Die Visite als Instrument der spitalinternistischen Tätigkeit
Ein alter Zopf oder moderne ­interprofessionelle Teamarbeit?

Die Visite als Instrument der spitalinternistischen Tätigkeit

Arbeitsalltag
Ausgabe
2020/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10211
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(06):205-207

Affiliations
a Departement Innere Medizin, Stadtspital Waid und Triemli, Zürich;
b Departement Pflege, Soziales und Therapien, Stadtspital Waid und Triemli, Zürich

Publiziert am 02.06.2020

Die Visite ist ein wichtiges und in der Wertigkeit unterschätztes Instrument der spitalinternistischen Tätigkeit. Es fehlen dafür weitgehend Standards und klare Rahmenbedingungen. Eine strukturierte Visite ist für alle beteiligten Berufsgruppen und vor allem für die Patientinnen und Patienten gewinnbringend.

Hintergrund

Die Visite wurde als innovatives Modell für die medizinische Ausbildung im ausgehenden 17. Jahrhundert von italienischen Ärzten erstmals beschrieben und von Herman Boerhaave in Leyden als erfolgreiches Konzept weiterentwickelt. In der seminalen Analyse von Michel Foucault «Die Geburt der Klinik – Eine ­Archäologie des ärztlichen Blicks» wird die Visite stellvertretend für die Privilegien eines reinen Blicks zur objektiven Basis für die täglichen Erkenntnisprozesse [1]. Die wissenschaftliche Literatur zur Visite ist allerdings überschaubar. Und – angesichts des Stellenwertes, den die Visite im Klinikalltag einnimmt – scheint es denkwürdig, dass diese im Unterschied zu vielen anderen standardisierten Prozessen und Abläufen nicht häufiger Gegenstand von medizinischen Weiterbildungen ist. Der britische Intensivmediziner Matt Morgan hat dies eindrücklich formuliert: «It is surprising that, although I attend a compulsory resuscitation update annually, I have never been taught how to conduct a better ward round» [2].
Nach wie vor wird die Visite als mehr oder weniger hilfreiches Instrument von den beteiligten Berufsgruppen wahrgenommen. Häufig wird diese auch als alter Zopf, als Demonstration der Ärzteschaft ohne zeitliche Verbindlichkeit und als ressourcenintensive, entscheidungsarme Veranstaltung beschrieben. Dabei wird oft vergessen, wie zentral für den Patienten der tägliche Kontakt mit dem ganzen Behandlungsteam ist. In ­Beleuchtung der kritischen Punkte und Etablierung ­eines Visitenstandards mit klaren Rahmenbedingungen und Verbindlichkeiten sind wir zum Schluss ­gekommen, dass eine strukturierte Visite nach wie vor gewinnbringend für alle beteiligten Berufsgruppen und vor allem für die Patientinnen und Patienten ist. Damit bleibt die ­Visite das Instrument der spitalinternistischen Tätigkeit schlechthin: Am Patientenbett und im interdisziplinären Austausch werden täglich Befunde erhoben, Beurteilungen bestätigt, Konzepte revidiert. Die Visite wird so dem dynamischen und komplexen Prozess von Diagnose und Krankheits­verlauf während einer internistischen Hospitalisation gerecht.

Die Visite als kommunikative ­Herausforderung

Die Visite muss als eine der grössten kommunikativen Herausforderungen im Klinikalltag verstanden werden: Pflegende, Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten haben alle ihre ­eigene Agenda, ihre eigenen Fragen und wollen diese entsprechend beantwortet haben. Ein «Wirklichkeitsabgleich» muss stattfinden, ansonsten droht ein Ungleichgewicht, und wichtige Informationen gehen verloren [3]. Es ist eine grosse Kunst, diese verschiedenen Bedürfnisse abzugleichen und dabei den Patienten mit seinen Fragen, Unsicherheiten und Gefühlen ins Zentrum zu stellen. Dies muss immer wieder geübt und ­geschult werden [4, 5]. Dabei soll stets das oberste Ziel sein, Entscheidungen zusammen mit dem adäquat informierten Patienten und dem Behandlungsteam, das den Patienten aus verschiedenen Perspektiven kennt, zu treffen [6]. Denn wer kennt sie nicht, diese grosse unausgesprochene Verwirrung nach der Visite: Der Patient weiss nicht, ob er nach Hause gehen darf oder ob die Magenspiegelung nun stattfindet – um dies zu vermeiden, sollen die zwei wichtigsten Grundsätze der Arzt-Patienten-Kommunikation beachtet werden: Dem Patienten muss genügend Zeit gelassen werden, um seine Fragen zu klären (Warten – Wiederholen – Spiegeln – Zusammenfassen; WWSZ), Gefühle müssen benennt werden (Naming – Understanding – Respecting – Supporting; NURS) und nicht zuletzt muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Angst und Unsicherheit weniger aufnahmefähig machen und Informationen entsprechend fokussiert, einfach und empathisch weitergegeben und immer wieder wiederholt werden müssen [7]. Faktisch ist allerdings das Gegenteil der Fall: Heute erhält der ­Patient in sieben Minuten Visitenzeit bis zu 20 Informationen [3, 8].

