Patienten mit Arbeitsproblemen: Wie Hausärzte helfen können
Checkliste für die hausärztliche Praxis

Patienten mit Arbeitsproblemen: Wie Hausärzte helfen können

Aktuelles
Ausgabe
2019/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10157
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(11):336-338

Affiliations
a WorkMed, Kompetenzzentrum Psychiatrie Baselland, Liestal; b Geschäftsleiter Stiftung Rheinleben, Basel; c Präsident Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin

Publiziert am 06.11.2019

Viele Patientinnen und Patienten mit psychischen Problemen haben gleichzeitig Arbeitsprobleme – sei es am Arbeitsplatz, beim Wiedereinstieg aus der Arbeitsunfähigkeit oder weil sie keine Arbeit haben. Eine neue Broschüre gibt Hausärztinnen und Hausärzten Hintergrundinformationen und unterstützt sie in der Situationsbeurteilung mit einer kurzen Checkliste.

Psychische Probleme sind eng verknüpft mit Arbeitsproblemen, sei es, weil psychische Störungen oft zu Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit, Produktivität und zu Absenzen führen oder sei es, weil Spannungen am Arbeitsplatz oder schlechte Arbeitsbedingungen psychisch belastend sind. Diese engen Zusammenhänge zwischen Arbeit und Gesundheit sind für Hausärztinnen und Hausärzte wichtig, weil sie häufig und auch tiefgreifend sind: Rund 25% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter weisen im Verlaufe eines Jahres mindestens eine diagnostizierbare psychische Störung auf, und von diesen sind rund 75% erwerbstätig. Bei den erwerbstätigen psychisch Kranken zeigen wiederum drei Viertel eine reduzierte Produktivität bei der Arbeit [1].

Viele psychiatrische Patient/-innen haben Arbeitsprobleme

Aus einer kürzlich durchgeführten Befragung [2] aller privaten und institutionell tätigen Psychiaterinnen und Psychiater in der Schweiz wissen wir, dass ein Drittel aller erwerbstätigen Patientinnen und Patienten ­aktuellere relevante Arbeitsprobleme hat, ein Viertel aktuell arbeitsunfähig geschrieben ist und rund 10% akut von Arbeitsplatzverlust bedroht sind. Gesamthaft muss man davon ausgehen, dass mindestens 40% der erwerbstätigen psychiatrischen Patient/-innen relevante Probleme im Lebensbereich Arbeit haben. Hinzu kommen die vielen Patientinnen und Patienten, die arbeitslos, sozialhilfeabhängig oder invalidisiert sind.Auf der anderen Seite hätten laut Psychiatern rund 20% aller IV-berenteten und sozialhilfeabhängigen Patient/-innen aktuell das Potenzial für eine (Teil-)Erwerbstätigkeit, nutzen dieses Potenzial jedoch nicht aus, weil sie «aufgegeben» oder «kein Selbstvertrauen» mehr hätten. Das macht deutlich, wie wichtig eine möglichst frühe Intervention bei Arbeitsproblemen ist – solange die ­Patienten noch nicht resigniert haben.

Erwerbstätigkeit ist psychisch protektiv

Erwerbstätigkeit ist mehr als nur einer von vielen ­sozialen Bereichen, wo Patient/-innen Probleme aufweisen ­können – es ist wohl der wichtigste. Erwerbs­tätigkeit ist nicht nur finanziell existentiell wichtig, sondern auch für die Genesung, die Lebensqualität und die ­Gesundheit allgemein. Arbeitslose, invalidisierte oder inaktive Patient/-innen sind unabhängig vom Schweregrad ihrer Erkrankung viel länger in Behandlung als erwerbstätige Patient/-innen, genesen deutlich schlechter und ­berichten über eine geringere Lebensqualität und einen schlechteren Ge­­sund­­heitszustand [1, 3]. Dies ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, was Erwerbstätigkeit alles mit sich bringt: Das Erleben, in der Gesellschaft dazuzugehören, nützlich und kompetent zu sein und Kontakte sowie Tagesstruktur und «Freizeit» zu haben.

