkten resorptiven Kapazität des Darms, die Protein-, Energie- Flüssigkeits- und Mikronährstoffbilanz aufrechtzuerhalten. Für das Ausmass des Darmversagens sowie für die entsprechende Therapieplanung ist zentral, wie viel Restdarm noch funktionstüchtig ist.
Beim Menschen erfolgt die Resorption von Nährstoffen und Vitaminen fast ausschliesslich im Dünndarm (2/3 Jejunum, 1/3 Ileum), im Dickdarm wird vor allem dem dort noch sehr flüssigen Stuhl das Wasser entzogen. Nach chirurgischer Resektion oder funktionellem Verlust des Dünndarms (z.B. durch Tumor oder Darm­ischämie) entsteht so ein Mangel an Nährstoffen und es kommt zur Dehydratation – zwei potentiell tödliche Komplikationen. Zudem können unter anderem chologene Diarrhoen, Fettstühle mit Verlust der fettlöslichen Vit­amine, Nierensteine und Osteoporose auftreten. Die Länge des verbleibenden Dünndarms nach Operation erlaubt Rückschlüsse auf die nötige Ernährungstherapie. Bei einem Restdünndarm von <1 m ist der Patient meist von parenteraler Ernährung und Salzlösungen abhängig. Besteht ein Restdünndarm >1 m und ist das Kolon in seiner Konti­nuität erhalten, benötigt der Patient meist keine längerfristige parenterale Ernährungs­therapie.
Bei Patient/-innen mit Kurzdarmsyndrom und Stoma ist in der initialen Krankheitsphase oft ein hoher Flüssigkeitsverlust zu verzeichnen. In dieser Situation ist die parenterale Ernährung meist unumgänglich, da kaum Nährstoffe resorbiert werden können. Wenn sich der hohe Output über Wochen reduziert, kann überlappend langsam mit der oralen Ernährung begonnen werden. Dies ist essenziell zum Erhalt der ­Mukosa und Verbesserung der Resorptionsfähigkeit, da es ohne Stimulation durch orale Ernährung zur Zottenatrophie kommt. Ein zentraler Punkt der Substitution ist die ­Rehydratation und der Elektrolytersatz. Wichtig zu wissen ist, dass die Glukoseaufnahme im Darm an ­Natrium gekoppelt ist. Ausserdem ist wichtig, bei Fettresorptionsstörungen mittelkettige Fettsäuren einzusetzen, um die Resorption zu verbessern und Fettstühle zu vermindern. Zusätzlich zu diesen Er­nährungsempfehlungen können verschiedene Medikamente eingesetzt werden, welche die Darmmotilität und Sekretion reduzieren (antisekretorisch: Protonenpumpeninhibitoren, Somatostatin-Analoga; Antimo­tilika: Loperamid, Opiumtinktur). Ebenfalls kann eine Substitution von Pankreasenzymen sowie Cholestyramin zur Bindung von Gallensalzen eine wichtige Rolle spielen. Neuere Daten gibt es zum Einsatz von Tedu­glutid, einem GLP-2 Analogon, das den Aufbau der Darmzotten fördert und somit die Resorptionsfähigkeit verbessert [7]. Diese relativ teure Therapie kann die Notwendigkeit der parenteralen Therapie reduzieren und erlaubt somit «parenterale-Ernährung»-freie Tage.

Ausblick: Die Rolle des Mikrobioms und Stuhltransplantationen als ­Therapieoption?

Unser gesamtes Mikrobiom macht ca. 1 kg des Körpergewichtes aus und befindet sich im ganzen Darm, ­vornehmlich im Dickdarm. Wir besitzen etwa so viele Bakterien in unserem Darm wie unser Körper Zellen besitzt [8]. Somit ist es nicht verwunderlich, dass diese eine grosser Rolle bei unserer Ernährung spielen. Während die Rolle des Mikrobioms bei der Adipositas bereits gut untersucht wurde, gibt es nun auch spannende neue Erkenntnisse für die Mangelernährung.
Im Bereich der Agrarwissenschaften werden Pro- und Antibiotika bereits seit Jahrzenten zur Optimierung des Wachstums von Nutztieren verwendet. Eine Studie von Smith et al. [9] untersuchte die Gewichtsentwicklung von Mäusen, die Stuhltransplantationen von mangelernährten malawischen Zwillingen erhielten im Vergleich zu Mäusen, die Stuhl der jeweils norm­gewichtigen Zwillingspartner bekamen. Es zeigte sich, dass unter derselben Ernährung diejenigen Mäuse eine Malnutrition entwickelten, welche die Faeces des jeweils unter­ernährten Zwillings erhielten. Die Kon­trollgruppe mit den Faeces des normgewichten Zwillings entwickelten keine Malnutrition.
Blanton et al. [10] erkannten zudem, dass bei mangel­ernährten Mäusen durch die Zugabe von fünf Bakte­rienstämmen eine Zunahme der Muskelmasse und des Gewichts erzielt werden konnte. Hieraus lässt sich ableiten, dass Veränderungen in der Zusammensetzung unserer Darmbakterien einen entscheidenden Einfluss auf unseren Ernährungszustand haben.
Studien am Menschen haben entsprechend gezeigt, dass bei normalgewichtigen Patient/-innen im Vergleich zu adipösen und anorektischen Patient/-innen eine veränderte Zusammensetzung und Diversität der Darmbakterien besteht [11–15].

Konnte die Verwendung von Pro- und Antibiotika also auch die menschliche Ernährungslage verbessern?

