Phronesis oder die Schwierigkeit, klug zu entscheiden
Das Beispiel Fragilitätsfraktur und die Osteoporose

Phronesis oder die Schwierigkeit, klug zu entscheiden

Reflexionen
Ausgabe
2020/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10138
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(01):36-40

Affiliations
a Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, Deutschland; b Hausarzt in Aarburg, Schweiz; c Hausarzt im Ruhestand, vormaliger Co-Chefredaktor Primary and Hospital Care, Buchautor, Bern, Schweiz

Publiziert am 08.01.2020

Unsere Aufgabe als Ärzt/-innen ist es, mit jedem einzelnen Patienten in seinem Gesamtkontext die richtige, persönlich relevante Entscheidung zu treffen. In diesem Artikel wollen wir deshalb «kluges» Handeln konkret am Beispiel einer Hüftfraktur besprechen.

«Ce qui est simple est faux, ce qui est compliqué est inutilisable»
(«Was einfach ist, ist falsch, was kompliziert ist, ist unbrauchbar»).Paul Valéry
Phronesis (deutsch Klugheit) «ist die Fähigkeit zu angemessenem Handeln im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller für die Situation relevanten Faktoren, Handlungsziele und Einsichten, die der Handelnde kennen kann» [1]. Unsere gesamte Kultur ist auf Handeln ausgerichtet. Dabei kann Nicht-Handeln oft die bessere Form des Handelns sein und soll deshalb mit einbezogen werden.
In diesem Artikel wollen wir «kluges» Handeln am konkreten Beispiel von Berta K. besprechen. Die hier beschriebenen Reflexionen über Tun und Lassen gelten jedoch ebenso für Entscheidungen bei anderen Patient/-innen, auch mit Erkrankungen aus allen anderen medizinischen Gebieten. Dabei geht es immer um ein ziel- und lösungsorientiertes Zusammenführen medizinischer Erkenntnisse, personen- und kontextbezogener Bedingungen und Bedürfnisse der Patient/-innen. Ein statistisch signifikanter Effekt alleine ist kein ausreichender Grund, beispielsweise ein Medikament einzusetzen. Relevanz entscheidet sich im konkreten Einzelfall auf Patientenebene [2].

Fraktur im Alter …

Wie kommen wir nach einer Fraktur im Alter bei Vorliegen einer densitometrisch nachgewiesenen Osteoporose zu einer «klugen» präventiv-therapeutischen Entscheidung? Hierzu ist es zunächst wichtig, zwischen Krankheit als medizinisches Erklärungsmodell (disease) und Krankheit als Leiden der Patient/-innen (illness) zu unterscheiden [3]. Aus disease-bezogener Sicht, die unsere in immer mehr Spezialdisziplinen fragmentierte Medizin prägt, dürfte eine medikamentöse antiosteoporotische Therapie wahrscheinlich bevorzugt werden. Unter Berücksichtigung aller komplexen Gegebenheiten könnte diese Entscheidung aber durchaus unangemessen sein.

… klug entscheiden zwischen Einzel­diagnose und Fragilität

Zunächst unser Fallbeispiel.

Fallvignette

Berta K. ist 82 Jahre alt und Bäuerin. Sie stammt aus einer anderen Zeit. Ihr Mann starb vor einigen Jahren an einem Schlaganfall. Sie lebt seither alleine in einem kleinen Hof mit drei Kühen, einigen Hühnern und einem kleinen Ackerstreifen. Die Nachbarn unterstützen sie wenn nötig. Jetzt ist sie gestürzt und hat sich dabei den Schenkelhals gebrochen. Im Krankenhaus erhält sie eine Endoprothese der linken Hüfte. Sie nimmt wegen eines Bluthochdrucks, einer leichtgradigen Herzinsuffizienz, ihrer Arthrose und eines Diabetes mellitus Typ 2 insgesamt zehn verschiedene Medikamente.
Durch die Fraktur ist Berta K. in ihrer Selbständigkeit und Lebensqualität weit zurückgeworfen worden. Wir wollen entscheiden, was für sie der beste Weg ist, weitere Frakturen möglichst zu verhindern. Lebensqualität und Eigenständigkeit der Patientin sollen möglichst lange erhalten werden.
In unserem Entscheidungsprozess über medikamentöse und nicht-medikamentöse Interventionen stellen wir dem organmedizinischen Konzept der densitometrisch nachgewiesenen Osteoporose und ihrer Therapie die offensichtliche Fragilität und gesamte Lebenssituation der Patientin gegenüber.

