Rassismuskritisch verhalten
Skill-Training Folge 2

Rassismuskritisch verhalten

Arbeitsalltag
Ausgabe
2020/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10172
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(02):70-71

Affiliations
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, spez. Psychosomatische Medizin SAPPM, Senior Editor PHC

Publiziert am 05.02.2020

Ein 36-jähriger Kenianer mit Schweizer Pass wird mir vom Universitätsspital Basel wegen Schwierigkeiten zugewiesen, die er bei der Verarbeitung nach Einsetzen eines Herzschrittmachers durchlebt.

Die Intervention

«Ich realisiere, wie wenig ich von Ihnen und Ihrem Schicksal weiss. Sind Sie bereit, mir von Ihnen zu erzählen, damit ich mir ein Bild machen kann, aus ­welcher Kultur Sie stammen und wie es Ihnen hier in unserer Stadt ergeht?»
(Warten. Zeit lassen. Zuhören. Empathisch nachfragen. Raum lassen.)
«Erleben Sie in Ihrem Alltag Rassismus?» Oder: «Es beschämt mich, dass Sie heutzutage und in einer so aufgeschlossenen Gesellschaft wie der unseren, einem derartigen Fremdenhass und täglichen Rassismus ausgeliefert sind.»
(Warten. Zeit lassen. Zuhören. Empathisch nachfragen. Raum lassen.)
«Habe ich mich Ihnen gegenüber schon diskriminierend geäussert? Bitte trauen Sie sich, mich darauf aufmerksam zu machen.»

Die Indikation

Ich sitze einem schwarzen Patienten aus Afrika gegenüber. Ich realisiere, wie fremd er mir ist und wie viele Vorurteile ich ihm gegenüber hege. Ihm, Fremdem, Andersartigem überhaupt. Das schmerzt eigentlich – doch wie führe ich jetzt das Gespräch? Korrekterweise müsste ich wohl etwas dazu sagen, dass ich das zwar weiss, jedoch nicht unbedingt realisiere, von mir ­eigentlich denke, ich sei nicht rassistisch und dass mir deswegen die Gesprächsführung auch schwer fällt. Ja: Ich weiss das und ich darf es auch meinem Gesprächspartner gegenüber äussern. Dies erlebt er wahrscheinlich als vertrauensbildend – wir sind beide nur Menschen und das Phänomen Fremdheit ist legitim. Gegenseitiges Verstehen und Aufeinanderzugehen geschieht nur, wenn wir uns auf Augenhöhe begegnen. Unsere Überlegenheit sprachlich, fachlich, situativ vermischt sich schnell mit den rassistischen Vorurteilen, die durch unsere Sozialisierung vorgegeben sind. Das ist Fakt.

Die Theorie

In ihrem Buch «exit RACISM – rassismuskritisch Denken lernen» zeigt Tupoka Ogette [1], wie Rassismus funktioniert und wie tief er in unserer Gesellschaft verankert ist. Und dass dieser Rassismus oft in Kontexten passiert, in denen sich die Menschen für tolerant, fair und vor allem für «antirassistisch» halten. Wir brauchen uns dafür nicht zu schämen, jedoch sollten wir verstehen, dass nicht-weisse, nicht-europäische Menschen dehumanisiert wurden, damit das Konstrukt der Kolonialisierung einen «Sinn» ergab. Damit sind auch wir auf­gewachsen. Das Buch zeigt überzeugend, wie fatal es ist, dass unsere Schulbildung, unser ­Geschichtsbewusstsein und unser Selbstverständnis auf dieser rassistischen Erziehung aufbaut und wie schmerzlich dieses Eingeständnis für uns ist.

