«Rückblickend hätte ich mir in meiner Jugend einen Genesungsbegleiter gewünscht»
Tag der Kranken 2020

«Rückblickend hätte ich mir in meiner Jugend einen Genesungsbegleiter gewünscht»

Aktuelles
Ausgabe
2020/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10196
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(02):50-52

Affiliations
Kommunikationsbeauftragte mfe, Haus- und Kinderärzte Schweiz

Publiziert am 05.02.2020

In der ganzen Schweiz werden am 1. März 2020, dem «Tag der Kranken», Veranstaltungen und Aktionen durchgeführt. Mit dem Motto «Ich bin mehr als meine Krankheit(en)» möchten wir 2020 aufzeigen, dass viele kranke und beeinträchtigte Menschen wichtige Stützen unserer Gesellschaft sind.

Frau Walser, am 1. März 2020, dem Tag der Kranken, sollen Menschen, die von einer Krankheit betroffen sind, zu Wort kommen. Welche Krankheit ist das in Ihrem Fall?
Ich erlebe wiederkehrende, depressive Episoden und bewältige meinen Alltag mit einer emotionalen Instabilität.
Inwiefern fühlen Sie sich mit dem Motto des Tag der Kranken 2020, «Ich bin mehr als meine Krankheit(en)», verbunden?
Durch die Therapie und die Bedeutung von Recovery habe ich schrittweise gelernt, dass ich nicht meine Symp­tome bin. Sie sind ein Teil von mir, aber nicht meine Identität. Ich kann am Leben teilnehmen, zum Beispiel arbeiten gehen, Sport treiben oder den Müll herunterbringen. Inmitten meiner Alltagsaktivitäten erlaube ich mir auch, gross zu träumen. In manchen Phasen bin ich einfach etwas reduzierter unterwegs, ruhebedürftiger oder mache eine Ehrenrunde im Sensibel-Sein.
Das diesjährige Motto «Ich bin mehr als meine Krankheit(en)» bedeutet für mich, dass ich mein Leben an meine Werte anpasse und nicht umgekehrt. Mit ­dieser Haltung kann ich meine Lebensqualität steigern und auch ein gutes Leben haben. Mein Leben wird durch meine Verletzlichkeiten sogar mit einer enormen Tiefe bereichert, was mich die schönen Momente unsagbar geniessen lässt und Dankbarkeit lehrt.

