Die gängigen Therapieansätze nach einem Suizidversuch sind allbekannt, die Rückfallquote enorm hoch. Ein neues Kurzinterventionsprogramm sagt dem den Kampf an.
Suizidversuche sind zu einem sehr häufigen Konsultationsgrund geworden. Dies kommt nicht von ungefähr. Viele psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen bergen die Gefahr für Suizidversuche und Suizide. Besonders gefährdet sind Patientinnen und Patienten, die bereits einen Suizidersuch unternommen haben. Um dieses erhöhte Risiko zu vermindern, wurde durch ein Berner Forscherteam eine spezifische Therapie entwickelt.
ASSIP
Durch die Kurztherapie zur Prävention wiederholter Suizidversuche «Attempted Suicide Short Intervention» (ASSIP) soll das Rezidivrisiko von Suizidversuchen minimiert werden. Dabei geht es darum, dass geschulte ASSIP-Therapeutinnen und -Therapeuten in einem definierten Setting Gespräche mit dem Betroffenen führen, die aufgezeichnet werden. Bei einem weiteren Treffen werden ebendiese Videoaufnahmen gemeinsam analysiert. Bei einem dritten Treffen versucht man gemeinsam, Muster und Abläufe, die einer suizidalen Krise vorausgehen, zu klären und präventive Verhaltensmassnahmen zu erarbeiten. Diese werden zu diesem Zeitpunkt für den Patienten schriftlich festgehalten. Anschliessend folgt auf Wunsch des Patienten ein anhaltender personalisierter brieflicher Kontakt über zwei Jahre hinweg.
Das Rezidivrisiko wird um 80% reduziert
Solche Interventionsgruppen gibt es jedoch nicht nur am Sanatorium Kirchberg. Auch in Solothurn (Psychiatrische Klinik), Bern (Universitäre Psychiatrische Dienste und Privatklinik Wyss) und Zürich (Universitäre Psychiatrische Dienste, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und im Aufbau an der Privatklinik Clienia Schlössli) kommen laufend Angebote hinzu. «Eine Studie von 2016 [1] belegt sogar, dass eine Intervention mit ASSIP das Rezidivrisiko eines erneuten Suizidversuches um 80% senkt», so Prof. Cattapan.
Eine Intervention zuhause ist möglich
Nicht alle Patientinnen und Patienten schätzen eine Intervention in der psychiatrischen Klinik. Viele fühlen sich in ihrem persönlichen Umfeld zuhause wohler und möchten daher lieber dort betreut werden. Auch dies stellt kein Problem dar. Wer nach einem Suizidversuch ein Home-Treatment in Anspruch nehmen möchte, kann dies bereits in vielen Städten der Schweiz tun. Eine Akutbehandlung zuhause wird bereits in Lausanne, Zürich, Luzern, im Tessin und Aargau angeboten. «Die Studienautoren zeigen aber auch die Grenzen vom Home-Treatment auf», erklärt Prof. Cattapan. «Die Angehörigen werden durch eine Intervention zuhause oft stark miteinbezogen, ausserdem sind bei einer Behandlung zuhause weniger Spezialangebote möglich. Hinzu kommt, dass eine Behandlung im häuslichen Umfeld grenzverletzend erlebt werden kann». Auch ist die Finanzierung von Home-Treatment-Angeboten im Vergleich zu stationären Behandlungsformen noch nicht einheitlich geregelt. Home-Treatment hat jedoch viele positive Seiten. Der Fokus auf dem sozialen Milieu und die Zusammenarbeit mit den Angehörigen stehen bei dieser Methode eindeutig im Vordergrund. Es ist auch für Patienten geeignet, die Schwierigkeiten mit dem Leben in einer Gemeinschaft auf einer Station haben.
ABCB1-Test – eine effektivere Depressionstherapie als Schritt zur personalisierten Medizin
Antidepressiva können das Leben eines betroffenen Patienten wieder ins Lot bringen. Doch welches ist denn eigentlich das richtige Medikament für meinen Patienten? Die Antwort auf diese Frage verspricht ein neues molekulargenetisches Diagnostikverfahren. Nicht jeder Patient reagiert gleich auf ein Antidepressivum, dies liegt unter anderem am ABCB1-Gen, das für das Wächtermolekül P-Glykoprotein (P-gp) der Blut-Hirn-Schranke codiert. Seine Genotypisierung entscheidet darüber, ob ein Antidepressivum die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann oder nicht, da diese Medikamente Substrate des P-Glykoproteins sind. Der neue ABCB1-Bluttest gibt Hinweise, welches das richtige Medikament ist und was die richtige Dosierung [2]. Hilfreich ist dies vor allem für die im Kasten 1 aufgeführten Medikamente. Die rund 248 Franken für den Test werden standardmässig nicht von der Krankenkasse übernommen, da die Studienlage noch unklar ist. Neben dem Wächtermolekül gibt es viele andere Faktoren, die massgeblich für die Wirkung der Antidepressiva zuständig sind. Nach der aktuellen Studienlage sagt klinisch die Bestimmung des Medikamentenspiegels im Blut mehr aus als der ABCB1-Test.
Kasten 1: Bei welchen Medikamenten kann ein Gentest hilfreich sein?
Gentest indiziert bei Substraten des P-Glykoproteins:
Paroxetin, Citalopram, Escitalopram, Venlafaxin, Amitriptylin, Amitriptylinoxid, Nortriptylin, Trimipramin, Sertralin, Vortioxetin, Levomilnacipran, Vilazodon, Hypericum (Johanniskraut)
Gentest nicht indiziert bei Non-Substraten des P-Glykoproteins:
Fluoxetin, Mirtazapin, Agomelatin, Bupropion
Somit empfehle es sich immer die Frage zu stellen, ob solch ein Gentest, ein Home-Treatment oder ein ASSIP beim eigenen Patienten Vorteile bringe oder nicht. Nur so sei es möglich in der heutigen Medizin einen individuellen, auf unseren Patienten abgestimmten Weg zu finden, der uns der personalisierten Medizin einen Schritt näherbringe.
Dr. med. Nadja Pecinska
Managing Editorin Primary and Hospital Care
EMH Schweizerischer Ärzteverlag
Farnsburgerstrasse 8
CH-4132 Muttenz
office[at]primary-hospital-care.ch
1 Gysin-Maillart A, et al. A Novel Brief Therapy for Patients Who Attempt Suicide: A 24-months follow-up randomized controlled study of the Attempted Suicide Short Intervention Program (ASSIP). PLoS Med. 2016 Mar 1;13(3). Free fulltext.
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