Dies wollten verschiedene kontrollierte randomisierte Studien in Kindern zeigen [16–18]. Die Resultate waren widersprüchlich, und es konnte abschlies­send kein Effekt durch Verwendung von Antibiotika zur ­Gewichtszunahme erkannt werden. Auch die Verwendung von Synbiotic 2000 Forte (eine Zusammensetzung aus Bakterien und bakterienwachstumsfördernden Prebiotika) zur Ernährungstherapie zeigte keinen Effekt [19].

Wie sieht es jedoch mit der bereits im Maus­modell erfolgreichen Stuhltransplantation aus?

Die Evidenz der Stuhltransplantation bei rezidivierenden Clostridien-Infekten sowie zur Therapie des Morbus Crohn konnte durch diverse Studien gezeigt werden [20–22]. Dabei kam es durch die Therapie der Grund­erkrankung konsekutiv auch zur Verbesserung der Mangelernährung und zur Gewichtszunahme.
Betreffend Therapie der Malnutrition bei anderen Krankheitsbildern fehlen bisher klinische Daten.
Auch wenn die Studienlage bis dato nicht eindeutig ist, so spielt das Mikrobiom mit Sicherheit eine bedeutende Rolle für unseren Ernährungszustand. Wie genau diese Tatsache in Zukunft therapeutisch genutzt werden kann, wird sich hoffentlich in kommenden Studien zeigen – Wir sind gespannt!

Fazit für die Praxis

• Viele Patient/-innen im klinischen Setting haben ein erhöhtes Risiko für Mangel­ernährung. Ein systematisches Screening ist wichtig, um diese Patient/-innen zu identifizieren.
• Es sollte nach behandelbaren Ursachen gesucht werden und, wenn sinnvoll, eine Ernährungstherapie etabliert werden. Ein Therapiealgorithmus kann dabei hilfreich sein.
• Bei spezifischen Störungen im Darm, zum Beispiel dem Kurzdarm­syndrom, ist das pathophysiologische Verständnis wichtig, um richtige therapeutische Schritte einzuleiten. Dabei ist die verbliebene Darmlänge prognostisch von grösster Bedeutung.
• Neue Daten bei Tieren und auch Menschen zeigen, dass das Mikrobiom wahrscheinlich eine Rolle bei der Mangelernährung spielt. Die Veränderung des Mikrobioms durch gezielte Stuhltransplantationen sowie die Verwendung von Pro- und Antibiotika sind dabei ein interessanter möglicher neuer Therapieansatz.
Prof. Dr. med. Philipp Schütz
Chefarzt Allgemeine Innere und Notfallmedizin
Kantonsspital Aarau AG
Tellstrasse 25
CH-5001 Aarau
philipp.schuetz[at]ksa.ch
 1 Felder S, et al. Association of nutritional risk and adverse medical outcomes across different medical inpatient populations. Nutrition. 2015;31(11-12):1385–93.
 2 Felder S, et al. Unraveling the Link between Malnutrition and -Adverse Clinical Outcomes: Association of Acute and Chronic -Malnutrition Measures with Blood Biomarkers from Different -Pathophysiological States. Ann Nutr Metab. 2016;68(3):164–72.
 3 Villet S, et al. Negative impact of hypocaloric feeding and energy balance on clinical outcome in ICU patients. Clin Nutr. 2005;24(4):502–9.
 4 Casaer MP, et al. Early versus late parenteral nutrition in critically ill adults. N Engl J Med. 2011;365(6):506–17.
 5 Lim SL, et al. Malnutrition and its impact on cost of hospitalization, length of stay, readmission and 3-year mortality. Clin Nutr. 2012;31(3):345–50.
 6 Bounoure L, et al. Detection and treatment of medical inpatients with or at-risk of malnutrition: Suggested procedures based on -validated guidelines. Nutrition. 2016;32(7-8):790–8.
 7 Matarese LE. Nutrition and fluid optimization for patients with short bowel syndrome. JPEN J Parenter Enteral Nutr. 2013;37(2):161–70.
 8 Sender R, Fuchs S, Milo R. Are We Really Vastly Outnumbered? Revisiting the Ratio of Bacterial to Host Cells in Humans. Cell. 2016;164(3):337–40.
 9 Smith MI, et al. Gut microbiomes of Malawian twin pairs discordant for kwashiorkor. Science. 2013;339(6119):548–54.
10 Blanton LV, et al. Gut bacteria that prevent growth impairments transmitted by microbiota from malnourished children. Science. 2016;351(6275).
11 Genton L, Cani PD, Schrenzel J. Alterations of gut barrier and gut microbiota in food restriction, food deprivation and protein-energy wasting. Clin Nutr. 2015;34(3):341–9.
12 Tremaroli V, Kovatcheva-Datchary P, Backhed F. A role for the gut microbiota in energy harvesting? Gut. 2010;59(12):1589–90.
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14 Turnbaugh PJ, et al. An obesity-associated gut microbiome with -increased capacity for energy harvest. Nature. 2006;444(7122):1027–31.
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18 Isanaka S, et al. Routine Amoxicillin for Uncomplicated Severe Acute Malnutrition in Children. N Engl J Med. 2016;374(5):444–53.
19 Kerac M, et al. Probiotics and prebiotics for severe acute malnutrition (PRONUT study): a double-blind efficacy randomised controlled trial in Malawi. Lancet. 2009;374(9684):136–44.
20 Cui B, et al. Fecal microbiota transplantation through mid-gut for refractory Crohn’s disease: safety, feasibility, and efficacy trial results. J Gastroenterol Hepatol. 2015;30(1):51–8.
21 Ehlermann P, Dosch AO, Katus HA. Donor fecal transfer for recurrent Clostridium difficile-associated diarrhea in heart transplantation. J Heart Lung Transplant. 2014;33(5):551–3.
22 Alang N, Kelly CR. Weight gain after fecal microbiota transplantation. Open Forum Infect Dis. 2015;2(1):ofv004