Corona (spezial)
Skill-Training Folge 4

Corona (spezial)

Arbeitsalltag

Affiliations
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, spez. Psychosomatische Medizin SAPPM, Senior Editor PHC

Publiziert am 31.03.2020

«Frau Meier, ich muss Sie jetzt leider ins Universitätsspital verlegen, Ihr Corona-Infekt hat jetzt Ihre Lungen derart stark in Mitleidenschaft gezogen, dass wir dies hier im Alters- und Pflegeheim nicht mehr kurativ behandeln können.»

Die Intervention

«Frau Meier, ich muss Sie jetzt leider ins Universitätsspital verlegen, Ihr Corona-Infekt hat jetzt Ihre Lungen derart stark in Mitleidenschaft gezogen, dass wir dies hier im Alters- und Pflegeheim nicht mehr kurativ ­behandeln können. Das heisst, Sie werden möglicherweise eine intensivmedizinische Versorgung benötigen, welche die Möglichkeiten hier (im Altersheim) übersteigt. Oder wir behalten Sie hier und machen ­alles, damit Sie nicht unnötig leiden müssen. Ich muss Ihnen dazu jetzt aber noch eine schwierige Frage stellen. (Warten – vielleicht antwortet die Patientin von sich aus mit einer Frage, die den Sinn des Weiterlebens unter diesen Umständen betrifft). Ansonsten fahre ich fort: Für die Überweisung muss ich Sie jetzt fragen, ob Sie hier auf die palliative oder ins Universitätsspital auf die intensivmedizinische Abteilung verlegt werden wollen; ob Sie sich dem Gang der Dinge, der durch Ihre eigene Abwehr bestimmt wird, ergeben oder von uns eine maximale Intensivmedizinische ­Behandlung mit künstlicher Beatmung und neuesten Medikamenten wünschen.»

Die Indikation

Die Indikation für eine Hospitalisierung wäre unter normalen Umständen gegeben. Jetzt im Krisenfall mit Triage, wie im Kriegsfall, wo unser Gesundheitssystem bis zum letzten Intensivbett besetzt ist, müssen wir Hausärztinnen und Hausärzte die Spitalkollegen soweit wie möglich entlasten. So ist auch der Brief vom Chefarzt des Notfallzentrums des Universitätsspitals Basel (USB), Prof. Roland Bingisser an die Ärzteschaft zu verstehen: «Es wäre für das USB unglaublich hilfreich, von schwer erkrankten älteren Menschen im Notfall zu wissen, was ihre Grundhaltung in Bezug auf die moderne Medizin ist, um denjenigen die maximale Therapie anbieten zu können, die sie auch wirklich in Anspruch nehmen möchten. Somit bittet das USB alle Ärztinnen und Ärzte, die mit älteren Menschen – im Heim, in der Praxis oder Zuhause – zu tun haben, diese Fragen jetzt anzusprechen.» Und er fügt hinzu: «Leider haben sehr viele betagte Patienten bei Spitaleintritt keine Patientenver­fügung dabei. Es wurde auch im Pflegeheim noch nicht festgehalten, ob sie von unserer (im Extremfall) «Maschinen-Medizin» profitieren möchten, oder ob sie zufrieden sind, wie es jetzt so ist oder ob sie vielleicht sogar dem Schicksal ergeben sind. Weil wir mit sehr vielen betroffenen Betagten rechnen, möchten wir alle Kolleg/-innen, die mit älteren Menschen – im Heim oder zuhause – oft schon seit Jahren zu tun haben, bitten, diese Fragen jetzt anzusprechen. Vielleicht kann man das auf positive Art in ein Gespräch einbauen.

Die Theorie

Breaking bad news und das Akronym SPIKES (s. Kasten) sind für solche Situationen gut erforscht [1]. Hier eine kurze Zusammenfassung, um Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Weg zu dieser schwierigen Frage zu erleichtern. Natürlich hat Prof. Bingisser recht, wenn er diese Aufgabe dem Hausarzt bzw. der Hausärztin zuschanzt, die oft eine Ahnung vom Wertesystem und Krankheitsverständnis ihres Patienten haben. Überprüfen Sie, ob Ihre Einschätzung akkurat ist! Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass es uns Hausärztinnen und Hausärzten gerade weil wir diesen persönlichen Kontakt zum Patienten pflegen, eher schwerer fällt, diese Grenze zu überschreiten, um diese Frage über Leben und Tod zu stellen. Deshalb hier ein paar Anhaltspunkte zu Ihrer Unterstützung [1]:
– Konzept für den Ablauf BAD: B für breaking bad news, A für Acknowledge patient’s reaction und D für Develop near future.
– Planen Sie dieses Gespräch und die Frage nach Intensivmedizin möglichst frühzeitig, also ganz zu Beginn der Erkrankung und nicht erst bei deren Exazerbation.
– Kündigen Sie das Gespräch an und laden Sie eine Vertrauensperson (Familie oder guten Bekannten) der Patientin zu diesem Gespräch mit ein.
– Stellen Sie fest, wie viel der Patient schon weiss bzw. erahnt und was für eine Grundhaltung er zu seiner aktuellen Situation hat, bzw. wie er bei Verschlechterung vorzugehen wünscht. Sprechen Sie in einfachen und klaren Worten (KISS: keep it short and simple) – dann Warten!
– Fragen Sie nach der Patientenverfügung oder füllen Sie gemeinsam eine solche aus. Dazu muss die Patientin im Hinblick auf eine bestimmte Handlung urteilsfähig sein (Art. 16 Zivilgesetzbuch). Es gilt das Selbstbestimmungsrecht, doch macht es Sinn, auch die Angehörigen einzubeziehen [2].
– Vermeiden Sie vorschnellen Trost oder Verleugnung [3] der Ernsthaftigkeit der Situation, sondern sprechen Sie den letalen Ausgang, den Tod, direkt an. Versprechen Sie aber, dass alles palliativ Mögliche getan werde, um Schmerzen und Leiden zu ersparen.
– Seien Sie empathisch (detached concern) und fragen Sie nach, was der Patient verstanden hat, oder ­fassen Sie zum Schluss des Gesprächs zusammen, welche Entscheidung gemeinsam getroffen wurde. Warten – hören Sie genau hin, wie Ihre Zusammenfassung quittiert wird. Und machen Sie vor der ­Patientin eine Aktennotiz, die Sie laut vorlesen.
– Falls (zeitlich) möglich, erkundigen Sie sich beim ­Patienten bei einer nächsten Gelegenheit, ob die Entscheidung – auch bei weiterer Verschlechterung und nach Gesprächen im Familienkreis – weiter Gültigkeit hat.

