Gibt es ein Leben nach der Praxis?
Altern lernen

Gibt es ein Leben nach der Praxis?

Reflexionen
Ausgabe
2020/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10149
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(05):183-184

Affiliations
Chefredaktor Primary and Hospital Care; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin, Zürich

Publiziert am 05.05.2020

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Auf diese zentrale Frage gibt es keine wissensbasierte Antwort, nur Hoffen und Glauben. Gibt es ein Leben nach der Praxis? Ja klar, aber wie soll es aussehen?

Mit der steigenden Lebenserwartung dehnt sich unser Lebensabend zum Lebensnachmittag, der sinnvoll ­gefüllt sein will. Je nach Herkunft heisst es für viele, ­weiter für die tägliche Existenz zu arbeiten, bis man nicht mehr kann; nicht alle sind so privilegiert wie wir. Wir, die wir in unserem Golden Age den Spielraum ­haben, das für uns passende ­Rentner-Lebensmodell auszuwählen. Einige versuchen dann, möglichst viel Erlebnis aus der Rest-Lebenszeit herauszupressen, füllen ihre To-do-Liste mit Kreuzfahrten, Berggipfeln und Elektrovelotouren – fast scheint es, eine Art rastlose Übung für die letzte Reise. Alles lange Aufgeschobene muss nun abgehakt werden, letzte Gelegenheit. Der Gegenentwurf ist 25 Jahre Dolce far niente, auch das wird kaum zum ­dauerhaften Glück, sondern schliesslich zur tödlichen Langeweile führen, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Philosoph Ludwig Hasler plädiert in einem lesenswerten Interview [1] zu seinem neuen Buch [2] dafür, dass der alternde Mensch nicht in die schrumpfende eigene Zukunft investieren solle, sondern in diejenige von Jungen. Durch deren Förderung und die Weitergabe von Erfahrung und Wissen könne der Alternde mitwirken an einer Zukunft, auch wenn sie nicht mehr seine sein wird. Haslers Rezept: Sich nützlich machen, sich gebraucht fühlen, eine Bedeutung für andere bekommen, und damit Sinn und Zufriedenheit finden.
Wir Ärztinnen und Ärzte kennen das vorgestellte ­Modell gut: Einige arbeiten bis 70 in der Praxis weiter, optimalerweise als Seniorinnen oder Senioren zu­sammen mit jungen Nachfolgern. Viele investieren nach der Praxisaufgabe ihre neu gewonnene Zeit in die ­Mithilfe beim Aufziehen der Enkel. Andere müssen erst noch üben, wie in der frühen Jugend zögerliche Schritte ­setzend, wie ihre Zeit nun zu verbringen sei. Durch ­unseren Beruf sind wir privilegiert, eine Vielzahl von Lebensentwürfen mitzuerleben: diejenigen unserer Patientinnen und Patienten. Wir leiden auch mit ihnen, wenn die Pläne mitunter brutal von schwerer Krankheit durchkreuzt werden.
Vergessen wir nicht die Leidenschaft, die Kreativität – wo sie eher der Jugend zugeschrieben wird, kann sie sich im Alter sehr wohl entfalten. Bei Künstlern oft ­obsessiv und selbstzerstörerisch, kann sie die Lebenszeit enorm anreichern. Manchmal muss Kreativität einfach bedient werden: «I work to feed my creativity ­rather than for the money», meinte der kürzlich verstorbende Schauspieler Peter Fonda dazu.
Zum Schluss zurück zur Eingangsfrage. Natürlich habe ich dazu auch keine endgültige Antwort und kein Rezept. Hören wir noch einmal Ludwig Hasler dazu, mit einer elegant-hintergründigen Antwort zur Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gäbe [1]: «Sicher. Aber muss es unbedingt mein eigenes sein?».
Prof. Dr. med. Stefan ­Neuner-Jehle
MPH, Institut für ­Hausarztmedizin
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
Stefan.Neuner-Jehle[at]usz.ch
1 «TagesAnzeiger» vom 20.8.2019.
2 Ludwig Hasler. Für ein Alter, das noch was vorhat. Mitwirken an der Zukunft. 144 Seiten. August 2019. Rüffer & Rub, Zürich.. ISBN: 978-3-906304-53-3.