Konkret: Der Visitenstandard am ­Stadtspital Triemli

Entwickelt wurde dieses Werkzeug 2015 von Ärzten und Pflegenden gemeinsam, wobei wir die Erfahrungen aus dem Basler Visitenstandard einfliessen ­liessen [4]. Fokussiert wurde dabei auf zwei Ebenen: Formale Rahmenbedingungen und Kommunikation.

Formale Rahmenbedingungen

Die formalen Rahmenbedingungen verfolgen das Ziel, sämtliche Störungen auszuschalten. Es wurde gezeigt, dass eine Visite von rund 5,5 Minuten mindestens drei bis fünf Mal gestört wird [9]. Die Instrumente sind einfach: Telefone werden umgeschaltet, der «Geist» im Zimmer nicht eingeschaltet und alle Berufsgruppen sind informiert (Türschild), so dass auf Unterbrechungen verzichtet wird. Dabei ist der zeitliche Rahmen der Visite klar vorgegeben. Für eine effiziente und gelingende Visite ist von allen Seiten eine gute Vorbereitung Pflicht [2]. Es wird entsprechend von allen Berufsgruppen erwartet – und der Patient dazu ermuntert – die ­Visite vorzubereiten: Es soll dabei – neben der Erfassung rein medizinisch aktueller Informationen – auch versucht werden, den Patienten in seinem ganzen psychosozialen Kontext kennenzulernen. Dafür werden von allen Berufsgruppen möglichst auch die Stakeholder aus dem ambulanten Setting (Hausärztinnen, Spitex, Familienangehörige etc.) kontaktiert und entsprechende Informationen eingeholt.

Kommunikation

Eine weitere Herausforderung ist die Sensibilisierung der involvierten Berufsgruppen bezüglich einer wertschätzenden, informativen und effizienten Kommunikation. Dafür müssen bestimmte Fragen geklärt sein: Wer leitet die Visite und koordiniert damit die Redebeiträge? Welche Informationen werden vom ärztlichen Dienst, welche vom pflegerischen Dienst erwartet? Und schliesslich: Wie sprechen wir mit den Patienten? Auch dazu gibt es zur Unterstützung formale Regeln:
– Die Pflege berichtet über das Befinden des Patienten während der letzten 24 Stunden;
– Vor dem Eintritt ins Zimmer werden maximal zwei bis drei Themen gemeinsam im Betreuungsteam festgelegt. Damit soll verhindert werden, dass die Patientin mit Informationen überschwemmt wird, und nur die vom Team antizipiert wichtigsten Punkte angesprochen werden;
– Es stellt sich das ganze Team während des Gesprächs an das Patientenbett. Nebengespräche werden nicht toleriert. Niemand versteckt sich hinter dem Visitenwagen – bei Bedarf kann sich jeder ins Gespräch mit dem Patienten einschalten. Ziel bleibt, dass die Berufsgruppen vom Patienten als Betreuungsteam wahrgenommen werden;
– Im Zimmer gilt der Grundsatz, dass nur mit dem ­Patienten und nie über ihn gesprochen wird. Die ­­Visite wird vom Arzt geleitet: Er koordiniert die ­Redebeiträge und führt durch das Gespräch mit der Patientin.
Für die Kommunikation lehren wir die zwei wichtigen Regeln WWSZ und NURS (s. oben). Dem Patienten wird dabei durch aktives Zuhören und Warten die Möglichkeit gegeben, seine Fragen anzubringen. Zum Schluss des Gesprächs am Bett wird immer aktiv nach Unklarheiten gefragt. Gefühle sollen angesprochen und respektiert werden, auch wenn diese häufig – und das ist die Realität – auf der Visite mit vielen Zuhörern nur marginal ergründet werden können. Braucht es mehr als ein kurzes Innehalten und Zuhören, soll – und so sind unsere Ärztinnen und Ärzte angeleitet – ein Vieraugengespräch zu einem späteren Zeitpunkt angeboten werden.
Unterstützt werden die Ärztinnen und Pflegenden durch eine Pocket-Karte, die auf dem Visitenwagen für alle sichtbar hinterlegt ist und die wichtigsten Punkte aufzeigt. Zudem wird wöchentlich eine «Visitenbegleitung» durchgeführt, bei der das Team während der Visite durch eine erfahrene Kaderärztin beobachtet wird und konkrete Feedbacks zur Kommunikation und Einhaltung der Rahmenbedingungen im Anschluss gegeben werden. Diese Form der beobachtenden Visitenbegleitung ist ein wichtiges Instrument zur Weiterbildung der Assistenzärztinnen und -ärzte zum Thema «patientenzentrierte Kommunikation» geworden [10].