Die Geschichte

Ein 36-jähriger Kenianer mit Schweizer Pass wird mir vom Universitätsspital Basel wegen Schwierigkeiten zugewiesen, die er bei der Verarbeitung nach Einsetzen eines Herzschrittmachers durchlebt. Während andere noch am gleichen Tag nach Hause entlassen werden, bleibt er zehn Tage im Spital. Verunsichert durch ­Aussagen der Ärzte, die keine klare Ursache für seine diffusen Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen, ­Palpitationen, unkontrolliertes Zusammenzucken (Shakings) haben, vereinbare ich vorerst fünf Sitzungen mit ihm. Hinzu kommen hypochondrische und zwangsneurotische Züge, zum Beispiel müsse er beim Weggehen wiederholt zurück, um sich zu vergewissern, dass die Tür wirklich verschlossen ist.
Als Folge der vielen Arztbesuche und Überweisungen zu Neurologen, Psychiatern, HNO und Kardiologen erhielt er 2014 bei AV-Block III° unklarer Ätiologie einen Schrittmacher implantiert und wenig später wegen Hypopnoe bei schwerem obstruktivem Schlafapnoe-Syndrom eine CPAP-Maske nachts verordnet.
Über mehrere Sitzungen lerne ich seine ganze Geschichte kennen: Als Kind war er schon immer kränklich und litt an «frontal headache» und Herzrasen. Die damalige Behandlung bestand aus Hautschnitten im Herzgebiet und Auftragen einer schwarzen Masse. Er wäre in seinem Ursprungsland – nachdem sein Vater starb – für eine Führungsposition vorgesehen gewesen, fühlte sich dieser Verantwortung jedoch nicht gewachsen und sah keinen anderen Ausweg, als mittels Schlepper über Italien nach Deutschland zu flüchten. Auf der Bootsfahrt, wo auf engstem Raum 50 Personen nebeneinander lagen, realisierte er, dass einige tot ­waren. Zusammenhänge der traumatischen Schnitte ums Herz und der Implantation des Herzschrittmachers beginnen, Sinn zu machen. Das wird ihm erst in unseren Gesprächen bewusst und er merkt, wie verdrängt diese Erinnerungen sind, und dass er noch nie darüber gesprochen hat. Aus kenianischer Sicht ist es ein Privileg, in der Schweiz zu leben – jedoch auch eine Aufgabe und Pflicht, etwas zu leisten; dem kann er ­offensichtlich nicht gerecht werden. Daraus entstehen weitere Schuldgefühle seiner Ursprungsfamilie gegenüber.
Das Schlimmste für ihn ist, dass die Leute ihm seine Geschichte wie auch seine Symptome nicht glauben: Das sei nicht möglich, meinen sie – insbesondere, wenn er von den schweren Traumata seiner Flucht, von Voodoo oder Demütigungen am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche berichtet. So erging es ihm auch bei Ärztinnen und Ärzten, die ihm – lege artis – weder Schlaftabletten noch Antidepressiva verordnen: Psych­iater wegen einer negativen T-Welle und Kardiologen, weil das nicht ihr Gebiet sei.
Erst seitdem wir über den Rassismus, dem er hier täglich begegnet, reden und auch unsere Begegnungen «rassismuskritisch» anschauen, ist das Vertrauen gewachsen, das uns erlaubt, uns achtsam seinen Symptomen zu widmen und sie als Ausdruck all seiner Ver­letzungen wahrzunehmen. Heute kann er auch über Voodoo mit mir sprechen und über schwarze Magie, von der er sich aus seiner Heimat bedroht und bestraft fühlt.
Haben all diese Gespräche, Erzählungen und Erkenntnisse geholfen? Seine Symptome werden wohl noch andauern. Doch mit einem gewissen Stolz kann er heute zu seinem Narrativ stehen, kann Scham und Schuld kritisch hinterfragen und hat an Selbstvertrauen gewonnen. Er wehrt sich jetzt, statt sich selbst zu bestrafen. Schon zweimal hat er vor der Schlichtungsstelle gewonnen und an der Arbeitsstelle eine Entschuldigung eingefordert, dafür, dass er als «König von Afrika» oder «kenianischer Gorilla» betitelt wurde.

Die Übung

Die Lektüre von Tupoka Ogettes Buch über den historischen Rassismus hilft zu verstehen und lohnt sich in jedem Fall – nicht nur für die Begegnung mit Menschen schwarzer Hautfarbe. Übe, «rassismuskritisch» denken zu lernen. Überprüfe dies bei Patientinnen und Patienten, die dir fremd sind – andere Religionen, fremde Kulturen, dir fremde sexuelle Ausrichtungen – und zu guter Letzt gilt dies bei jedem Gegenüber. Folge Tupoka Odettes Tipp: «Hör ehrlich zu. Und dies, ohne dabei defensiv zu werden, wenn du etwas erfährst, was du nicht hören möchtest.»

Skill-Trainings

In der Skill-Training-Reihe von Primary and Hospital Care möchten wir einfache Kommunikationshilfen für den Alltag vorstellen, die jedem Hausarzt, jeder Hausärztin in der Sprechstunde helfen, die psychosomatisch-psychosoziale Achse näher zu verfolgen. Feedbacks und Fragen zu dieser Serie sind willkommen in der Kommentarfunktion unterhalb des Textes in der Online-Version des Artikels auf primary-hospital-care.ch.
2014 wurde bereits eine erste Serie des Skill-Trainings publiziert. Sie finden sie im Archiv (primary-hospital-care.ch/archiv), indem Sie in der Volltextsuche den ­Namen des Autors ­Pierre Loeb und «skill» eingeben.
Dr. med. Pierre Loeb
Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, Psychosomatische Medizin SAPPM
Winkelriedplatz 4
CH-4053 Basel
loeb[at]hin.ch
1 Ogette T. exit RACISM – rassismuskritisch denken lernen. 2nd ed. Münster: UNRAST Verlag; 2018.