Pflegeexpertinnen APN und ­Medizinische Praxiskoordinatorinnen in der Hausarztpraxis
Konkurrenz oder Ergänzung?

Pflegeexpertinnen APN und ­Medizinische Praxiskoordinatorinnen in der Hausarztpraxis

Forschung
Ausgabe
2020/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10137
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(01):19-22

Affiliations
* geteilte Erst-Autorenschaft
a Institut für Hausarztmedizin und Community Care Luzern, Department Gesundheitswissenschaften und Medizin, Universität Luzern; b Masterstudentin Health Sciences and Health Policy, Universität Luzern; c Institut für Hausarztmedizin und Community Care Luzern; d Institut für Hausarztmedizin und Community Care Luzern

Publiziert am 08.01.2020

In der Schweiz sind mit der Pflegeexpertin APN und der Medizinischen Praxiskoordinatorin in den letzten Jahren neue Berufsbilder entstanden, welche die Hausärztinnen bei der Betreuung chronisch erkrankter Menschen unterstützen können. Wir haben untersucht, was die Aufgabenbereiche und Kompetenzen dieser Gesundheitsberufe sind und wo mögliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten liegen.

Einführung

Die Schweizerische Grundversorgung sieht sich einem drohenden Mangel an Hausärzten1 in ländlichen Gebieten und einer Zunahme an multimorbiden, älteren Patienten mit komplexen, multidimensionalen Gesundheitsbedürfnissen gegenüber [1, 2]. Als mögliche Lösung dieser Herausforderungen bieten sich neue, interprofessionelle Versorgungsmodelle mit Pflegeexpertinnen APN (Advanced Practice Nurse) und Medizinischen Praxiskoordinatorinnen (MPK) an.
APN absolvieren ein Masterstudium in Pflegewis­senschaften, das in der Schweiz seit dem Jahr 2000 an­geboten wird. Durch eine breite pflegerische und  klinisch-medizinische Ausbildung können APN ­multimorbide, ältere Patienten kontinuierlich und ganzheitlich versorgen und dabei Tätigkeiten von Hausärztinnen ergänzen oder teils selbstständig über­nehmen.
Medizinische Praxisassistentinnen (MPA) sind wichtige und langjährige Partner in Hausarztpraxen. Seit 2015 gibt es für MPA die Möglichkeit, sich durch eine modul-basierte Weiterbildung zur MPK ausbilden zu lassen. Im klinischen Schwerpunkt erhalten sie einen vertieften Einblick in einzelne Krankheitsbilder wie Diabetes oder COPD, mit dem Ziel, Beratungen und Kontrollen in der Langzeitversorgung von stabilen, chronisch kranken Patientinnen zu übernehmen.
Bislang gibt es in der Schweiz nur sehr wenige Hausarztpraxen, die sowohl eine APN wie auch eine MPK beschäftigen. Ziel dieser Studie war, die Kompetenzen und Tätigkeitsbereiche beider Berufsgruppen aufzuzeigen und mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Faktoren für eine effektive Zusammenarbeit zu bestimmen.

Methodik

Die Studie folgte einem qualitativen Forschungsansatz. Zwischen 2017 und 2018 führten wir 16 semi-strukturierte Interviews mit zwei APN, vier MPK und vier Hausärzten aus zwei ländlichen Hausarztpraxen durch, in denen beide neuen Berufsgruppen zusammenarbeiteten. In einem Fall wurde die APN im ­Rahmen eines von der Regierung unterstützten Pilotversuchs in einer kleinen Doppelpraxis eingesetzt (top-down-Implementation). In der zweiten Praxis wurde die APN auf Initiative der Hausärzte und gleichzeitig Besitzer einer multiprofessionellen Gruppenpraxis eingestellt (bottom-up). Unter Einverständnis der Teilnehmenden wurden die Gespräche aufgezeichnet und transkribiert. Die Auswertung folgte Feredays thematischer Analyse [3] mit dem Canadian National Competency Framework for Interprofessional Collaboration als theoretische Grundlage [4].

Resultate

Die Analyse der Interviews resultierte in vier Themen: Rollenkenntnisse, Aufgabenbereiche, Grenzen und interprofessionelle Zusammenarbeit.