Wir postulieren fünf Möglichkeiten von Entscheidungen

1. Vergessen zu entscheiden
2. Tun, was man immer tut
3. Tun, was die Anderen einem sagen
4. Phronesis
5. Pragmatisches Vorgehen
Diese fünf Wege wollen wir anhand der Fallgeschichte unserer Patientin diskutieren:

1. Vergessen zu entscheiden

Genau betrachtet stellt dieser Weg keine Entscheidung dar. Das Vergessen von Entscheidungen ist dennoch einer der häufigsten Wege im Umgang mit vielen Gesundheitsproblemen [4]. Die natürliche «messiness of practice» (Unordnung der Praxis) trägt dazu bei [5]. Dies dürfte auch bei Knochenbrüchen im Alter zutreffen. Auch wenn das Nicht-Handeln sich zufällig als richtig herausstellen sollte, sind wir mit dem «Vergessen zu entscheiden» unzufrieden.

2. Tun, was man immer tut

Auch dieser bequeme Weg zu entscheiden dürfte häufig sein. Und auch er kommt einem Nicht-Entscheiden sehr nahe. Im Falle der Fragilitätsfrakturen wird er daher leicht mit dem Ergebnis des «Vergessen zu entscheiden» zusammenfallen: es passiert einfach nichts. In anderen Fällen gibt es jedoch sehr wohl eingeschliffene Handlungsroutinen, die oft nicht weiter hinterfragt werden [6]. Man tut, was man immer tut. Das Ergebnis kann richtig sein, häufig ist dies jedoch nicht der Fall. Also sind wir auch damit unzufrieden.

3. Tun, was die Anderen einem sagen

Dieser Weg ist wahrscheinlich der sicherste. Man findet was die Anderen sagen in Leitlinien. Für die Situation unserer Patientin, Berta K., heisst sie: «Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen und bei Männern» und kommt vom Dachverband Osteologie (DVO) [7]. Sie definiert die Osteoporose als eine «systemische Knochenerkrankung, die durch eine niedrige Knochenmasse und eine mikroarchitektonische Verschlechterung des Knochengewebes charakterisiert ist, mit einem konsekutiven Anstieg der Knochenfragilität und der Neigung zu Frakturen» (Seite 3.). Die WHO definierte die Osteoporose im Jahr 1994 als eine Abweichung des Knochenmineralgehalts in einer DXA-Knochendichtemessung um mehr als –2,5 Standardabweichungen (T-Score) vom Mittelwert junger Frauen. Bei Vorliegen von Osteoporose, auch ohne abgelaufene Fraktur, sollte nach der Leitlinie ab einem Zehnjahres-Frakturrisiko von mehr als 30% eine spezifische medikamentöse Therapie eingeleitet werden. Über eine Tabelle lässt sich unter dieser Vorgabe die Therapieempfehlung ablesen (Tab. 1).
Für die Indikationsstellung schicken wir also unsere Patientin zur Knochendichtemessung. Das Ergebnis ist ein T-Score am Femurhals von –2,8 SD.
Laut dieser Tabelle hätte unsere Patientin auch schon vor der Fraktur medikamentös behandelt werden sollen. Nach Fragilitätsfrakturen gibt die Leitlinie eine generelle Behandlungsempfehlung. Die Leitlinie gibt keine Präferenz für ein Medikament der ersten Wahl an. Nach unauffälliger Basisdiagnostik zum Ausschluss einer sekundären Osteoporose empfehlen wir unserer Patientin die Einnahme von Alendronat in Kombination mit Calcium und Vitamin D. Wir Ärztinnen und Ärzte haben Leitlinien-gestützt richtig gehandelt und könnten zufrieden sein, die Patientin ist es aber nicht. Sie wollte schon lange weniger Medikamente nehmen. Jetzt hat sie mehr.