Zur Person

Noémie Walser ist 29 Jahre jung und wohnt in Goldach am Bodensee. Sie ist Logistikerin bei der A. Vogel AG und als Genesungs­begleiterin tätig. In ihrer Freizeit pflegt sie die Liebe zum Wander­paradies im Alpstein und bloggt auf noemie-erzaehlt.ch über ihr liebstes Hobby: die psychische Gesundheit. Die Artikel sollen Mut machen für den eigenen Recovery-Weg und die teils schwere Thematik mit einer Prise Humor auflockern.
Wie lange haben Sie gebraucht, bis Sie sich mit der Krankheit und der veränderten Situation zurecht­gefunden haben?
Das war ein jahrelanger Prozess. Mein Leben musste sich mehrmals um die eigene Achse drehen, bis ich mich in meinem Leben wieder zurechtfand. Meine erste grosse Krise erlebte ich mit 15 Jahren. Es folgten ziemlich komische Versuche, ein gutes Leben hinzubekommen, weshalb ich mich immer wieder in unterschiedlichen Psychiatrien behandeln lassen musste. Mit 18 Jahren bekam ich eine IV-Rente, fünf Jahre später beendete ich die Wiedereingliederungsmassnahme zur Logistikerin mit Erfolg. Das war sinnbildlich der Startschuss für mein neues Leben. Dafür musste ich mich mit ungemütlichen Gefühlen hinsetzen, ehrlich reflektieren und an meinen Erfahrungen lernen. Heute führe ich ein Leben, das früher unerreichbar in ­einer Seifenblase vor sich hin blubberte.
Fühlen Sie sich von Ihrer Hausärztin unterstützt?
Oh ja – ich fühle mich von meiner Hausärztin sehr ­unterstützt!
Was können Hausärztinnen und Hausärzte tun, um Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung zu stärken?
Ich fühle mich unterstützt, wenn sich ein Arzt die Zeit nimmt, mir aufmerksam zuzuhören. Durch das «Gehört werden» kann Vertrauen entstehen, das mir aus zwei Gründen sehr wichtig ist. Einerseits reagiere ich auch auf körperlicher Ebene hochsensibel, was zum Beispiel bei einer simplen Schmerztablette bereits zu heftigen Nebenwirkungen führen kann. Andererseits trägt eine Fachperson zu einer gelingenden Therapie bei, wenn sie mir ehrlich sagt, dass es wieder gut kommt. Gerne kann das auch nonverbal mitgeteilt werden. Zum Beispiel durch ein Lächeln, das mir wieder Zuversicht schenkt. Oder das Gefühl, dass meine Beschwerden trotz dichtem Terminkalender des Arztes nicht als Hauruck-Aktion angesehen werden. Es sind für mich die scheinbar kleinen Gesten, die mich inmitten meiner Defizite spüren lassen, bereits auf dem Weg der Besserung zu sein.
Wie können und möchten Sie anderen Betroffen Mut machen?
Vor einigen Jahren dachte ich, dass ich es niemals aus diesen Krisen schaffe. Umso schöner hat das Leben zu diesem «niemals» oft noch gute Alternativen. Das bedeutet nicht, dass alle Schmerzen oder Ängste plötzlich verschwunden sind, sondern das Leben «trotzdem» oder gerade deswegen zu fühlen. Ich möchte Menschen, die psychisch gehandicapt sind, ermutigen, die eigenen Träume nicht aufzugeben. Wir können mehr, als wir uns manchmal zutrauen! Vielleicht dauert es etwas länger, aber Recovery ist möglich!
Aber bitte keinen Druck aufsetzen. Wir müssen keinen einwandfreien Lebenslauf zusammen puzzeln oder künstlerische Pirouetten vorführen. Wenn wir wissen, wie wir die Lebensqualität für unser Leben definieren möchten, wandern wir bereits auf unserem Recovery-Weg.
Sie unterstützen als Peer andere Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Wie kam es zu diesem Engagement und was beinhaltet die Arbeit als Peer?
Rückblickend hätte ich mir in meiner Jugend einen Peer/Genesungsbegleiter gewünscht, der meine inneren Dialoge und Gedankengänge verstehen und in Worte hätte fassen können. Das hat mich motiviert, mich für die Weiterbildung «Experienced Involvement» vom Verein EX-IN-Schweiz zu bewerben, um anderen Betroffenen diese Begleitung zu ermöglichen.
Da ich die Weiterbildung im Mai 2020 abschliesse, finde ich aktuell durch verschiedenen Praktika heraus, in welchen Bereichen ich mich in Zukunft engagieren möchte. Ich habe auf einer Psychotherapiestation gearbeitet, mein Erfahrungswissen durfte ich aber auch auf öffentlichen Vorträgen, in Schulen, Workshops oder als Teaminput weitergeben. Es liegt mir sehr am Herzen, mit einer Prise Humor Aufklärungsarbeit zu leisten und zu zeigen, dass es ziemlich cool sein kann, sich selbst gut zu schauen – ohne eine ernstzunehmende Krankheit ins Lächerliche zu ziehen.
Was möchten Sie anderen Menschen und unserer Gesellschaft mitgeben?
Anderen Menschen möchte ich mitgeben, öfters den Mut zu haben, offen über ihre Sorgen und Probleme zu reden. Teilt euch mit, redet darüber, schreibt es euch von der Seele – bei einer Freundin, dem Hausarzt oder anonym bei der Telefonseelsorge. Sich Hilfe zu suchen, ist ein sehr gesunder Impuls!
In Bezug auf die Gesellschaft liegt mir eine Sache besonders am Herzen. Als IV-Rentnerin empfand ich eine ­Woche Praktikum als weit mehr als nur fünf Tage ­«Privatwirtschaft schnuppern». Es bedeutete eine völlig neue Welt, eine Perspektive, ein Stück Normalität. Ich würde mir wünschen, dass in Zukunft immer mehr Arbeit­geber die Gaben und Talente aller Menschen ­sehen und das Bedürfnis verspüren, Perspektiven zu ermög­lichen.