Rollenkenntnisse, Aufgabenbereiche und ­Grenzen

Insbesondere im top-down-implementierten Projekt herrschte zu Beginn viel Unwissen über das Berufsbild APN. Nach einigen Monaten der Zusammenarbeit konnten jedoch alle Studienteilnehmer das Tätigkeitsfeld gut beschreiben. Das Betreuen und Beraten von chronisch kranken, teils psychosozial komplexen Patienten in der Praxis, auf (präventiven) Hausbesuchen und während Pflegeheimvisiten wurde besonders betont. Dabei übernimmt die APN koordinative Aufgaben, führt pflegerische Assessments (z.B. häusliche Stolperfallen, Medikamentenadhärenz) durch und kann, nach klinischem Mentoring durch die Hausärzte, gewisse medizinische Tätigkeiten wie Anamnese und körperliche Untersuchungen selbstständig ausführen. Gemäss unseren Gesprächspartnern leiten APN auch erste Behandlungsschritte ein, bleiben dabei aber meist im engen Austausch mit der Hausärztin. Pflegeexpertinnen übernehmen zudem kleinere medizinische Notfälle und bieten Interventionen wie Infusionstherapien oder Ohrspülungen an. Diese Flexibilität und Vielfalt der Tätigkeiten wurden von den befragten Hausärzten besonders geschätzt. Die Grenzen der APN wurden bei der medizinischen Diagnosestellung und der selbstständigen Verschreibung neuer Medikamente identifiziert.
Die beruflichen Kompetenzen der MPK waren für die meisten Studienteilnehmenden einfacher zu nennen, da es sich um eine Weiterbildung bzw. um eine erweiterte Rolle der bekannten Berufsgruppe MPA handelt. Als Tätigkeitsfeld der MPK nannten unsere Interviewpartner administrative und koordinative Aufgaben in der Praxis sowie technische Tätigkeiten wie Blut­entnahmen, Labor und Röntgen. Zudem bieten MPK Wundsprechstunden und gezielte Beratungen für stabile Patientinnen mit spezifischen chronischen Erkrankungen an. Im Unterschied zur APN wurde jedoch klar geäussert, dass die MPK immer unter hausärztlicher Delegation arbeitet und ihre Tätigkeiten örtlich auf die Praxis beschränkt sind. Illustrative Zitate zu den Kenntnissen, Aufgabenbereichen und Grenzen der beiden Berufsbilder sind in Tabelle 1 ersichtlich.
Tabelle 1: Zitate zu Rollenkenntnissen, Aufgabenbereichen und Grenzen.
ThemenZitate
Rollenkenntnisse 
APN«Das Befinden ist, dass ich da ziemlich verunsichert bin. Ich weiss noch nicht, wo die Stellung der APN ist, wie wir das Organisieren in der Praxis. Das ist für mich noch eine Blackbox. Ich weiss nicht,
wie wir das machen.» (Hausarzt, zu Beginn des Projekts)
MPK«Und die MPA-Welt die existiert natürlich. (...) Es gibt durchaus Tätigkeiten, von denen ich keine Ahnung habe in meinem Betrieb, das digitale Röntgen kann ich nicht mehr bedienen. Ich brauche diese Frauen.» (Hausarzt)
Aufgabenbereiche 
APN«Für alle Sachen, die nicht zwingend ärztlich sind, aber trotzdem ein bisschen mehr Know-how und Fertigkeiten benötigen, als eine gute MPA mitbringt (...) Gerade die Betreuung von chronisch Kranken (...) Jemand, der vielleicht weniger in den medizinisch-diagnostischen Kategorien denkt, sondern von der Pflege herkommt, die pflegerische Dimension miteinbeziehen kann, so jemand braucht es für solche Sachen. (…) Ein Pflegesystem aufgleisen, die Versorgung oder Notfallpläne… all diese Sachen.» (Hausarzt)
MPK«Also ich denke, eine MPA/K hat wirklich gute Aufgaben und Fertigkeiten in der Administration und in der Planung der Praxisabläufe, hat auch eine zunehmend gute Ausbildung, was Teilgebiete der Krankheitslehre sind, aber der ganz breite Überblick in dieser Situation fehlt ihnen.» (Hausarzt)
Grenzen 
APN «Anordnungen, Medikamentenverordnungen und so, da muss ich ganz ehrlich sagen, das würde ich nie aus der Hand geben, weil schlussendlich ich dafür verantwortlich wäre. Es gibt bis jetzt keine gesetzliche Grundlage, dass die APNs dafür verantwortlich sind.» (Hausarzt)
MPK«Ein wichtiger Punkt ist für mich der Unterschied, dass die MPK im Haus bleibt und die APN raus zu den Leuten nach Hause geht. Das können wir nicht. (...) Die MPK kann den Chef nur insoweit entlasten, als dass sie in der Praxis Fälle übernimmt wie Diabetes, Wundversorgung (...) Die APN kann da natürlich viel breitgefächerter entlasten. Sie hat da schon viel das grössere Fachwissen als wir. Einfach auf anderen Ebenen.» (MPK)

