Junge Ärzteschaft im Zeitalter der Digitalisierung
Interview mit Dr. med. Vanessa Kraege: Zwischen Patientenbett und Computer

Junge Ärzteschaft im Zeitalter der Digitalisierung

Aktuelles
Ausgabe
2020/0708
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10259
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(0708):223-224

Affiliations
Mitglied der Swiss Young Internists (SYI)

Publiziert am 29.07.2020

Die Digitalisierung macht auch vor dem Arztberuf nicht Halt. Ein Laptop ersetzt heute den sperrigen Visitenwagen und die Dokumentation erfolgt elektronisch, wodurch der Arbeitsalltag junger Assistenzärztinnen und Assistenzärzte mittlerweile von der Arbeit am Computer bestimmt wird.

Guten Tag Frau Dr. Kraege. Die Arbeit Ihrer Abteilung aus dem Jahr 2017 [1] untersuchte den Arbeitsalltag der Assistentenschaft. Wie kam es zu der Studie?
Die Idee stammte von Oberärzten der Abteilung. Ziel war es, den Arbeitstag der Assistenzärztinnen und -ärzte zu analysieren. Dazu sollte gezeigt werden, ob Tagesabläufe und seit Jahren bestehende Arbeitsstrukturen noch zeitgemäss waren. Der Vorschlag eine umfassende Studie durchzuführen, wurde von der Leitung unserer Abteilung sehr geschätzt und unterstützt.
Haben Sie die Ergebnisse überrascht?
Grösstenteils nicht. Uns war klar, dass viel Zeit am Computer verbracht wird und Überzeit ist denke ich in jedem Spital ein aktuelles Thema. Was uns jedoch überraschte, waren die häufigen Unterbrechungen und Wechsel von Arbeitsabläufen.
Haben Sie sich den Arztberuf während des Studiums so vorgestellt?
Nein, überhaupt nicht (lacht). Ich denke im Studium bekommt man kein repräsentatives Bild des späteren Berufsalltags.
Die Einführung digitalisierter Patientenakten wird in der Studie Ihrer Abteilung kritisch hinterfragt. Wie sehen Sie die Digitalisierung in der Medizin und was sind Ihre eigenen Erfahrungen?
Im Vergleich zu früher ist die Betreuung von Patienten deutlich komplexer. Grund dafür sind Multimorbidität sowie weiterentwickelte Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten. Der Einsatz von Computern ist meiner Meinung nach notwendig, um Prozesse zu vereinfachen und den hohen Ansprüchen gerecht zu werden.
Wie kommt es, dass trotz Vereinfachung von Pro­zessen noch immer Überstunden anfallen?
Ich denke, die Ärzteschaft muss sich auf die digitalen Medien einstellen und die Handhabung effizienter ­gestalten. In unserer Abteilung wurden Ärztinnen und Ärzte bei der Etablierung einer Software aktiv in Entwicklungsprozesse einbezogen, was überaus erfolgreich war. Ausserdem wird mittlerweile viel dokumentiert, wobei ein gesundes Mass gefunden werden muss. Vor allem der Angst junger Ärztinnen und Ärzte vor Rechtsprozessen wird mit ausführlicher Dokumentation begegnet. Der (eigene) Anspruch an den Arztberuf ist dazu noch immer sehr hoch. Aufgaben werden nur selten abgegeben oder delegiert, was unweigerlich zu mehr Arbeitszeit führt.

