In Zeiten von Corona: Antizipatorische Trauer
Skill-Training Folge 6

In Zeiten von Corona: Antizipatorische Trauer

Arbeitsalltag
Ausgabe
2020/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10258
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(06):211-212

Affiliations
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, spez. Psychosomatische Medizin SAPPM, Senior Editor PHC

Publiziert am 02.06.2020

Vorausschauend zu trauern heisst, sich das Schlimmste für die Zukunft auszumalen. Um sich zu beruhigen, müssen Sie in die Gegenwart kommen. Wer schon mal meditiert oder Achtsamkeit praktiziert hat, wird das Konzept kennen, und es ist überraschend simpel: Nennen Sie fünf Dinge im Raum.

Die Intervention

«Vorausschauend zu trauern heisst, sich das Schlimmste für die Zukunft auszumalen. Um sich zu beruhigen, müssen Sie in die Gegenwart kommen. Wer schon mal meditiert oder Achtsamkeit praktiziert hat, wird das Konzept kennen, und es ist überraschend simpel: Nennen Sie fünf Dinge im Raum. Da sind beispielsweise ein Computer, ein Stuhl, ein Bild des Hundes, ein alter Teppich und eine Kaffeetasse. So einfach ist das. Atmen Sie. Erkennen Sie, dass im gegenwärtigen Moment nichts von dem, was Sie erwartet haben, geschehen ist. In diesem Moment geht es Ihnen gut. Sie haben Essen. Sie sind nicht krank. Benutzen Sie Ihre Sinne und denken Sie darüber nach, was Sie fühlen. Der Schreibtisch ist hart. Die ­Decke ist weich. Ich spüre, wie der Atem in meine Nase kommt. Das wird wirklich helfen, den Schmerz etwas zu lindern. Lassen Sie los, was ausserhalb Ihrer Kontrolle liegt. Was Ihr Nachbar tut, können Sie nicht kontrollieren. Was Sie kontrollieren können, ist, einen Meter (in der Schweiz zwei Meter; Anm. d. Red.) Abstand von ihm zu halten und sich die Hände zu waschen. Konzentrieren Sie sich darauf.» [1]

Die Indikation

Die Theorie ist simpel – aber deshalb genial und einfach umzusetzen. Diese Krise geht nicht unbemerkt an uns vorbei, wir alle machen etwas durch. Wir alle erleben live die Krise, bevorstehende Veränderungen, die Ungewissheit – da ist etwas Schlimmes am laufen oder könnte noch passieren. Korrekt, dieses Virus ist letztlich vielleicht nicht ganz so gefährlich, wie wir es befürchteten – wir wissen es noch nicht, denn es ist noch nicht vorbei. Aber die Bilder von Bergamo, dem Tessin, Paris, New York – jetzt wo ich diese Zeilen schreibe Moskau – das alles ist wahr, haben wir kollektiv wahrgenommen, haben die Sterblichkeit erfahren und sind betroffen. Wir blieben zuhause, waschen uns weiter die Hände und halten Distanz – und für viele geht es viel weiter, sie haben Geld, den Job oder das ganze Geschäft verloren, mussten Leute freistellen oder werden liebe Menschen entlassen müssen – kurz, dies alles trifft uns, hat Folgen auf unsere Psyche und unseren Körper. David Kessler, Experte für Trauerbewältigung und Traumatherapie spricht in einem im SPIEGEL erschienenen Interview mit Scott Berinato [1] von einer ­kollektiven Trauerreaktion, von einer vorweggenommenen, einer antzipatorischen Trauer, die wir alle mehr oder weniger durchmachen oder noch durch­machen werden. Die Trauerreaktion, basiert auf den ­bekannten Phasen der Trauerreaktion nach Elisabeth Kübler-Ross [2].

Skill-Trainings

In der Skill-Training-Reihe von Primary and Hospital Care möchten wir einfache Kommunikationshilfen für den Alltag vorstellen, die jedem Hausarzt, jeder Hausärztin in der Sprechstunde helfen, die psychosomatisch-psychosoziale Achse näher zu verfolgen. Feedbacks und Fragen zu dieser Serie sind willkommen in der Kommentarfunktion unterhalb des Textes in der Online-Version des Artikels auf primary-hospital-care.ch.
2014 wurde bereits eine erste Serie des Skill-Trainings publiziert. Sie finden sie im Archiv (primary-hospital-care.ch/archiv), indem Sie in der Volltextsuche den ­Namen des Autors ­Pierre Loeb und «skill» eingeben.