Interprofessionelle Zusammenarbeit

Eine erfolgreiche interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen APN und MPK hing von den involvierten Personen, dem Praxissetting, aber auch der rechtlichen Situa­tion ab. Die wichtigsten fördernden und hindernden Faktoren, die Merkmale der beiden Berufsgruppen und mögliche Überschneidungsfelder sind in Abbildung 1 dargestellt. Wie eine gute Zusammenarbeit aussehen kann, wurde von einer Interviewpartnerin, eine APN, anhand eines Fallbeispiels wie folgt beschrieben:
«Und wir arbeiten viel zusammen. Sie hat auch einen Patienten, den sie einfach nicht hingekriegt hat, bei dem das HbA1c nicht gut wurde … Ein Bauer, der meinte, dass er keine Zeit zum Messen habe und deshalb esse, was da sei. Und da bin ich auf Hausbesuch bei ihm, den hat sie mir wie quasi übergeben. Und meine Patienten, die einen Diabetes haben, die schicke ich regelmässig zu ihr. Es ist ein Hand-in-Hand arbeiten.»
Abbildung 1: Wichtige Faktoren der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen der Pflegeexpertin APN (Advanced Practice Nurse) und der Medizinischen Praxiskoordinatorin (MPK).

Diskussion

Theoretische Gegenüberstellungen der APN- und MPK- Rollen wurden bereits veröffentlicht und diskutiert [5]. Unsere Studie beschreibt die Aufgabenbereiche, Grenzen und Zusammenarbeit der beiden Berufsbilder aufgrund von Daten aus der Praxis.

Bessere Versorgung chronisch erkrankter Patienten

Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass APN und MPK aufgrund ihrer Ausbildungen und Kompetenzen unterschiedliche Aufgabenbereiche bei der Versorgung chronisch kranker Patientinnen abdecken. Um gut zusammenzuarbeiten und sich als interprofessionelles Team zu ergänzen, müssen dabei wichtige Bedingungen wie gegenseitiges Rollenverständnis, Vertrauen und ein adäquates Praxissetting gegeben sein. Studien zeigen, dass beide Berufsgruppen aufgrund ihrer Expertise die Versorgungsqualität chronisch erkrankter Menschen wie Diabetikern verbessern können [6, 7].

Neue Versorgungsmodelle und «task shifting»

Im Angesicht der demographischen Veränderungen scheint das traditionelle Modell mit Hausarzt und MPA an seine Grenzen zu stossen, und es droht eine Lücke bei der Versorgung multimorbider Patientinnen mit komplexen, pflegerischen Bedürfnissen. Durch die Einführung interprofessioneller Versorgungsmodelle mit APN und MPK könnte diese Lücke gefüllt werden, wobei sich die Aufgaben der bisherigen Berufsgruppen möglicherweise verschieben (Abb. 2). Die MPK kann sich auf administrativ hoch-komplexe Aufgaben wie Teamleitung/Personalverwaltung und pflegerisch niedrig-komplexe Aufgaben wie die Beratung stabiler Diabetiker konzentrieren. Die APN hat ihren Fokus primär auf mittel- bis hoch-komplexen pflegerischen Aufgaben wie die Betreuung multimorbider Patienten zu Hause und in sozial schwierigen Situationen, kann aber auch medizinisch wenig-komplexe Fälle wie einen grippalen Infekt abdecken. Die Hausärztin kann sich vermehrt den mittel- bis hoch-komplexen medizinischen Fälle wie Systemerkrankungen widmen. Ein «task-shifting» aufgrund verschiedener Kompetenzen neuer Rollen und unterschiedlicher Komplexitätsgraden der Aufgaben wurde bereits international und auch im schweizerischen Kontext beschrieben [8].
Abbildung 2: Traditionelles und neues Versorgungsmodell.
Abkürzungen: MPA = Medizinische Praxisassistentin; HA = Hausärztin; MPK = Medizinische Praxiskoordinatorin; APN = Pflegeexpertin APN (Advanced Practice Nurse) .