Arbeitsplatzerhalt ist einfacher als ­Reintegration

Hausärztinnen und Hausärzte wissen das alles und sind zudem sehr häufig explizit mit derartigen Fragestellungen konfrontiert, beispielsweise bei Patientinnen und Patienten, die ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis wünschen oder bei denen sich ein solches aufdrängt. Die Frage ist jedoch, ob und gegebenenfalls wie man bei Arbeitsproblemen intervenieren sollte und könnte – und wie man gesundheitsrelevante Arbeitsprobleme überhaupt früh erkennen kann. Eine frühzeitige Erkennung von Arbeitsproblemen wäre wesentlich, weil es sehr viel einfacher und ökonomischer ist, Patient/-innen am Arbeitsplatz zu halten, als sie nach längerer Arbeitsunfähigkeit in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren. Je länger die Arbeitsunfähigkeit, respektive die ­Abwesenheit vom Arbeitsmarkt, desto schwieriger ­gestaltet sich die Rückkehr. Dies hängt mit der erwähnten Dynamik zusammen, dass sich inaktive Patient/
-innen immer weniger zutrauen, die Ängste vor einer Rückkehr an den Arbeitsplatz immer grösser werden und auch eine Dekonditionierung vom Arbeitsrhythmus stattfindet.

Rehabilitativ wirksame ­Arbeitsunfähigkeitszeugnisse

Zudem ändert sich bei längerer Abwesenheit auch die Situation am Arbeitsplatz: Die Arbeitskolleg/-innen und Vorgesetzten ärgern sich zunehmend, verlieren ihr ­anfänglich meist vorhandenes Mitgefühl und wollen nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr, dass der erkrankte Mitarbeiter zurückkehrt. Besonders heftig ist diese emotionale Dynamik, wenn es vor der Krankschreibung am Arbeitsplatz zu Konflikten gekommen ist. Längere Arbeitsabsenzen dürfen hinsichtlich ­negativer Nebenwirkungen nicht unterschätzt werden. Deshalb ist es zentral, dass die Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit umsichtig und in Kenntnis nicht nur der rechtlichen Vorgaben, sondern auch der ­konkreten Arbeitsanforderungen, der Situation am ­Arbeitsplatz, der gesundheitlichen Situation, der Persönlichkeit und des Verhaltens wie auch der Arbeitsbiografie der Patient/-innen vorgenommen wird.
– Die Arbeitsunfähigkeit muss immer auf die ­jeweils konkreten Arbeitsanforderungen am ­Arbeitsplatz bezogen sein.
– Dauer und Grad der notwendigen Arbeitsun­fähigkeit hängen unter anderem mit dem Krankheitsbild zusammen: Bei psychotischen Erkrankungen braucht es beispielsweise oft Zeit und allenfalls eine berufliche Neuorientierung, bei schweren ­depressiven Störungen braucht es Zeit und einen geplanten, sukzessiv gesteigerten Wiedereinstieg in die Arbeit. Und bei vielen anderen Krankheits­bildern wäre es wichtig, dass der Wiedereinstieg rasch geschieht – dafür jedoch mit ergonomischen Anpassungen, ­beispielsweise bei Patient/-innen mit akzentuierter oder gestörter Persönlichkeit. Je länger der Arbeitsunterbruch bei diesen Patient/
-innen, desto schlech­ter die Return-to-Work-Prognose.
– Bei Patient/-innen mit ängstlich-vermeidendem Ver­halten sollte beispielsweise ein sehr rascher ­Wiedereinstieg respektive der Verzicht auf eine Krankschreibung angestrebt werden. Besser wäre in solchen Fällen ein rascher telefonischer Kontakt (in Anwesenheit des Patienten) mit dem Arbeitgeber, um konkrete Lösungen zu diskutieren.
– Zurückhaltung ist oft auch geboten bei Patient/-innen, die nach einer Zurückweisung, Kränkung oder eben erfolgten Kündigung arbeitsunfähig geschrieben werden wollen. Erfolgt hier eine längere Krankschreibung, verpasst der Patient eventuell die Chance auf einen Abgang «erhobenen Hauptes» und auf ein besseres Arbeitszeugnis.
– Zurückhaltung ist auch geboten bei Patient/-innen, die eher undiszipliniert und wenig motiviert erscheinen. Die Evidenz zeigt, dass es für Arbeitgeber ­zentral ist, ob kranke Mitarbeitende «machen, was sie können», das heisst: Arbeitgeber akzeptieren Krankheiten und entsprechende Absenzen. Aber sie akzeptieren nicht, wenn kranke Mitarbeitende nicht ihr Bestmögliches tun, zum Beispiel sich alle zwei Wochen kurz beim Vorgesetzten melden. In solchen Fällen reduziert sich auch das Engagement der Arbeitgeber – und erhöht sich das Kündigungsrisiko.

