Zigarettenstummel oder ­ungerauchte Zigaretten – wie ­gefährlich für Kleinkinder?
Tox Info Suisse: Über 50 Jahre Beratung bei Vergiftungen – Folge 6

Zigarettenstummel oder ­ungerauchte Zigaretten – wie ­gefährlich für Kleinkinder?

Fortbildung
Ausgabe
2019/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10153
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(11):356-357

Affiliations
Tox Info Suisse, Assoziiertes Institut der Universität Zürich, Zürich

Publiziert am 06.11.2019

Tox Info Suisse registriert pro Jahr rund 300 telefonische Anfragen zu akzidentellen Einnahmen von Zigarettenstummeln oder ungerauchten Zigaretten durch Kinder.

Die Nikotinvergiftung durch akzidentelle Ingestion von Zigaretten oder Zigarettenstummeln ist eine häufige Intoxikation im Kindesalter; in der Regel verläuft sie harmlos [1].
Tox Info Suisse registriert pro Jahr rund 300 telefonische Anfragen zu akzidentellen Einnahmen von Zigarettenstummeln oder ungerauchten Zigaretten durch Kinder. Meist sind Kleinkinder (<3 Jahre) betroffen mit häufig mehr Unfällen in den Sommermonaten. Dies mag damit zusammenhängen, dass in öffentlichen Anlagen Zigarettenstummel oft nicht in Aschenbechern, sondern achtlos auf dem Rasen oder Spielplatz, deponiert werden und somit für Kleinkinder, die Dinge gern mit dem Mund erkunden, einfach zugänglich sind [2].
Eine ungerauchte Zigarette enthält etwa 8–20 mg Nikotin: Eine Nikotinmenge, die bei Kleinkindern zu schweren Symptomen führen kann [3]. Oral zugeführter ­Zigarettentabak ist jedoch weit weniger toxisch als die enthaltene Nikotinmenge. Zigarettentabak ist natürlicherweise sauer, und im sauren Milieu des Magens liegt Nikotin vermehrt in ionisierter Form vor, die schlecht resorbiert wird [4]. Spontanes Erbrechen limitiert weiter die Nikotinaufnahme.
Gemäss der 172 ärztlichen Rückmeldungen zum Verlauf einer Zigaretteningestion durch Kleinkinder (<6 Jahre), die Tox Info Suisse im Zeitraum von 2009–2018 erhielt, verliefen über die Hälfte der Fälle ohne Symptome (n = 102, 59%), bei 64 Kindern (37%) traten leichte gastrointestinale Symptome auf und in sechs Fällen (4%) kam es zu mittelschweren Symptomen (mehrfaches Erbrechen, Agitation). Es wurden in dieser Serie keine schweren oder gar tödlichen Verläufe registriert.
Die Erfahrungen von Tox Info Suisse decken sich auch mit denjenigen ausländischer Vergiftungszentren. In einer amerikanischen Studie zu Zigaretteningestion bei Kleinkindern (<6 Jahre, n = 9194) blieben 66% asymptomatisch, 33% zeigten einen leichten, 1% einen mittelschweren und 0,02% (n = 2) einen schweren Verlauf [2]. Eine weitere Studie zeigte, dass bei 700 Kleinkindern nach Einnahme von bis zu zwei Zigaretten oder sechs Zigarettenstummeln der Verlauf immer leicht war, und selbst grössere Mengen nicht zu schweren Symptomen führten [5].

Symptome nach Ingestion von ­­Zigaretten/Zigarettenstummeln

In einer grossen Mehrzahl der symptomatischen Fälle kommt es lediglich zu Übelkeit und Erbrechen. ­Weitere Symptome sind Diarrhoe, Schwindel, Kopfschmerzen, Unruhe, Lethargie, Tachykardie, Schwitzen und Blässe. Bei Einnahme extremer Mengen sind schwere Brady- oder Tachykardie, Koma, Krämpfe und kardiale ­Arrhythmien möglich.
Die Symptome beginnen meist innerhalb der ersten 30–90 Minuten nach Einnahme [6]. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit des Nikotins (24–84 Minuten) klingen die Symptome in der Regel innert weniger Stunden spontan ab [7].

