In Europa sein und bleiben
Auf Wiedersehen, Vize-Präsidentschaft bei der UEMO!

In Europa sein und bleiben

Editorial
Ausgabe
2019/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10159
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(11):332

Affiliations
Mitglied der PHC-Redaktion, Past-Präsident UEMO

Publiziert am 06.11.2019

Am 19. Oktober 2019 ist in Belgrad meine vierjährige Vizepräsidentschaft der Europäischen Vereinigung der Ärzt­innen und Ärzte für Allgemeinmedizin (UEMO), die die ­politischen Interessen der Allgemeinmedizin in Europa vertritt, zu Ende gegangen. Im Anschluss an die Generalversammlung bleibt mir ein wenig Zeit, um die Emotionen zu verarbeiten, welche die Dankesbekundungen ausgelöst haben, und um durch eine Stadt zu spazieren, deren Strassen geleert sind und die von Hubschraubern überflogen wird: Dies geschieht zu Ehren des russischen Präsidenten, der an den Feierlichkeiten zur Befreiung der Stadt durch die ­Sowjetarmee am 20. Oktober teilnimmt. Auf dem Platz der Republik singt der Chor der Roten Armee und lassen das Dopamin vibrieren, Riesenbildschirme zeigen eine Parade von Soldaten mit russischen und serbischen Fahnen, die sich zu einem Feuerwerk vereinen. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Eltern, eines in einem Tarnanzug. Sie klatschen und winken mit Fahnen.
Auch ich schwenkte eine Fahne, als PHC vor vier Jahren meine Nominierung als Vizepräsident der UEMO mit ­einer Karikatur bekannt gab [1]: Darauf war ein kleiner Schweizer zu sehen, der einem europäischen Karton entstieg und dabei eine winzige Schweizer Flagge hielt, nicht grösser als jene auf den 1.-August-Weggen.
Was ist inzwischen geschehen? Die politische Grosswetterlage hat sich geändert: Mehr Populismus, ein Europa, das Mühe hat, einen gemeinsamen Weg zu finden, der Brexit, offene Wunden auf dem Balkan, das wachsame Auge Moskaus und eine Schweiz, die immer skeptischer gegenüber einem Europa eingestellt ist, zu dem sie nicht dazugehört, das sich aber dennoch ständig mit ihr beschäftigt.
Warum sollte also ein Schweizer zur UEMO gehen? Fassen wir die guten Gründe dafür zusammen:
– Wir sollten in der Gemeinschaft der europäischen Allgemeinmedizin bleiben, da wir nunmehr Fachleute für Innere Medizin sind, die sich mit Allgemeinmedizin beschäftigen. Es geht dabei um unsere Identität sowie um unsere Schweizer Lösung, die wir unseren Kolleginnen und Kollegen nahebringen können. Im Jahr 2016 äus­serte ich mich in dieser Zeitschrift über den Ba­lanceakt, den ich als Internist gegenüber den europäischen Allgemeinmediziner-Kollegen, die mich erstaunt musterten, zu vollführen hatte [2]. Heute kann ich ihnen ohne rot zu werden erklären, dass ich als Allgemeinmediziner tätig bin und dass wir durch unser System unseren Berufsstand aufwerten konnten, sowohl in den Augen unserer Partner und Facharztkolleginnen als auch in denen des Nachwuchses, wodurch die Motivation, sich für unseren Beruf zu entscheiden, gefördert wird. Das Problem der Fachrichtung Allgemeinmedizin ist in Europa noch immer nicht gelöst und bleibt eine Priorität der UEMO; doch alles ist blockiert, solange nicht alle EU-Staaten die Fachrichtung anerkennen. Es handelt sich somit um eine Arbeit, die Land für Land zu verrichten ist. Unsere Demonstration am 1. April 2006, unsere Errungenschaften, die Gründung von mfe und die ­Tätigkeit dieser Gesellschaft: All dies kann meiner Ansicht nach mit unseren Freundinnen und Freunden aus ­anderen Ländern diskutiert werden, vielleicht können sie einige Ideen übernehmen, so wie wir uns von ihnen inspirieren lassen können.
– Unsere Organisationen (mfe, FMH) müssen über geplante EU-Richtlinien und -Verordnungen, die eines Tages auch uns betreffen können, auf dem Laufenden sein. Diese Aufgabe haben wir erst vor Kurzem wieder erfüllt, als wir über die Gesundheitstechnologien-Verordnung informierten [3, 4].
– Wir müssen uns austauschen, da unsere Organisationen (mfe und UEMO) ähnliche Ziele verfolgen. Ich denke dabei vor allem an die Interprofessionalität [1] und e-Health.
– Wir müssen uns bemühen, die Mechanismen der europäischen Demokratie zu verstehen, wenn wir teilhaben möchten. In meiner vierjährigen Amtszeit als Vizepräsident konnte ich mich aktiv einbringen und einen Eindruck gewinnen, der über die in der Schweiz verbreiteten Klischees hinausgeht. Die Prozesse sind mit Sicherheit komplex, in Europa kann ich jedoch einen transparenteren Umgang mit Interessenkonflikten erkennen als in unserer Schweiz.
– Schliesslich müssen wir unseren jungen Kolleginnen und Kollegen die Öffnung unserer Fachrichtung zur Welt vorzeigen. Die Diskussion über die Freizügigkeit der Ärztinnen und Ärzte bezüglich der Fachausbildung wie auch hinsichtlich der Anerkennung von Fortbildungen finden bei der UEMO statt. Der Nachwuchs, der zur UEMO kommt, kann dort neue und wichtige Themen einbringen, etwa die nachhaltige Entwicklung und die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels.
Mein Amt als Vizepräsident der UEMO und die faszinierende Arbeit, die es mit sich brachte, gehen zu Ende. Weiterhin leite ich die Arbeitsgruppe «Complexity and Competencies» und bin für das Dossier HTA (Health Technologies Assessment) verantwortlich. Die komplexe europäische Maschinerie – ihre endlosen Texte, in die ich mich vertiefte, ihre zahlreichen und zuvorkommenden «civil servants», aus denen freilich keine «Grossen» herausragen – sehe ich immer mehr als Bollwerk gegen den Narzissmus der Hetzer, Spalter und Militärmusikliebhaber. Inmitten der dopamingeschwängerten Chöre gibt die winzige Schweizer Flagge vom 1.-August-Weggen eine traurige Figur ab, nicht aber in Europa.
Dr. Daniel Widmer
IUMG
2, avenue Juste-Olivier
CH-1006 Lausanne
Drwidmer[at]belgo-suisse.com
1 Widmer D. Die UEMO, die Krankenschwestern und die Sozial­arbeiter. Prim Hosp Care (de). 2016;16(06):117–18.
2 Kissling B, Widmer D. Ein Schweizer im Vorstand der UEMO. Prim Hosp Care (de). 2016;16(02):39–41.
3 Widmer D, Ouvrard P, Bonnamour MC. Teil 1: HTA und die Rolle der Hausärzte. Prim Hosp Care Med Int Gen. 2019;19(07):218–20.
4 Widmer D, Ouvrard P, Bonnamour MC. Teil 2: UEMO und HTA – Was haben wir getan? Prim Hosp Care Med Int Gen. 2019;19(08):260–62.