Arbeitsfähigkeit hat eine Geschichte

Für Ärztinnen und Ärzte ist es nicht einfach – und auch nicht ihre prioritäre Aufgabe – in kurzer Zeit die gesamte Arbeitssituation der Patient/-innen in ihrer Dynamik zu erfassen. Hinzu kommt, dass Ärzte sich ihre Meinung normalerweise aufgrund der Aussagen der Patient/-innen bilden. Aber die Aussagen der Patient/-innen sind nur eine von vielen Perspektiven. Evidenz und Erfahrung zeigen, dass man den Patient/-innen langfristig oft nicht hilft, wenn man ihrem momentanen Drängen nachgibt. Psychische Arbeitsprobleme haben nämlich fast immer eine Geschichte: 75% aller psychischen Störungen beginnen vor dem 25. Altersjahr und die meisten Patienten hatten schon vor der aktuellen Behandlung psychisch bedingte Probleme bei der Arbeit. Wenn man als Ärztin oder Arzt wirksam intervenieren will, muss man diese Arbeitsbiografie kennen und die richtigen Schlüsse ­daraus ziehen. Wenn man beispielsweise weiss, dass ein Patient wegen ängstlich bedingter oder konfliktbedingter längerer Arbeitsunfähigkeiten schon mehrmals eine Kündigung erhielt, sollte man ihn aktuell eventuell gar nicht arbeitsunfähig schreiben, sondern früh das präventive Gespräch mit dem Arbeitgeber suchen und die aktuelle Problemsituation gemeinsam besprechen.

Ein Instrument zur Unterstützung der Hausärzte

Um Hausärztinnen und Hausärzten in diesen und ­anderen Problemkonstellationen Hintergrundinformationen und konkrete Hinweise (Checkliste) zu geben, haben wir eine Broschüre erarbeitet. Diese wurde finanziell unterstützt von Helsana, Swiss Insurance Medicine, Schweizerischer Versicherungsverband, Lundbeck, Servier und OM Pharma.
Die Broschüre fokussiert auf drei Behandlungsbereiche:
1. Früherkennung und Einschätzung von Arbeitsproblemen bei Patient/-innen mit psychischen Problemen;
2. Beurteilung und rehabilitativ wirksame Kriterien beim Ausstellen von Arbeitsunfähigkeitszeugnissen;
3. Bei erwerbslosen Patient/-innen deren Integrationsprobleme verstehen, zu Eingliederungsmassnahmen motivieren, diese einleiten und Eingliederung differenziert planen.
Es werden zudem Hinweise zur Finanzierung von hausärztlichen Interventionen gegeben. Auch wenn der Ärztetarif Tarmed enge Grenzen setzt, beispielsweise bei Round Tables, existieren alternative Möglichkeiten: Der KIMPA-Tarif bei Privatversicherungen und entsprechende Tarife bei der Invalidenversicherung (rund CHF 200.– / Stunde, jeweils in vorgängiger Absprache mit dem zuständigen Versicherer).
Die Broschüre fasst die aktuell vorhandene Evidenz ­zusammen. Effektive Interventionen bei psychisch ­bedingten Arbeitsproblemen sind bisher allerdings nicht ausreichend erforscht. Auf dieser Basis ist auch die Checkliste zu verstehen: Wir geben konkrete Hinweise aufgrund der vorhandenen Datenlage und aufgrund unserer langjährigen praktischen Erfahrung. Um fachliche Rückmeldungen – Bestätigungen wie Verbesserungen – zu unseren Empfehlungen von Seite der Hausärztinnen und Hausärzte sind wir dankbar. ­Schreiben Sie uns Ihre Meinung an: kontakt[at]workmed.ch.
Dr. phil. Niklas Baer
WorkMed
Psychiatrie Baselland
Bienentalstrasse 7
CH-4410 Liestal
niklas.baer[at]pbl.ch
1 Fit Mind, Fit Job – From Evidence to Practice in Mental Health and Work. OECD Publishing, Paris, 2015.
2 Baer N, Frick U, Rota F, Vallon P, Aebi K, Romann C, Kurmann J. Patienten mit Arbeitsproblemen. Befragung von Psychiaterinnen und Psychiatern in der Schweiz. [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 11/17, 2017.
3 Baer N, Frick U, Besse C, Cuonz N, Matt MI. Beruflich-soziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten. ­Erfolgsfaktoren, Verlauf und Zufriedenheit. [Bern: BSV]. Beiträge zur sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 8/18, 2018.