Implikationen

Unsere Studienteilnehmenden nannten die aktuellen politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen mit unklaren Reglementierungen, insbesondere bei der Abrechnung, als Hindernis für die Einführung neuer Modelle und die Zusammenarbeit. Dies wurde auch in anderen Ländern so erkannt und beschrieben [9]. Studien aus den USA zeigen, dass klare gesetzliche Reglementierungen die Anzahl APN in der Grundversorgung erhöhen können [10]. Um Versorgungsmodelle mit APN in der Schweizerischen Grundversorgung zu fördern, sollte die rechtliche Grundlage erarbeitet und die Hausarztmedizin in der Ausbildung stärker gewichtet werden. Dazu braucht es vermehrt eine enge Zusammenarbeit zwischen APN-ausbildenden Hochschulen und Partnerpraxen, um ein adäquates, klinisches Mentoring durch die Hausärzteschaft sicherzustellen.

Fazit

Die neuen Berufsgruppen APN und MPK stellen bei gutem Rollenverständnis und klaren Aufgabenzuteilungen keine Konkurrenz dar. Im Gegenteil, durch ihre jeweiligen Kompetenzen und Tätigkeitsbereiche ergänzen und entlasten sie im interprofessionellen Team die Hausärztinnen und Hausärzte in der Betreuung chronisch kranker Menschen. Ein solches Modell könnte bei drohendem Hausärztemangel und steigenden Zahlen multimorbider Patienten eine hohe Versorgungsqualität ermöglichen.
Dr. med. Stefan Gysin
Wissenschaftlicher ­Mit­arbeiter
Institut für Hausarztmedizin & Community Care Luzern
Schwanenplatz 7
CH-6004 Luzern
stefan.gysin[at]iham-cc.ch
 1 OECD/WHO (2011). OECD Reviews of Health Systems: Switzerland 2011, OECD Publishing. Available from: http://dx.doi.org/10.1787/9789264120914-en.
 3 Fereday J, Muir-Cochrane E. Demonstrating rigor using thematic analysis: A hybrid approach of inductive and deductive coding and theme development. Int J Qual Meth. 2006;5(1):80-92.
 4 Bainbridge L, Nasmith L, Orchard C, Wood V. Competencies for interprofessional collaboration. Journal of Physical Therapy Education. 2010;24(1):6-11.
 5 Schalch E. Nurse practitioner oder Medizinische Praxiskoordinatorin? Bulletin des médecins suisses| Schweizerische Ärztezeitung| Bollettino dei medici svizzeri. 2011;92:43.
 6 Martínez-González NA, Rosemann T, Tandjung R, Djalali S. The effect of physician-nurse substitution in primary care in chronic diseases: a systematic review. Swiss Med Wkly. 2015;145:w14031.
 7 Sahli R, Jungi M, Christ E, Adrian G, editors. «Chronic Care Management»-Programm in der hausärztlichen Praxis. Swiss Medical Forum; 2019: EMH Media.
 8 Sailer Schramm M, Brüngger B, Wyss C, Röthlisberger A, Klaey M, Triaca H et al. Tandembetreuung mit Vorteilen für alle Beteiligten. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(02). Available from: https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10021.
 9 Wilson A, Pearson D, Hassey A. Barriers to developing the nurse practitioner role in primary care – the GP perspective. Fam Pract. 2002;19(6):641-6.
10 Barnes H, Maier CB, Altares Sarik D, Germack HD, Aiken LH, McHugh MD. Effects of regulation and payment policies on nurse practitioners’ clinical practices. Med Care Res Rev. 2017;74(4):431-51.