Akronym SPIKES (leicht angepasst)

Setting: Auf geschützte Umgebung und Zeitrahmen achten
Perception: Einschätzung der Patientenwahrnehmung (realisiert er/sie, worum es geht?), Vorwissen, Werte, Krankheitsverständnis
Invitation: Ist der Patient aufnahmefähig und für ein Gespräch bereit?
Knowledge: Ankündigung, dann Übermittlung der schlechten Nachricht (KISS: keep it short and simple)
Empathy: Empathie, detached concern, Erfassen der Emotionen und Unterstützung anbieten
Strategy/Summary: Weiteres Vorgehen, Entscheidung zum Beispiel betreffend Palliativ- oder Intensivmedizin
In Krisensituationen ist die Einhaltung aller Punkte oft nicht realisierbar.

Die Geschichte

Für genau diese Situation habe ich keine persönliche Erfahrungsgeschichte anzubieten. Doch genau dies macht den Umgang mit dem neuartigen Coronavirus aus – er verlangt von uns tagtäglich eine Neueinschätzung der Situation. Vielleicht erscheint dieser Artikel bereits veraltet und zu spät, denn ich schreibe ihn heute am 12. März 2020, und bis Sie ihn in PHC lesen, ist die Situation um den Coronavirus vielleicht schon soweit fortgeschritten, dass sich die Frage gar nicht mehr stellt, sondern der Ärztin nur noch bleibt, seinem Pa­tienten die Bad News zu überbringen, dass Menschen über 70 Jahren mit Coronavirus-Infekt leider nicht mehr hospitalisiert werden können …

Die Übung

Ich fürchte, die Übung wird eher ein Learning by doing durch Sammeln eigener Erfahrungen im Umgang mit der Übermittlung dieser Frage (oder schlechter Botschaft). Scheuen Sie sich nicht, das Gespräch mit ­Ihrem Patienten authentisch anzugehen. Es fühlt sich an, als müsse man dazu eine Schwelle überschreiten, ein Tabu durchbrechen – doch dieses Gefühl lässt sich nicht umgehen, es gehört dazu, wenn wir die Frage über Leben und Tod angehen [4].

Hinweis

Bei der Online-Ausgabe dieses Artikels unter primary-hospital-care.ch finden Sie die beiden Dokumente «Empfehlungen für Therapiemassnahmen zu Hause oder im Pflegeheim bei schwerkranken Menschen mit COVID-19 in palliativer Situation» und «Ärztliche Notfallanordnung (ÄNA) – Was will ich, wenn ich krank bin». Beide Dokumente wurden auf Grundlage der Empfehlungen von palliative.ch vom Universitätsspital Basel erstellt und uns zur Verfügung gestellt. Dafür möchten wir uns von der PHC-Redaktion ganz herzlich bei Prof. Roland Bingisser vom Universitätsspital Basel bedanken.

Skill-Trainings

In der Skill-Training-Reihe von Primary and Hospital Care möchten wir einfache Kommunikationshilfen für den Alltag vorstellen, die jedem Hausarzt, jeder Hausärztin in der Sprechstunde helfen, die psychosomatisch-psychosoziale Achse näher zu verfolgen. Feedbacks und Fragen zu dieser Serie sind willkommen in der Kommentarfunktion unterhalb des Textes in der Online-Version des Artikels auf primary-hospital-care.ch.
2014 wurde bereits eine erste Serie des Skill-Trainings publiziert. Sie finden sie im Archiv (primary-hospital-care.ch/archiv), indem Sie in der Volltextsuche den ­Namen des Autors ­Pierre Loeb und «skill» eingeben.
Dr. med. Pierre Loeb
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH,
spez. Psycho­somatische Medizin SAPPM
Winkelriedplatz 4
CH-4053 Basel
loeb[at]hin.ch
1 Kommunikation im medizinischen Alltag, ein Leitfaden für die Praxis, SAMW 2013, https://www.samw.ch/de/Publikationen/Leitfaden-fuer-die-Praxis.html, S. 38ff und 65ff.
2 «Urteilsfähig im Sinne des Gesetzes ist jede Person, der nicht […] infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.» (Siehe auch [1] Seite 65)
3 Pape E, et al. Umgang mit Denial bei Tumorerkrankungen. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(02):58-64.
4 Umgang mit Sterben und Tod, SAMW 2018, https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html