Sind wir Hausärzte bereit für Palliative Care?
Betreuung durch alle Lebensphasen

Sind wir Hausärzte bereit für Palliative Care?

Arbeitsalltag
Ausgabe
2020/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10189
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(02):77-78

Affiliations
a Hausarzt; b Cheffe du service de médecine palliative HUG; c Directrice de l’Unité des Internistes généralistes et Pédiatres, Faculté de Médecine Genève; d Hausärztin, Vorstand SGAIM; e Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel; f Hausärztin, Vostand mfe; g Arbeitsgruppe Palliative Care mfe/SGAIM

Publiziert am 05.02.2020

Wir Hausärztinnen und Hausärzte betreuen Patienten durch alle Lebensphasen hindurch bis zum Ende. Wie gut sind wir darauf vorbereitet, dass am Ende plötzlich Anderes als die Diagnoseliste wichtig ist? Darauf, dass vielleicht nicht wir die wichtigsten Bezugspersonen für unseren Patienten sind? Sind wir darauf vorbereitet, Menschen mit fortschreitenden mehrheitlich chronischen Erkrankungen zeitgerecht als Palliativpatienten zu identifizieren?

SGAIM, mfe und palliative.ch haben ein Commitment beschlossen, um die Aufmerksamkeit ihrer Mitglieder auf die letzte Lebensphase zu lenken. Standards und Tools der Palliative Care sollen in Aus-, Weiter- und Fortbildung ihren Platz finden.

Commitment

SGAIM, mfe und palliative.ch anerkennen, dass palliative ­Patientinnen und Pa­tienten regional und in einem interprofes­sionellen Setting betreut werden. Sie setzen sich dafür ein, dass unter ihren Mitgliedern die Standards und Tools der Palliative Care (wie Runder Tisch, Betreuungsplan und Assessment wie beispielsweise nach SENS-Modell [1]) bekannt sind und der erhöhte Arbeitsaufwand, der bei palliativen Patienten notwendig ist, im Tarif korrekt abgebildet wird.

Stellen Sie sich vor ...

Stellen Sie sich vor, Sie wären ein 63-jähriger erfolgreicher Geschäftsmann, dem das Leben nicht nur Arbeit, sondern auch viele Annehmlichkeiten geschenkt hat. Sie zählen auf einen grossen Freundeskreis, und mit Ihrer Lebenspartnerin gönnen Sie sich ausgedehnte Reisen. Ihre Ehe fiel Ihrem beruflichen Engagement zum Opfer. Ihre Kinder sind zwischenzeitlich erwachsen geworden und ausgeflogen.
Vor zwei Jahren wurden Sie wegen Bauchschmerzen abgeklärt und das diagnostizierte Pankreaskarzinom wurde erfolgreich operiert sowie chemotherapeutisch behandelt. Glück gehabt! Bis vor einer Woche hatten Sie die Dinge im Griff. Nun ist aber alles anders. Der Krebs hat Sie wieder und Sie realisieren, dass Ihre Tage wohl gezählt sind. Bisher sprachen alle nur vom «Schönwetterplan»! Die Bedeutung der Blutwerte und CT-Befunde haben die Gespräche bestimmt und die Fragen über das weitere Schicksal wurden geschickt umgangen. Der «Schlechtwetterplan» war bisher kein Thema.
Sie fragen sich, wie Sie Ihre menschlichen Grundbedürfnisse nach Selbstbestimmung und Beziehung bzw. Ihrem Bedürfnis nach Zuwendung und Aufgehobensein in Ihrem letzten Lebensabschnitt umsetzen können. Eine Patientenverfügung wäre jetzt hilfreich. «Was bedeutet für mich Lebensqualität? Welche Behandlung möchte ich noch in Anspruch nehmen? ­Welches sollen die Therapieziele sein? Wo möchte ich meine letzten Lebenstage verbringen und welche ­Unterstützung benötige ich hierfür? Mit wem könnte ich darüber sprechen? Von wem darf ich menschliche Zuwendung und Hilfestellung erwarten?» Sie realisieren, dass Sie diese Herausforderungen alleine nicht mehr bewältigen.
Ihr Wunsch, bis zum Schluss daheim zu bleiben, erfordert die Zustimmung und den Einsatz Ihrer Liebsten und letztendlich ein professionelles Team, das Ihnen hilft, diese Eigernordwand zu bezwingen. Eigenes Training, eine gute Ausrüstung und eine Seilschaft, die Sie vor dem Absturz bewahrt.
Vorerst brauchen Sie einen Plan, einen Betreuungsplan. Und um diesen zu erstellen, wird ein Runder Tisch organisiert und Fragen werden geklärt: Wer macht was und mit welcher Kompetenz? Es ist beruhigend zu wissen, dass Sie bereit sind, die Ausrüstung stimmt, für Notfälle vorgesorgt ist und Ihr Team Sie gut gesichert über die Eiger­nordwand führt. Schön wäre es, wenn das Team auch bei Sturm und Regen gut vernetzt ist und sich aus­tauschen kann.
Können Sie sich als Hausärztin oder Hausarzt vorstellen, diesen Menschen auf seinem letzten Lebensweg zu begleiten? Ihn frühzeitig auf eine Patientenverfügung aufmerksam zu machen? Seinem Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und seinem Wunsch nach Geborgenheit und Aufgehobensein nachzukommen? An einem Runden Tisch in einem interprofessionellen Setting einen Betreuungsplan gemeinsam zu erarbeiten? Diesen Betreuungsplan, zum Beispiel nach dem SENS-Modell, das diese menschlichen Grundbedürfnisse nach Selbstbestimmung in einem sozialen Kontext abbildet, auszugestalten? Und schlussendlich für eine gute Vernetzung, zum Beispiel mit einer interprofessionellen digitalen Plattform, zu sorgen?
Ihr Patient, seine Angehörigen und das ganze Team werden Ihnen sehr dankbar sein! Und vielleicht ­können auch Sie selbst in der Rolle als Patientin oder Patient eines Tages von einem solchen Vorgehen profitieren.

Das Wichtigste in Kürze

– Eine erfolgreiche Umsetzung von Palliative Care im ambulanten Setting geschieht regional und in einem interprofessionellen Team.
– Die regionale Verankerung fördert das gegenseitige Verständnis und hilft bei der Klärung der Kompetenzen und Aufgaben.
– Das interprofessionelle Team richtet sich nach konsensbasierten Standards und Tools (Runder Tisch, Betreuungsplan und Assessment wie beispielsweise SENS-Modell).
– Eine interprofessionelle digitale Plattform erleichtert die gute Zusammenarbeit im Team.
Dieser Artikel ist Teil der Serie «Palliative Info». Gasteditorin dieser Serie ist Prof. Dr. med. Sophie Pautex, Hôpitaux universitaires de Genève (HUG).
Dr. med. Eva Kaiser
Vorstandsmitglied ­Hausärzte Schweiz
Allgemeine Innere Medizin FMH
Aerztezentrum Oberhasli
Spitalstrasse 13
CH-3860 Meiringen
eva.kaiser[at]hausaerzteschweiz.ch
1 Eychmüller S. SENS macht Sinn – Der Weg zu einer neuen Assessment-Struktur in der Palliative Care. Therapeutische Umschau 2012;69(2):87–90.