4. Phronesis

In diesem Abschnitt wollen wir beispielhaft zeigen, wie schwer es ist, unter Berücksichtigung von allem was man wissen kann, einschliesslich der komplexen Situation unserer Patientin Berta K. «klug» zu entscheiden. Das Ausmass dieser Komplexität droht sogar leicht in eine Entscheidungsunfähigkeit zu führen.

Osteoporose, Frakturen und Wirkung der ­Medikamente

Die Definition der Osteoporose besteht aus einem Messwert, der es ermöglicht, bei Menschen mit perfekter subjektiver Gesundheit eine Krankheit zu diagnostizieren [8]. Die oben genannte Definition der WHO entstand 1994 mit finanzieller Unterstützung einiger Pharmafirmen [9]. Nach dieser Definition hätte die Hälfte der Frauen ≥80 Jahre eine Osteoporose, der grösste Teil der anderen Hälfte eine Osteopenie [10]. Es erscheint uns unverständlich, daraus eine systemische Skeletterkrankung ableiten zu wollen. Das Phänomen heisst vielmehr «Alter» (Abb. 1).
Abbildung 1: Verteilungen der Knochendichten entsprechend dem Alter. Adaptiert nach [10].
Aber auch aus Alter kann ein Leiden resultieren, dass wir gerne verhindern würden. Die Frakturmechanismen, der Leidensdruck und die Wirksamkeit antiosteoporotischer Therapie sind je nach Art der Fraktur sehr unterschiedlich. Im Folgenden behandeln wir deshalb die häufigsten Arten von Fragilitätsfrakturen getrennt.
Wirbelkörperfrakturen: Wirbelkörperfrakturen sind als solche oft nicht eindeutig bestimmbar. Die Mehrheit der 65–70 jährigen Frauen weist bereits Wirbelkörper­deformitäten auf [11]. Erst bei multiplen Wirbelkörperdeformitäten des höchsten Schweregrades zeigt sich ein Zusammenhang zu mehr Rückenschmerzen. Aber nur etwa ein Drittel dieser Frauen weist multiple Frakturen auf [12]. Die Annahme, dass Osteoporose und Wirbelkörperfrakturen mehrheitlich zu schrecklich deformierten Rücken und chronischen Rückenschmerzen führen würden, scheint weit übertrieben, auch wenn dies in Einzelfällen natürlich so sein kann. Wie wirksam ist die Therapie? Man unterscheidet radiologisch entdeckte von klinisch auffälligen Wirbelkörperfrakturen. In einer Studie mit Frauen mit Osteoporose und bereits abgelaufenen Wirbelkörperfrakturen fanden sich nach drei Jahren unter Placebo bei 15% der Frauen neue radiologisch entdeckte Wirbelkörperfrakturen, unter Alendronat nur bei 8% (absolute Risikoreduktion ARR 7%; Number Needed to Treat NNT 14). Klinisch auffällige Wirbelkörperfrakturen traten jedoch bei nur 5% der Frauen unter Placebo und bei 2,3% der Frauen unter Alendronat auf (ARR 2,7%; NNT 37) [13].
Unterarmfrakturen: Unterarmfrakturen sind meist die Folge von Stürzen, bei denen die Patient/-innen versuchen, sich mit den Armen abzufangen. Sie sind akut schmerzhaft, führen jedoch nicht regelhaft zu chronischen Schmerzen. Interessanterweise ereignen sie sich mehrheitlich in einem relativ kleinen Zeitfenster, beginnend mit zunehmender Sturzhäufigkeit im Alter und wieder abnehmend, wenn die Schenkelhalsfrakturen ansteigen, weil die Patient/-innen dann nicht mehr in der Lage sind, schnell genug die schützenden Arme nach vorne bringen [14]. Die Wirksamkeit der Therapie entspricht in etwa derjenigen bei hüftnahen Oberschenkelfrakturen (s.u.).
Hüftnahe Oberschenkelfrakturen: Hüftnahe Oberschenkelfrakturen treten fast immer im Zusammenhang mit Stürzen auf. Das Durchschnittsalter liegt bei 80 Jahren [14], einem Alter also, in dem es nur noch für Wenige Sinn macht, in Zehnjahres-Frakturraten zu denken. Die Vorhersagekraft des Risikofaktors Alter, einer Summe aus sehr vielen einzelnen Faktoren, ist für diese Frakturart elfmal höher als die der Knochendichte [14].
Die präventive Wirksamkeit spezifischer Antiosteoporotika für hüftnahe Oberschenkelfrakturen ist sehr ­begrenzt. Sie besteht für Frauen mit verminderter Knochendichte und bereits abgelaufener Wirbelkörperfraktur über drei Jahre in einer Reduktion von 2,2% auf 1,1% (ARR 1,1%, NNT 100) [13]. Unter Denosumab sank die Rate an hüftnahen Frakturen über drei Jahre sogar nur von 1,2% auf 0,7% (ARR 0,5%; NNT 200) [15]. Jenseits des 80. Lebensjahres nimmt die Effektivität spezifischer Antiosteoporotika ab [14].

