Wie gehen Ärzte mit Stress und schwierigen Situationen um?
Interview mit Dr. Sabine Werner, Trainerin für Stressmanagement im Gesundheitswesen

Wie gehen Ärzte mit Stress und schwierigen Situationen um?

Aktuelles
Ausgabe
2020/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10243
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(05):163-164

Affiliations
Stv. Generalsekretärin, Kommunikationsverantwortliche SGAIM

Publiziert am 05.05.2020

Durch die aktuelle COVID-19 Pandemie sind Fachärztinnen und Fachärzte der AIM stark gefordert. Im Interview mit Dr. med. Sabine Werner erfahren Sie, wie Sie mit Stress umgehen können und was Spitäler und Praxen jetzt für ihre Angestellten tun können.

In Zeiten wie diesen sind Hausärztinnen und Spital­internisten, Kinderärztinnen und -ärzte, Pflegende, MPA und andere Angestellte im Gesundheitsbereich stark gefordert. Was können Spitäler und Praxen tun, um Angestellte vor Stress und Erschöpfung zu schützen?
In akuten Krisen, bei denen der Auslöser nicht von heute auf morgen beseitigt werden kann und nicht genug Ressourcen verfügbar sind, ist es essentiell, gute Beziehungen im Team, in der Abteilung usw. zu pflegen, sich gegenseitig wertzuschätzen sowie jede und jeden wenn möglich nach seinen Stärken einzusetzen. Das motiviert, potenziert die Kräfte und lässt einen auch schwierige Zeiten zusammen durchstehen. Dazu braucht es vor allem eine entschiedene, inspirierende und wertschätzende Führungskultur – echtes Leadership. Führungskräfte und Arbeitgeber sind gefordert, ihren Mitarbeitenden zuzuhören und proaktiv abzuholen, was diesen weiterhelfen würde.
Zusätzlich hilft ein regelmässiger lösungsfokussierter Austausch des Teams untereinander, also eine kleine Zeit-Insel, um gemeinsam zu überlegen, «wie können wir… noch besser…», «und angenommen, das würde uns gelingen, wie hätten wir das geschafft…». 
Was können Angestellte im Gesundheitswesen selber tun, um sich vor Stress zu schützen?
Eine gesunde Selbstfürsorge ist entscheidend, um Resilienz aufzubauen. Damit diese gelingt, muss man sich selbst gut kennen, auch einmal kritisch mit sich selbst auseinandersetzen, eigene Werte und Ziele reflektieren, lernen, Prioritäten zu setzen und Verantwortung für das eigene Leben übernehmen, also aus der Opferrolle herausgehen. Eine gesunde Selbstkompetenz ­bedeutet, innerhalb eines Rahmens, zum Beispiel in ­einem grossen Spital, den eigenen Handlungsspielraum auszuloten, zu nutzen und seine Ressourcen aktivieren zu können. Dazu gehört auch, sich trotz Zeitmangels aktiv Zeit für kurze Pausen zu nehmen.
Dr. med. Sabine Werner ist selbständige Fachärztin FMH ­Dermatologie und Venerologie, sie ist Coach für Ärztinnen und Ärzte und Trainerin für Stressmanagement im Gesundheitswesen.
Bei ReMed, dem Unterstützungsnetzwerk für Ärzte in Krisensituationen, ist sie als Mitglied des Leitungsausschusses ­aktiv. Kontakt: mail[at]sabinewerner.ch
Die Burnout-Raten von Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal gehören mit den Lehrkräften zu denjenigen Berufsgruppen mit der höchsten Rate: Warum?
Ärztinnen und Ärzte sowie Menschen in pflegenden und sozialen Berufen sind gewohnt «zu geben» und sich empathisch auf die Bedürfnisse anderer einzustellen. Eigene Grundbedürfnisse werden im Berufsalltag häufig vernachlässigt, ignoriert oder nicht wahr­genommen. Aber auch überlange Arbeitszeiten mit hoher Arbeitsintensität und das eigene Rollenverständnis können eine Verausgabungsneigung fördern. Jede zweite Person im Gesundheitswesen arbeitet sogar ohne Pause durch!
Dieses sogenannte Overcommitment wird besonders bei engagierten Personen mit hohen Eigenansprüchen beobachtet und kann dann ein Burnout begünstigen, wenn die Gratifikation, das heisst, eine Belohnung für den hohen Einsatz, zum Beispiel in Form von Dank, Anerkennung, Wertschätzung durch Vorgesetzte, Therapieerfolg oder anderes, ausbleibt.
Was können Spitäler und Praxen im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung, insbesondere im Bereich Stressprävention, tun?