Verein «Tag der Kranken» – Über 80 Jahre Engagement für kranke und beeinträchtigte Menschen

Der «Tag der Kranken» wurde erstmals 1939 begangen und ist heute ein gemeinnütziger Verein. Mitglieder sind sowohl Patientenorganisationen als auch Gesundheitsligen, Branchen- und Fachverbände, die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) sowie andere im Gesundheitswesen tätige Vereinigungen und Verbände. Auch mfe gehört zu den Mitgliedern und engagiert sich.
Einmal pro Jahr sensibilisiert der Tag der Kranken die Bevölkerung zu ­einem besonderen Thema aus dem Bereich Gesundheit und Krankheit. Ziel ist es, die Beziehungen zwischen Kranken und Gesunden zu fördern, Verständnis für die Bedürfnisse der Kranken zu schaffen und an die Pflichten der Gesunden gegenüber kranken Menschen zu erinnern. Zudem setzt sich der Verein für die Anerkennung der Tätigkeiten all jener ein, die sich beruflich und privat für Patientinnen und Patienten sowie für Kranke engagieren. Der Verein finanziert sich über Mitgliederbeiträge und Spenden.

Den Menschen wahrnehmen und nicht nur die Krankheit(en)

In der ganzen Schweiz werden am 1. März 2020, dem «Tag der Kranken», Veranstaltungen und Aktionen durchgeführt. Mit dem Motto «Ich bin mehr als meine Krankheit(en)» möchten wir 2020 aufzeigen, dass viele kranke und beeinträchtigte Menschen wichtige Stützen unserer Gesellschaft sind. Die Krankheit beeinflusst zwar den Alltag und braucht Zeit und Raum, aber gerade bei chronischen Krankheiten besteht das Leben auch noch aus anderen Inhalten. Dies zeigen beispielsweise die Zahlen einer Spezialauswertung des Schweizer Haushalt-Panel. Die Daten lassen ebenfalls darauf schliessen, dass die soziale Teilhabe bei einer chronischen Krankheit einen positiven Einfluss auf die ­Lebensqualität und den wahrgenommenen Gesundheitszustand hat. In dem Sinne möchten wir die Be­völkerung einladen, da zu sein füreinander und insbesondere für diejenigen, denen es gerade nicht so gut geht.
Hinter dem Tag steht der gleichnamige Trägerverein. In der Rubrik «Aktivitäten» der Website www.­tagderkranken.ch sehen ­Interessierte, welche Ver­anstaltungen wo und wann stattfinden. Auch eigene Aktivitäten können dort ­angemeldet werden.
Ansprechpartnerin: Nicole Fivaz, Leiterin Geschäftsstelle Tag der Kranken, Mobile: 079 214 28 34, E-Mail: info[at]tagderkranken.ch

Genesungsbegleitung – ein Angebot mit Zukunft

Genesungsbegleiterinnen und -begleiter sind für Menschen mit psychischen Krisen wichtige Stützen. Sie zeigen Wege auf, wie es gelingen kann, wieder Vertrauen in sich selber und das Leben zu gewinnen. Genesungsbegleitende – auch Peers genannt – sind Menschen, die eigene Erfahrungen mit seelischer ­Erschütterung und psychiatrischen Institutionen gemacht haben. Sie haben sich intensiv mit ihrer Krankheits- und Genesungsgeschichte auseinandergesetzt und individuelle Strategien zur Bewältigung von Krisen und dem Erhalt ihrer Lebensqualität erarbeitet. Genesungsbegleitende haben die europäisch zertifizierte Weiterbildung EX-IN (Experienced Involvement) absolviert. Ihr Erfahrungswissen stellen sie ­Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen zur ­Verfügung. Sie möchten Hoffnung und Zuversicht vermitteln und andere Menschen auf dem ganz persönlichen Gesundungsweg fördern und begleiten. Das Angebot der Peers ergänzt die Leistungen des Hausarztes und des Psychiaters und bringt oftmals neue Perspektiven – nicht nur für die Patientinnen und Patienten. Derzeit gibt es noch kein einheitliches System für die Abrechnung der Genesungsbegleitung. Peers, die in Institutionen arbeiten, können in der Regel über die Krankenkassen abrechnen. ­www.ex-in-schweiz.ch
Sandra Hügli-Jost
Kommunikations­beauftragte
mfe Hausund
Kinderärzte Schweiz
Geschäftsstelle
Effingerstrasse 2
CH-3011 Bern
Sandra.Huegli[at]hausaerzteschweiz.ch