Gebrechlichkeit und iatrogene Risiken als ­Ursache für Stürze und Frakturen

Was sind die Risikofaktoren für Stürze? Stürze korrelieren weitgehend mit dem Konzept der Frailty, für die es im Deutschen einen wunderbaren alten Begriff, die Gebrechlichkeit gibt. In der Gebrechlichkeit scheint schon klanglich das Brechen der Knochen enthalten zu sein. Frailty bezeichnet eine komplexe Abwärtsspirale mit hoher Sturz-, Fraktur- und Sterblichkeitsrate als Summe multipler degenerativer Prozesse [16]. Von den Menschen ≥65 Jahre stürzen 30 bis 40% mindestens einmal im Jahr [17]. Mit dem Älterwerden ändert sich auch die Art zu fallen. Dabei scheint weniger das kalendarische Alter, als eben die damit einhergehende Gebrechlichkeit, also der Abbau beziehungsweise Zusammenbruch vieler Systeme der eigentliche Grund zu sein [17]. Gleichzeitig steigt auch das Risiko zu sterben [18]. Ursache und Wirkung sind dabei nicht leicht zu trennen. Stürze und Frakturen könnten auch den nahenden Tod ankündigen. Nur etwa ein Drittel der Tode nach Fraktur scheinen deren direkte Folge zu sein [19].
Eine Reihe von Medikamenten trägt zu Stürzen und Frakturen bei, darunter Antihypertensiva, Diuretika, Betablocker, nicht-steroidale Antirheumatika sowie alle psychotropen Medikamente wie Sedativa, Antidepressiva und Neuroleptika [20]. Viele Massnahmen haben gezeigt, dass sie Stürze und Frakturen verhindern können, wie zum Beispiel Kataraktoperationen oder selbst fusspflegerische Massnahmen [21, 22]. Körperliches Training kann Stürze und wahrscheinlich auch Frakturen verringern [23]. Insgesamt scheinen jedoch die Effekte von Interventionen zur Sturzprävention zumindest in Pflegeheimen und Krankenhäusern begrenzt zu sein [24].