Vanessa Kraege

Am Centre hospitalier universitaire vaudois in Lausanne wurde 2015 die Verteilung der Arbeitszeit von Assistenzärztinnen und Assistenzärzten der Abteilung für Innere Medizin ­untersucht. Neben einer täg­lichen Überzeit von durchschnittlich 1,6 Stunden konnte eine hohe Arbeitszeit am Computer bei relativ geringem ­Patientenkontakt gezeigt werden [1]. In Anlehnung an die Ergebnisse wurden Massnahmen zur Optimierung der Gestaltung des Arbeitstages getroffen und im Anschluss im Jahr 2018 eine zweite Studie durchgeführt, an der Dr. med. Vanessa Kraege beteiligt ist, die wir für ein Telefoninterview gewinnen konnten. Dr. med. Kraege arbeitet seit 2015 als Oberärztin in der Abteilung für Innere Medizin und ist massgeblich in die Aus- und Weiterbildung von Assistenzärztinnen und -ärzte innerhalb der Abteilung involviert.
Vor allem der vergleichsweise geringe Patienten­kontakt von lediglich 14,6 Minuten pro Patient/-in wurde kritisch gesehen. Denken Sie, mehr direkter Patientenkontakt ist notwendig?
Das kommt natürlich auf Patient/-in und Situation an. Ich persönlich glaube, dass die Zeit meistens aus­reichend ist, sofern im Vorfeld alle wichtigen Infor­mationen eingeholt, bedacht und ein entsprechendes Pro­zedere festgelegt wurden. Für die Überbringung der Erstdiagnose einer malignen Erkrankung beispielsweise reicht die kurze Zeit natürlich nicht aus.
Sind wir an einem Punkt, an dem das Berufsbild der Assistenzärztin / des Assistenzarztes neu definiert werden muss?
Ja und Nein. Das frühere Berufsbild ist sicherlich nicht mehr aktuell. Die Medizin ist komplexer und anspruchsvoller, was ein umfangreiches Wissen verlangt. Um dem auch im Kontakt mit Patienten gerecht zu werden, ist eine umfangreiche Vorbereitung mit ­Aktenstudium, Sichtung von Befunden und Therapieplanung im Vorfeld wichtig. Der eigentliche Patientenkontakt, wie in Form der täglichen Morgenvisite, fällt im Vergleich dazu kürzer aus. Stundenlange Visiten mit Sichtung der Befunde am Patientenbett sind meiner Meinung nach nicht mehr zeitgemäss.
Trotzdem repräsentiert die Zeit ohne Patientenkontakt eine ärztliche Tätigkeit und definiert damit das Berufsbild. Wir sehen, dass nicht-ärztliche Tätigkeiten häufig einen Grossteil der Zeit ausmachen und ärzt­liche Arbeitsprozesse teilweise beeinträchtigen. Diesem Aspekt haben wir in den letzten Jahren viel ­Aufmerksamkeit geschenkt.
Der Zugang zu medizinischen Inhalten ist durch Google und andere Medien einfacher geworden. Dadurch wird vor allem die Arbeit junger Assistenzärztinnen und -ärzten von Patientinnen und Patienten häufig kritisch hinterfragt. Überspitzt formuliert: Früher galt das Wort des Arztes fast uneingeschränkt und das Ansehen war ein anderes.
Die Ergebnisse der Studie wurden teilweise als beunruhigend empfunden. Sehen Sie unmittelbare Folgen für Ärztinnen und Ärzte, die sich daraus ableiten lassen?
Ich persönlich empfinde die Arbeit am Computer nicht als störend, sofern ein medizinischer Sinn erkennbar ist. Das stellt für mich den entscheidenden Unterschied dar, denn sobald nicht-ärztliche oder administrative Aufgaben den Arbeitsalltag bestimmen, führt das zu Unzufriedenheit und fehlender Identifikation mit dem Arztberuf. Weniger Überzeit ist sicherlich auch ein entscheidendes Thema. Stichwort ist hier Work-Life-Balance, die bei der heutigen Generation ­einen hohen Stellenwert im Berufsleben einnimmt. Ich denke jedoch, dass nicht die quantitative Arbeitszeit, sondern die Inhalte entscheidend für Arbeitszufriedenheit sind.
In der Studie wird die Gefahr von Burnout bei Assistenzärztinnen und -ärzten angesprochen. Ein sehr aktuelles Thema, was bereits von den Swiss Young Internists thematisiert wurde [2]. Wie gehen Sie damit in Ihrer Abteilung um?
Wie Sie bereits sagten, ist Burnout ein wichtiges Thema. Wir versuchen, dem Problem mit Gesprächen und Feedback entgegen zu treten, was von Assistenzärztinnen und Assistenzärzten auch eingefordert wird. Vor allem positives Feedback ist meiner Meinung nach wichtig, um Wertschätzung zu signalisieren, was den Arztberuf in gewisser Weise ausmacht. Dabei geht es auch um Wertschätzung durch andere Berufsgruppen und Pa­tienten. Kommt es zu einem Ungleichgewicht zwischen Wertschätzung und dem anspruchsvollen Berufsalltag, hat das neben Unzufriedenheit auch gesundheitliche Folgen, beispielsweise in Form von Burnout.
Welche Veränderungen wurden in Ihrer Abteilung nach der Studie von 2017 umgesetzt?
Unser Ziel war es, Überzeit und Unterbrechungen von Arbeitsprozessen zu reduzieren. Dazu etablierten wir administrative Assistentinnen in den Abteilungen, um primär nicht-ärztliche Tätigkeiten zu übernehmen und störungsfreie Arbeitsprozesse zu gewährleisten.
Ausserdem sahen wir Terminkonflikte mit anderen Berufsgruppen und Lehrveranstaltungen, was unweigerlich die Qualität der Ausbildung beeinträchtigte. Wir entschlossen uns zu einer Restrukturierung des Tagesablaufs, was die Abläufe harmonisierte und weniger Terminkonflikte zufolge hatte.
Haben Sie bereits erste Ergebnisse Ihrer aktuellen Arbeit, die Sie mit uns teilen können und gab es Änderungen im Studienmodell?
Wir sahen eine Reduktion von Überstunden, trotz ­weniger besetzter Assistenzarztstellen und grösserem Patientenaufkommen.
Im Vergleich zur ursprünglichen Studie wurde die ­Anzahl von Ortswechseln untersucht und Assistenzärztinnen und -ärzte anonym nach ihrem persön­lichen Empfinden während einzelner Arbeitsprozesse befragt. Dadurch versuchten wir, die Wahrnehmung einzelner Abläufe zu erfassen.
Die Erfolge der Umstrukturierung sind bemerkenswert und wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse der neuen Studie. Vielen Dank für Ihre Zeit und das interessante Interview.
Lasse Marck
Swiss Young Internists
Rämistrasse 100
CH-8091 Zürich
lasse.marck[at]gmail.com
1 Wenger N, Méan M, Castioni J, Marques-Vidal P, Waeber G, Garnier A. Allocation of Internal Medicine Resident Time in a Swiss Hospital: A Time and Motion Study of Day and Evening Shifts. Ann Intern Med. 2017;166(8):579–86.
2 Nicolet J, Gauthey J, Scherz N, Habib L, Eidenbenz D. Junge Ärztezunft für die Zukunft. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(04):94–5.