Kritische Punkte

Immer wieder hinterfragt wird der Punkt des Vorgespräches vor dem Zimmer im Team und ohne Beisein des Patienten. Nach der mitunter fünfjährigen Erfahrung mit dieser Aufteilung der Visite sind in unseren Augen andere Formen (Gespräch in Anwesenheit des Patienten über Anamnese, Differenzialdiagnosen, Teachingaspekte etc.) nicht zielführend und verwirren den Patienten zusätzlich. Zudem bieten diese Vorgespräche ideale Momente, in denen gelehrt werden kann [11].
Als zweiter kritischer Punkt wird häufig der Zeitfaktor aufgebracht – die Ärzte fühlen sich unwohl, wenn sie kurz und konzis durch die Patientenzimmer gehen müssen, umgekehrt dauern den Pflegenden die Visiten oft zu lange. Entsprechend muss auch hier ein Kompromiss im Team gefunden werden. Grundsätzlich ist zu beachten, dass es nicht von der Dauer des Gesprächs abhängt, ob eine Visite von der Patientin als gelungen wahrgenommen wird: So wird auch im «Principles for best practice ward rounds in medicine» vom Royal College of Physicians ein Richtwert von zehn Minuten pro Patient angegeben [12]. Wichtig erscheint aus unserer Erfahrung vor allem dies: Der Patient muss Zeit haben, seine Fragen zu formulieren und eine einfache Antwort darauf zu erhalten – entsprechend halten wir an der Empfehlung fest, mit einer halboffenen Frage (konkret: Ein erstes Thema wird bereits angesprochen) in das Gespräch zu starten, um dann dem Patienten die Möglichkeit zu bieten, sein Befinden zu erläutern. Besteht ein erhöhter Gesprächsbedarf oder muss ein vollständiger Eintrittsstatus erhoben werden, sollte dies, wie oben erwähnt, auf einen Zeitpunkt nach der Visite terminiert werden.

Fazit

Die Visite ist ein alter Zopf – aber es lohnt sich, ihn neu zu flechten. Damit wird garantiert, dass aus der autoritär geführten, zeitraubenden Grossveranstaltung ein patientenzentriertes interprofessionelles Teammeeting wird. Diese «neue» Visitenform entbindet uns Ärztinnen und Ärzte nicht davon, die Visite zu führen und zu strukturieren – der Beitrag aller an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen muss gleichermassen gewertet und als hilfreich anerkannt werden. Damit nähern wir uns dem Patienten als aktives Betreuungsteam und werden ihm in all seinen Facetten gerecht.
Die Werkzeuge einer gelingenden ärztlichen patientenzentrierten Kommunikation müssen im Spitalalltag geübt werden. Dies gehört in die Zuständigkeit der Klinikleitung. Zwar werden die entsprechenden Tools (WWSZ, NURS) in der Ausbildung gelehrt, aber die Umsetzung am Krankenbett und vor allem auf der Visite – das heisst in Praxis – kann nur in der Klinik mit Hilfe von Feedbacks und konkreten Kommunikationstrainings geschult werden.
Wir sind davon überzeugt und die Rückmeldungen geben uns recht: Die Patientinnen und Patienten fühlen sich – trotz weniger Gesprächsminuten am Bett, weniger grossem Ärztetross und weniger «Small Talk» – nach der Visite besser verstanden und besser informiert.
KD Dr. med. Elisabeth Weber
Klinik für Innere Medizin Triemli
Stadtspital Waid und Triemli Zürich
Birmensdorferstrasse 497
CH-8063 Zürich
elisabeth.weber[at]triemli.zuerich.ch
 1 Foucault M. Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Fischer 1988.
 2 Morgan M. The ward round is broken. BMJ. 2017;358:j4390.
 3 Weber H, Stockli M, Nubling M, et al. Communication during ward rounds in internal medicine. An analysis of patient-nurse-physician interactions using RIAS. Patient Educ Couns. 2007;67:343–8.
 4 Weber H, Langewitz W. Basler Visitenstandard – Chance für eine gelingende Interaktionstriade Patient-Arzt-Pflegefachperson. Psychother Psych Med. 2011;61:193–195.
 5 Holtel M, Weber H. So gelingt die Visite. Dtsch Ärztebl. 2019;116:40–1.
 6 Kirkpatrick JN, Nash K, Duffy TP. Well rounded. Arch Intern Med 2005;165(6):613–6.
 7 Kessels Roy PC. Patients’ memory for medical information. J R Soc Med. 2003;96:219–22.
 8 Langewitz W, Conen D, Nübling M, et al. Kommunikation ist wesentlich – Defizite in der Betreuung im Krankenhaus aus der Sicht von Patientinnen und Patienten. Psychother Psych Med. 2002;8:348–54.
 9 Weber H. Die Ambivalenz der Pflege auf dem Professionalisierungsweg. Eine empirische Untersuchung bei der täglichen Visite. Dissertation an der Universität Freiburg i.Br. 2002 zu finden unter: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/516/
10 Maatouk-Bürmann B, Ringel N, Spang J, et al. Improving patient-centered communication: Results of a randomized controlled trial. Patient Educ Couns. 2016;99(1):117–24.
11 Fischer MR, Wölfel T, et al. Schnittstelle Visite. Dtsch Med Wochenschr. 2016;141(1):28–32.
12 Kirthi V, et al. Ward rounds in medicine. Principles for best practice. Royal College of Physicians, Royal College of Nursing. Ward rounds in medicine: principles for best practice. London: RCP, 2012.