Massnahmen

Kinder >1-jährig: Gabe von Aktivkohle (1g/kg Körpergewicht) nach Einnahme von ≥2 Zigaretten oder ≥6 Zigarettenstummeln und Hospitalisation zur Überwachung von Kreislauf und Bewusstsein.
Kinder <1-jährig (vorsichtshalber): Gabe von Aktivkohle (1g/kg Körpergewicht) nach Einnahme von ≥1 Zigaretten oder ≥3 Zigarettenstummeln und Hospitalisation zur Überwachung von Kreislauf und ­Bewusstsein.
In allen anderen Fällen: Beobachtung durch die ­Eltern/Betreuer/-innen für vier Stunden. Bei Auftreten von ausgeprägten Symptomen, wie beispielsweise mehrfaches Erbrechen, Agitation oder Bewusstseinsveränderung: ärztliche Kontrolle.
Diagnostik: Nachweis von Nikotin bzw. dessen Metaboliten sind nicht hilfreich bei der Diagnose einer akuten Vergiftung. Die Diagnose gründet auf dem klinischen Verdacht bei oben genannten Symptomen und der Exposition. Bei Kleinkindern sollte bei unerklärtem Erbrechen und «Raucher-Eltern» der Verdacht einer Zigaretteningestion erhoben werden.
Therapie: Symptomatische Therapie mit Hydrierung und Antiemetika.

ACHTUNG: schwere Nikotinintoxikation!

Eine erhöhte Toxizität besteht bei anderen nikotinhaltigen Produkten wie Pfeifen- oder Kautabak, Nikotinkaugummi oder -pflaster sowie bei nikotinhaltigen ­Flüssigkeiten (Liquids für E-Zigaretten mit einem Nikotingehalt von 10–20 mg/ml).
In den letzten Jahren haben die Nikotinvergiftungen durch E-Zigaretten sprunghaft zugenommen, mit häufigerem Vorkommen schwerer Verläufe [2]. Auch ­Todesfälle bei Kleinkindern sind nach Einnahme nikotinhaltiger Flüssigkeiten beschrieben [8, 9]. Die meisten E-Liquids sind aromatisiert und daher attraktiv für Kinder.
Bei Vergiftung mit diesen nikotinhaltigen Produkten wird empfohlen, Tox Info Suisse zu kontaktieren.

Hinweis

Diese Serie erfolgt in Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden des Tox Info Suisse, die für Primary and Hospital Care (PHC) ausgewählte Texte aus den «Giftinfos», die regelmässig auf der Website des Tox Info Suisse unter https://toxinfo.ch/giftinfos_de publiziert werden, aufbereiten. Für diese Zusammenarbeit möchte sich die Redaktion des PHC ganz herzlich bedanken!
Dr. med. Katharina E. Hofer
Tox Info Suisse
Freiestrasse 16
CH-8032 Zürich
Katharina.Hofer[at]toxinfo.ch
1 von Mühlendahl K E, Oberdisse U, Bunjes R, Brockstedt. M. (eds). Vergiftungen im Kindesalter. Thieme Stuttgart, 4rd ed., Germany, 2003, p. 296.
2 Kamboj A, Spiller HA. Casavant MJ, et al. Pediatric Exposure to E-Cigarettes Nicotine, and Tobacco Products in the United States, Pediatrics 2016;137: e20160041.
3 Alkam T, Nabeshima T. Molecular mechanism for nicotine intoxication, Neurochemistry International. 2019;125:117–26.
4 Tomar SL, Henningfield JE. Review of the evidence that pH is a determinant of nicotine dosage from oral use of smokeless tobacco. Tob Control. 1997;6:219–25.
5 McGee D, Brabson T, McCarthy J, Picciotti M. Four-year review of cigarette ingestions in children. Pediatr Emerg Care. 1995;11:13–6.
6 Hoffman RS, Howland MA, Lewin AN, et al. Goldfrank’s Toxicologic Emergencies. McGraw-Hill Education, New York; 11th Ed., 2019.
7 Baselt R. Disposition of Toxic Drugs and Chemicals in Man. Biomedical Publications, Foster City, California, 9th ed, 2011.
8 Egglestone W. Pediatric death after unintentional exposure to liquid nicotine for an electronic Cigarette. Clin Tox. 2016;54:890–891.
9 Seo AD, Kim DC, Yu HJ, et al. Accidental ingestion of E-cigarette liquid nicotine in a 15-month-old child: an infant mortality case of nicotine intoxication. Korean J Pediatr. 2016;59:490–93.