Kritischer Blick auf die Qualität der DVO Osteoporose-Leitlinie

Das Deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beurteilt die methodische Qualität der DVO-Leitlinie nach dem AGREE-II Instrument mit sechs von sieben möglichen Punkten als hoch [25]. Die Internetplattform Leitlinienwatch.de beurteilt die Qualität der DVO-Leitlinie jedoch mit nur 4 von 18 Punkten als «reformbedürftig» [26]. Laut Leitlinienreport haben formal 40 von 41 Leitlinien­autor/-innen Interessenskonflikte angegeben. Auch kommt Leitlinienwatch.de zu dem Urteil, dass ein «privater Verein unklarer Finanzstruktur nicht dazu angetan [ist], Transparenz zu schaffen» [26]. Leitlinienwatch.de gibt an, dass Beraterverträge mit Arzneimittelfirmen laut Leitlinienreport nicht als relevant gewertet wurden und nach Ansicht der Autor/-innen keine Enthaltung bei einzelnen Abstimmungen erforderlich gemacht hätten. Der Koordinator habe selbst finanzielle Zuwendung in Form von Vortragshonoraren und Beratertätigkeit erhalten. Auch die Entstehung der Evidenz, auf die sich die Leitlinie beruft, unterliegt erheblichem Einfluss seitens der Industrie. Der schwierigste Bias der Leitlinie entsteht aber vermutlich nicht durch die ­finanziellen Interessenskonflikte, sondern durch die wohl unvermeidliche Fokussierung des Osteologen auf den Knochen.

Nutzen antiosteoporotischer Medikamente mit Blick auf die Sterblichkeit

Es fehlt noch ein schwieriger Punkt, um eine gute Entscheidung zu treffen: Die Sterblichkeit des Menschen, konkret die Sterblichkeit von Berta K. Die Wahrscheinlichkeit für Menschen in ihrem Alter, den nächsten Geburtstag nicht mehr zu erleben, liegt bei etwa 6,1%. Sie steigt mit jedem weiteren Jahr exponentiell an [27]. Bei ≥90-Jährigen liegt die Inzidenz hüftnaher Oberschenkelfrakturen bei 3,55% [28], die Wahrscheinlichkeit aller 90-jährigen Frauen, den nächsten Geburtstag nicht mehr zu erleben, liegt bei 14,6% [27].

Phronesis – «kluge» Entscheidung in Gesamtschau auf alle diese Elemente

Wenn wir alles bedenken, was man wissen kann (und das oben Genannte war nur der Anfang), wird es immer schwieriger, überhaupt noch eine Entscheidung zu treffen. Aber kann ein Nicht-Handeln aufgrund der Anerkennung einer für uns Menschen zu grossen Komplexität klug sein? Warum nicht? Das Konzept der Osteoporose als wesentliche Ursache für Frakturen im Alter, bei denen es sich meistens um Fragilitätsfrakturen handelt, ist zumindest für die gefürchteten hüftnahen Oberschenkelfrakturen problematisch und greift zu kurz. Die Knochendichte alleine ist für Schenkelhalsfrakturen kein guter Prädiktor. Die antiosteoporotischen Medikamente helfen wenig. Forschung und Leitlinien unterliegen erheblicher Einflussnahme durch die Industrie. Irgendwann überholt die Wahrscheinlichkeit, demnächst zu sterben, das Risiko einer erneuten Fraktur.
In der Gesamtschau würden wir uns gemeinsam mit Berta K., bei bereits bestehender Polypharmakotherapie, gegen eine Therapie entscheiden, beziehungsweise ihr davon abraten.
Unsere gemäss dem Anspruch der Phronesis umfassende Berücksichtigung aller wissenschaftlichen und persönlichen Aspekte hat uns dabei nicht etwa gelähmt. Sie hat dazu geführt, bewusst nicht zu handeln. Dazu war ein erheblicher Aufwand an Recherche und Gesprächen nötig. Die Zufriedenheit von Arzt und Patientin mit dem Resultat lohnt den Aufwand allemal. Ärgerlich ist, dass der Aufwand vor allem deshalb nötig war, weil andere mit noch mehr Aufwand versucht haben, uns vom Gegenteil zu überzeugen. Ohne deren Aufwand wäre unser Aufwand geringer und das Ergebnis dasselbe gewesen: Wir verschreiben Frau Berta K. kein Bisphosphonat.