Wünschenswert wäre, wenn trotz ökonomischem Druck Angebote zur betrieblichen Gesundheitsförderung für alle Berufsgruppen, am besten während der Arbeitszeit, angeboten würden und die Führungskräfte, gerade im ärztlichen Bereich mit gutem Beispiel vorangehen und selbst teilnehmen würden. Ein erster Schritt könnte sein, das Thema in den Abteilungen «top down» zu enttabuisieren und offen darüber zu sprechen, dass Ärztinnen und Ärzte häufig überlastet sind und eine Risikogruppe für Depressionen, Burnout, Suizide, Sucht und andere darstellen. Zu begrüssen wäre auch eine offene Fehlerkultur. Solange der Mythos vom stets einsatzbereiten Arzt, der selbst nie krank wird, lebt und auch von uns selbst gepflegt wird, wird sich nichts ändern.
Ärztinnen und Ärzte haben oft «keine Zeit» für ihre Gesundheit, solange sie nicht so krank werden, dass wirklich gar nichts mehr geht.
Welche Auswirkungen haben Stress und übermässige Belastung auf Psyche und Körper?
Stress per se ist nicht schlecht, sondern ermöglicht eine schnelle Anpassung des Organismus an Gefahren und die Vorbereitung auf «Kampf oder Flucht».
Langanhaltender negativer Stress, sogenannter Disstress, das heisst Stress, der als Überforderung oder ­sogar Bedrohung und nicht als Herausforderung ­wahrgenommen wird, wirkt sich jedoch in vielerlei Hinsicht gesundheitsschädigend aus. Psychosoziale Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz gehören zu den häufigsten chronischen Stressfaktoren. Wenn zwischen den Belastungsphasen dann keine ausreichende Erholung mehr möglich ist, schaukelt sich über die Hypotha­lamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse die Stressreaktion auf. Daraus resultieren unter anderem chronisch erhöhte Cortisolspiegel, die komplexe Auswirkungen haben.
Langanhaltender Stress führt zu Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen und begünstigt Depressionen. Das Diabetesrisiko und die Infektanfälligkeit steigen. Begünstigt werden auch Muskelverspannungen mit chronischen Kopf-, Nacken- oder Rückenschmerzen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Ulcera ventriculi, Schlafstörungen, Tinnitus und vieles mehr. Und letztendlich wirkt sich Stress auch negativ auf die eigene berufliche Zufriedenheit, ärztliche Funktionalität und Behandlungsqualität aus.
Haben Sie Tipps zum Umgang mit Stresssituationen?
Bei akuten Stress-Situationen hilft es, kurz Abstand zu gewinnen, also aus der Situation rauszugehen und ein Time-out mittels Mikro-Pause zu nehmen. Das funktioniert auch präventiv als «Selbstfürsorge-Tool». Je nach persönlichem Stressverhaltensmuster sind dann zum Beispiel Atemübungen, wie die «4-6-Atmung» nach Gary Bruno Schmid, mentale Wahrnehmungslenkung, Achtsamkeitsübungen wie beispielsweise achtsame Kaffeepause, ferner progressive Muskelentspannung oder ­sogar «Dampfablassen» – bitte allein – mit Anti- Stress-Bällen oder ähnlichem hilfreich.
Für eine langfristig wirksame Stressbewältigung empfiehlt sich die individuelle Analyse der persönlichen Stressauslöser und negativen beziehungsweise non-produktiven Stressverhaltensmuster, zum Beispiel mit einem «Stress-Profil» im Rahmen eines professionellen Coachings, damit man diese gezielt angehen kann. Die anschliessende Selbstreflexion führt oft schon ­einen grossen Schritt weiter.
Für «Stressmanagement-Einsteiger» empfiehlt sich, ­regelmässig selbst zu überlegen und zu notieren:
– Was raubt mir Energie und was spendet mir Energie im Alltag?
– Wie kann ich mit diesem Wissen meinen «Akku» in Belastungsphasen rechtzeitig wieder aufladen?
– Was wäre ein erster ganz kleiner Schritt hin zu ­weniger Stress, den ich jeden Tag umsetzen kann?
Informationen und Hilfe in Krisensituationen bietet:
ReMed – Unterstützungsnetzwerk für Ärzte in Krisensituationen www.swiss-remed.ch
24-Stunden-Hotline:
0800 0 73633
0800 0 ReMed
remed[at]hin.ch.
Claudia Schade
Kommunikationsverantwortliche und stellvertretende Generalsekretärin
Schweizerische Gesellschaft
für Allgemeine Innere
Medizin (SGAIM)
Monbijoustrasse 43,
Postfach,
CH-3001 Bern
claudia.schade[at]sgaim.ch