Die Gaben der Pandora
Griechische Mythologie für die Sprechstunde

Die Gaben der Pandora

Reflexionen
Ausgabe
2020/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10163
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(10):320

Affiliations
Chefredaktor Primary and Hospital Care; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin Zürich

Publiziert am 06.10.2020

Schon als Kind war ich fasziniert vom Kosmos der griechischen Götter, von ihren Leidenschaften und Abenteuern. Kürzlich ist mir die Geschichte der Pandora wieder in den Sinn gekommen, auf der Suche nach einer treffenden Metapher für Schwierigkeiten, denen wir im Arbeitsalltag begegnen.

Die Geschichte der Pandora hat eine mythologische Vorgeschichte, ohne die wir ihre Rolle nicht verstehen können. Prometheus – wörtlich der Vorausdenkende – war ein Fürsprecher und Beschützer der Menschen. Das passte dem Göttervater Zeus nicht, der in den Menschen potentielle Konkurrenten und damit seine Macht bedroht sah. Um Prometheus und seine Schützlinge in die Schranken zu weisen, verweigerte Zeus den Menschen den Besitz des Feuers. Daraufhin rebellierte Prometheus, stahl das Feuer und brachte es den Menschen, wofür er von Zeus grausam bestraft wurde. Doch auch an den Menschen wollte Zeus sich rächen und liess eine «Superfrau» erschaffen: Pandora, die über alle Gaben Verfügende, das heisst, von jeder Gottheit mit einem besonderen Talent ausgestattet. Dazu bekam sie ein verschlossenes Gefäss (die Büchse), in der alle der Menschheit bisher unbekannten Übel enthalten waren. Nun wurde sie dem Bruder des Prometheus zugeführt – Epimetheus, der nachher Denkende (!) – und trotz der Warnungen seines Bruders erlag Epimetheus den Reizen der Schönen und heiratete sie. Die Büchse, als Geschenk der Götter, wurde nun geöffnet und – maledetto! – die Ängste, Sorgen, Kummer, Krankheiten, selbst der Tod traten aus und plagen seither die Menschheit.
In Analogie dazu kommt es uns als Ärztinnen und Ärzten manchmal vor, als ob wir die Büchse der Pandora öffneten, wenn wir in der Sprechstunde komplexe, belastete Patientinnen und Patienten betreuen. Bieten wir ihnen ein offenes Ohr, stürzt eine Flut von Problemen und Beschwerden über uns herein. Die Vielzahl der Probleme, zum Beispiel bei multimorbiden Patientinnen und Patienten, überfordert uns. Im Wissen um den Zeitdruck der Sprechstunde wünscht man sich kurz, diese Büchse nie geöffnet zu haben … Bevor man sich besinnt und die Herausforderung, den Auftrag und das Leiden der Patienten annimmt.
Glücklicherweise hat die üble Geschichte der Pandora noch eine versöhnliche Note, denn ganz am Boden der Büchse hat Zeus noch etwas mit hineingepackt: die Hoffnung! Je nach historischer Quelle wurde die Büchse aber wieder verschlossen, bevor diese entweichen konnte (https://de.wikipedia.org/wiki/Pandora). Besser gefällt mir die Variante, dass auch die Hoffnung frei wurde und dass sie uns seither gegen die Übel beisteht. Bemerkenswert ist noch, dass die Hoffnung die übermächtige Dominanz der Übel in der Büchse unbeschadet überstanden hat.
Zurück zur Sprechstunde mit dieser Fortsetzung der Geschichte: Wenn die Büchse (die Last) des Patienten nun offen ist, dann nehmen wir doch dankbar die Hoffnung auf, dass wir seine Last gemeinsam bewältigen und seine Leiden lindern können. Es wird sich lohnen, sie als Gegengewicht zu den offenbarten Leiden im weiteren Gespräch wahrzunehmen und zu nutzen.
John William Waterhouse (1847–1917), Pandora, 1898, Öl auf Leinwand, 91.1 × 152 cm, Privatsammlung. Wikimedia Commons.
Prof. Dr. med.
Stefan Neuner-Jehle
MPH, Institut für ­Hausarzt­medizin Zürich
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
stefan.neuner-jehle[at]usz.ch