5. Pragmatisches Vorgehen

Ein pragmatisches, weniger aufwändiges Vorgehen könnte so aussehen: Je früher ohne erkennbares Trauma klinische Wirbelkörperfrakturen auftreten, und je mehr in diesem Zusammenhang chronische Rückenschmerzen vorhanden sind, je niedriger dabei die Knochendichte und je jünger die Patientin, desto eher würden wir mit Antiosteoporotika behandeln. Hier sind die Therapieeffekte dieser Medikamente am grössten. Je gebrechlicher unsere Patient/-innen bereits sind, je grösser die Multimorbidität und Polypharmazie, desto höher die Sturz- und Frakturgefahr. Für diese Patient/-innen sollten konsequent möglichst viele nicht-medikamentöse Massnahmen ausgeschöpft werden. Diesen Weg würden wir versuchen zusammen mit Berta K. soweit wie möglich zu beschreiten. Dazu gehören:
– Einschätzung der Mobilität (z.B. durch den Timed Up and Go Test) und Abfrage der Sturzhäufigkeit;
– Wenn möglich Absetzen sturzfördernder Medikamente;
– Beseitigung von Stolperfallen in der Wohnung und Wechsel auf hellere Leuchtmittel;
– Vorstellung beim Augenarzt oder Optiker zur Anpassung der Brille (manchmal scheint einem das Putzen der Brille schon ein Fortschritt);
– Überzeugende Empfehlung eines Rollators;
– Verschreibung von Physiotherapie zur Gangstabilisierung;
– Frühzeitige Einleitung geriatrischer Rehabilitationsmassnahmen.
Damit werden sich nicht alle Stürze und Frakturen verhindern lassen. Das ist aber bei Verschreibung von Antiosteoporotika auch nicht der Fall. Was mit Berta K. passieren wird, steht ohnehin in den Sternen. Eine gewisse Zahl dieser Frakturen werden wir, im Rahmen der zunehmenden Gebrechlichkeit, als kaum vermeidbare Phase vor dem Lebensende, akzeptieren müssen. Unsere ärztliche Aufgabe für diese Menschen besteht nicht darin, qualitätsgesichert Knochendichten zu messen und noch mehr Medikamente zu verschreiben. Unsere Aufgabe besteht in einem angemessenen Einsatz von nicht-medikamentösen Massnahmen sowie in empathischer Zuwendung und geeigneter Schmerzlinderung, kurz: in einer guten hausärztlichen Betreuung und Pflege.

Phronesis – Leitlinien, klinische Expertise und die Sorge für Berta K.