Die Theorie

«Die erste Phase ist üblicherweise die der Verleugnung: Uns wird dieses Virus verschonen. Dann kommt der Ärger: Ihr zwingt mich, zu Hause zu bleiben und nehmt mir meine Freiheit weg. Es gibt die Phase des Feilschens: Okay, wenn ich mich zwei Wochen lang sozial distanziere, wird alles besser, oder? Es gibt Traurigkeit: Ich weiss nicht, wann das enden wird. Und schliesslich gibt es Akzeptanz: Das passiert gerade wirklich; ich muss mir überlegen, wie ich weiter vorgehen soll. Wie Sie sich vorstellen können, liegt die Macht in der Akzeptanz. Ich kann mir die Hände waschen. Ich kann einen Sicherheitsabstand halten. Ich kann lernen, virtuell zu arbeiten.» [1]

Die Geschichte

Die aktuelle allgemeine Verunsicherung zeigt sich in unserer Praxis – speziell im psychosomatischen Bereich. Schwelende Beschwerden psychischer oder chronischer somatischer Genese werden überlagert und verstärkt von schlechtem Schlaf, Zukunftsangst und den aufkommenden Verschwörungstheorien. Latente Konflikte und unter dem Deckel gehaltene Symptome und Körpersensationen im privaten wie beruflichen Rahmen brechen auf. Wir Hausärzte und Hausärztinnen tun gut daran, diesen Blick im Hinterkopf zu behalten sowie unser Gegenüber ernst zu nehmen und dennoch mit dieser Trauerthese zu konfrontieren, ­bevor wir weitere Abklärungen und Überweisungen ­tätigen. Unsere Praxen sollen Schutzräume sein, wo Trauer­arbeit geleistet wird. Erlauben wir unseren ­Patientinnen und Patienten, ihre aktuelle Verunsicherung, Verletzheit, Angst zu ­äussern; mit den dazu ­gehörenden Emotionen. Und sprechen vielleicht auch von unseren Gefühlen der Betroffenheit, statt vorschnell in populistischen Heroismus zu verfallen von einem, dem nichts etwas anhaben kann, der alles unter Kontrolle hat und jede Situation meistert. Zuviel ­davon gibt dem verletzten Patienten nicht unbedingt das Gefühl sich zu öffnen. Auch nicht dem Arzt, der sich hoffnungslos verloren gibt. Wir ­müssen das richtige Mass zusammen mit unserem Patienten finden, wo die Katastrophenbilder zwar ausgesprochen, die tägliche Wirklichkeit im Hier und Jetzt aber wieder gefunden wird: Nennen Sie fünf Dinge im Raum …

Die Übung

Sprechen Sie die Trauer an. Behalten Sie das Konzept der Trauer im Hinterkopf, speziell, wenn ihre Patientinnen und Patienten mit ungewöhnlichen Reaktionen auffallen, wenn sie emotionaler, verletzlicher, schnippischer, deprimiert oder wütend daherkommen. Wagen Sie eine Probedeutung, die einer Phase der Trauerreaktion entspricht und zeigen Sie sich empathisch.
Mindfullness Achtsamkeitstraining ist heute en vogue, und es gibt viele Kursangebote für Patientinnen und Patienten, aber auch für Ärztinnen und Ärzte, die diese Methode erlernen möchten [3]. Profitieren Sie direkt von dieser Methode, in dem Sie sich damit auseinandersetzen oder beginnen Sie ganz pragmatisch, in dem Sie obige Anweisungen befolgen und mit Ihrem Patienten erleben, was es Ihnen, dem Patienten und Ihrer ­gemeinsamen Beziehung bringt, wenn es gelingt, das ärztliche Gespräch um diese Dimension zu erweitern.
Dr. med. Pierre Loeb
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH,
spez. Psychosomatische Medizin SAPPM
Winkelriedplatz 4
CH4053 Basel
loeb[at]hin.ch
1 Der SPIEGEL, Interview von Scott Berinato mit Trauer-Experte David Kessler 02.05.2020: Gefühle in der Coronakrise «Diese Art Trauer sind wir nicht gewohnt». Harvard Business Manager Online vom 29.04.2020. https://www.harvardbusinessmanager.de/blogs/gefuehle-in-der-corona-krise-trauer-und-angst-a-1306617.html
2 Elisabeth Kübler Ross: Interviews mit Sterbenden, Kreuz-Verlag, ExLibris 2014 (1971) dito: On Death and Dying, Orell Füssli, 2008
3 MBSR-Verband Schweiz, Berufsverband für professionell praktizierende Lehrerinnen und Lehrer für MBSR. www.mindfulness.swiss/