Wie steht es nun um die Klugheit unserer Entscheidung im konkreten Fall unserer Patientin Berta K.? Das Vergessen von Entscheidungen und das «Tun, was man immer tut» sind unbefriedigend. Evidenz-basierte Leitlinien können, wenn sie gut gemacht sind, hilfreich sein. Aber auch die beste Leitlinie auf Basis der besten Evidenz ist nicht in der Lage, eine richtige Empfehlung für alle Patient/-innen zu geben. Für unsere «kluge» individuelle Entscheidung für Berta K. müssen wir unser kontextuelles Wissen über die Patientin integrieren: Ihre Lebenssituation, weitere gesundheitliche Gegebenheiten und vor allem auch ihre persönlichen Bedürfnisse. In den Leitlinien fehlen bislang meist die entscheidenden Informationen, die wir benötigen, um individuelle Therapieentscheidungen treffen zu können [2]. Im Falle der hüftnahen Oberschenkelfrakturen greift das gesamte Konzept des zu schwachen Knochens als Ursache der Frakturen im Alter (meistens Fragilitätsfrakturen) bei Weitem zu kurz. Bezüglich der Verschreibung von Medikamenten könnte mit zunehmendem Alter der Patient/-innen eine demütige Zurückhaltung durchaus seine Berechtigung bekommen. Anstelle der verbreiteten Handwerker- und Reparaturmentalität mit ihrer «A pill for every ill»-Taktik und ihren ungerechtfertigt euphorischen Präventionsmassnahmen sollten mit zunehmender Gebrechlichkeit der Patient/-innen Aspekte der Medizin in den Vordergrund rücken, die in Lehrbüchern und Leitlinien nicht vorkommen. Es sind dies die Fürsorge, die Pflege, das Lindern und die Begleitung, also das gemeinsame Aushalten des Unabänderlichen. Diese Anteile medizinischer Versorgung sind traditionell Aufgabe der Primärmedizin, die weit über alleiniges biomedizinisch-technisches Handeln hinausgehen. Pharmakologisches Nicht-Handeln, nicht-medikamentöse Massnahmen und menschliche Zuwendung können für viele Patient/-innen der klügste Weg ärztlichen Handelns sein. So würden wir es auch in diesem konkreten Fall entscheiden.
«One of the essential qualities of the clinician is interest in humanity, for the secret of the care of the patient is in caring for the patient.»
(«Eine der grundlegenden Qualitäten des Arztes ist das Interesse an der Menschlichkeit, denn das Geheimnis der Patientenversorgung ist es, sich um den Patienten zu kümmern»).
Francis W. Peabody, 1927 [29]
Prof. Dr. med.
Thomas Kühlein
Universitätsklinikum
Erlangen
Allgemeinmedizinisches Institut
Krankenhausstraße 12
DE-91054 Erlangen
thomas.kuehlein[at]uk-erlangen.de
 1 Wikipedia. Phronesis – Klugheit. Online-Zugriff am 14.05.2019 unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Klugheit.
 2 Morgott M, Heinmüller S, Hueber S, Schedlbauer A, Kühlein T. Do guidelines help us to deviate from their recommendations when appropriate for the individual patient? A systematic survey of clinical practice guidelines. Accepted for Publication at J Eval Clin Pract 2019.
 3 Kuehlein T, Sghedoni D, Visentin G, Gérvas J, Jamoulle M. Quartäre Prävention, eine Aufgabe für Hausärzte. PrimaryCare. 2010;10(18):350–4.
 4 Kühlein T, Carvalho A, Viegas Dias C, Rodrigues D, Pinto D. Wie versorge ich meine Patienten mit ...? Selbstevaluation als eine Frage der Professionalität. Z Allg Med. 2017;93(10):396–401.
 5 Berg M, Mol A. Differences in medicine: an introduction. In Berg M, Mol A (eds.), Differences in medicine – unraveling practices, techniques and bodies. Duke University Press, Durham. 1998.
 6 Gabbay J, le May A. Evidence based guidelines or collectively constructed “mindlines?” Ethnographic study of knowledge management in primary care. BMJ. 2004;329;1013–8.
 7 Dachverband der Deutschsprachigen Wissenschaftlichen Osteologischen Fachgesellschaften e.V. (DVO). Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen und bei Männern. Langfassung, AWMF Register Nr. 183/001. Online Zugriff am 6.4.2019 unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/183-001l_S3_Osteoporose-Prophylaxe-Diagnostik-Therapie_2019-02.pdf.
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24 Cameron ID, Dyer SM, Panagoda CE, Murray GR, Hill KD, Cumming RG, Kerse N. Interventions for preventing falls in older people in care facilities and hospitals. Cochrane Database of Systematic Reviews. 2018, Issue 9. Art. No.: CD005465.
25 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheistwesen (IQWiG). IQWiG-Berichte – Nr. 609. Leitliniensynopse für ein DMP Osteoporose. Rapid Report. Auftrag: V17-02; Version: 1.0; Stand: 10.04.2018.
26 Leitlinienwatch. Beurteilung der Leilinie: Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei postmenopausalen Frauen und bei Männern des Dachverbands der Deutschsprachigen Wissenschaftlichen Osteologischen Fachgesellschaften e.V. (DVO) siehe Quelle 7. Onlinezugriff am 17.08.2019 unter: https://www.leitlinienwatch.de/prophylaxe-diagnostik-und-therapie-der-osteoporose/.
27 University of Cambridge. Winton Program for the Public Understanding of Risk. Understanding Uncertainty/ “The force of mortality”. Online Zugriff am 13.05.2019 unter: https://understandinguncertainty.org/lifespans.
28 Icks A, Haastert B, Wildner M, Becker C, Meyer G. Trend of hip fracture incidence in Germany 1995–2004: a population-based study. Osteoporos Int. (2008);19:1139–45.
29 Peabody FW. The Care of the Patient. JAMA. 1927;88:877–82.