Qualität ist in jedem Beruf eine conditio sine qua non. Im Gesundheitswesen ist eine hohe Qualität zwingend und muss immer wieder erarbeitet werden. Qualität zu thematisieren ist grundsätzlich gut. Qualitätsindikatoren sind nicht mit Qualität gleichzusetzen. Sie sind nichts anderes als «Surrogatmarker», für etwas, das nicht messbar ist. Das schwindende Vertrauen in die Akteure versucht man, durch Messen und Kontrollieren zu ersetzen. Man möchte Qualität messen, mit dem Ziel, nur gute Qualität zu vergüten oder schlechtere Qualität zu bestrafen.
Ausgangslage
Die Experten sind sich einig: Qualität ist nicht messbar [1, 2]. Seit Jahren versucht die Politik, die steigenden Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen. Mit dem KVG-Artikel 15.083 «Stärkung von Qualität und Wirtschaftlichkeit» [3] avisiert die Politik dieses Ziel. Damit wird impliziert, dass höhere Qualität zu tieferen Kosten zu haben ist! Dies ist a priori ein Widerspruch und wird zu unverhältnismässiger Bürokratie und Controlling führen. Auf hohem Qualitätsniveau ist eine zusätzliche Qualitätssteigerung nur mit einem überproportionalen Aufwand zu erreichen. Das KVG schreibt vor, dass Qualität kontrolliert und Nicht-Einhalten sanktioniert werden soll. Dazu müssen messbare Parameter definiert werden, die als Kriterien für eine Kontrolle gelten sollen: sogenannte Qualitätsindikatoren. Was von der Terminologie als naheliegend erscheint, hat weder in der Praxis noch in der Theorie eine direkte Verbindung. Qualitätsindikatoren sind «Surrogatmarker», messbare Grössen, die mit der eigentlichen Qualität so wenig zu tun haben wie etwa die Bodentemperatur mit dem aktuellen Wetter. Da der KVG-Auftrag klar ist, haben sich FMH und Versicherer zusammengetan und eine Arbeitsgruppe Qualität FMH/Versicherer gebildet [4]. Elegant wurde der «Schwarze Peter» den Fachgesellschaften übergeben, diese sollen Projekte/Themen vorschlagen, aus denen dann die Arbeitsgruppe drei bis fünf auswählt. Die SGAIM hat vier Bereiche im Rahmen eines Pilotprojektes lanciert [5]: Qualitätszirkel, smarter medicine, Hygienekonzept und CIRS (Critical Incident Reporting System). Bevor ich auf diese einzeln eingehen möchte, noch ein Blick ins Ausland. Dort können wir sehen, was funktioniert hat oder gescheitert ist.
Blick ins Ausland
Grossbritannien [6, 7]
Grossbritannien hat wohl die längste Tradition mit Qualitätsmessung. Das sogenannte Programm P4P (Pay for Performance) war von ca. 2009 bis 2019 unter dem Begriff «Quality and Outcome Framework» operativ und seither praktisch stillgelegt. Einzig für die Grippe gibt es noch zwei Indikatoren. Dies, obwohl die Hausärztinnen und Hausärzte durch Einhalten der Indikatoren 12–15% zusätzliche Einnahmen generieren konnten. Die Schlussbilanz ist ernüchternd: Keine Outcome-Verbesserung (d.h. nicht weniger Hospitalisationen, keine Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung) trotz hoher Adhärenz an die Indikatoren und entsprechend hohen Kosten. Es waren nicht nur die Kosten, weshalb das Ganze heruntergefahren wurde, sondern vor allem der gewaltige Aufwand in den Praxen (workload pressure). Die Hausärzte haben die Indikatoren sehr gut beachtet, ja sogar immer besser erfüllt. Leider hat dies nicht zum avisierten Ziel (patientenzentriert, integriert, ganzheitlich) geführt. Der Fokus auf die Indikatoren führte zu einer einseitigen biomedizinischen Sicht. Einzig die computertechnische Vernetzung mit entsprechendem Datenaustausch wurde verbessert.
USA [8, 9]
Gemäss diversen Publikationen ist die Qualitätsmessung in einer Krise. Der Grund: zu kostspielig, zu redundant und «verworren» (labyrinthine). In den USA haben über 100 verschiedene Institutionen mehr als 2000 Indikatoren definiert. Fazit: Pro Praxis fallen jährlich ca. 45 000 US-Dollar an Kosten und ein wöchentlicher Aufwand von ca. 15 Arbeitsstunden an. Begründung der aktuellen Krise: Die Indikatoren sind zu wenig patientenzentriert und haben nur selten outcome im Fokus.
Deutschland [10]
Deutschland hat ein System mit 13 QISA-Bänden (Qualitätsindikatorensystem für die ambulante Versorgung). Insgesamt sind es 172 Indikatoren für 11 Disziplinen. Beispielhaft die COPD: Anzahl Raucher, Anzahl Grippeimpfungen usw. Dann aber Anzahl Ärztinnen und Ärzte, die COPD geschult sind und Anzahl Praxismitarbeitende mit COPD-Zusatzausbildung. Wo ist das Problem? Wenn für die weiteren 10 Disziplinen auch solche Schulungen (Arzt, MPA) nachgewiesen werden müssen, ist workload pressure vorprogrammiert.
Pilotprojekt SGAIM
Für mich sind die vier Bereiche der SGAIM – Qualitätszirkel, smarter medicine, Hygienekonzept und CIRS – eine klägliche Visite für das Qualitätsverständnis der niedergelassenen Ärzte. Nicht die Thematisierung der einzelnen Bereiche ist das Problem, wohl aber die Messbarkeit und allenfalls Sanktionierung bei Nichteinhaltung.
Qualitätszirkel
Die Qualitätszirkel (QZ) sind bei den Hausärzten weit verbreitet und grossmehrheitlich beliebt. Dies, obwohl nicht alle QZ den Anforderungen (Zielformulierung mit iterativem Verbesserungsprozess, moderiert, angemessene Dokumentation) entsprechen. Messgrössen wären hier: Teilnahme am QZ, Nachweis eines ausgebildeten Moderators, Dokumentation. Dieses Teilprojekt ist wohl das einfachste und am wenigsten umstrittene. Nach meiner Beurteilung wird es als einziges überleben.
smarter medicine
Inhalt sind die Top 5 für die ambulante Allgemeine Innere Medizin [11]. Wiederum: Nicht die Intention, die Thematisierung, ist das Problem, wohl aber der Nachweis, die Messung. Wie soll gemetssen werden, dass eine LWS-Aufnahme nicht gemacht wurde, bei einer Lumbago von einer Woche Dauer und ohne red flags? Persönlich war ich sehr motiviert als dieses Konzept less is more aufkam. Inzwischen habe ich – wie wohl jeder Hausarzt – frustrierende Erfahrungen in diesem Bereich gemacht. Man informiert die Patientin am Freitag, dass eine Röntgenaufnahme nicht nötig sei und meint, die Patientin habe diese Entscheidung nicht nur akzeptiert, sondern würde sie auch «mittragen». Am Montag findet man den Bericht der Notfallstation vor, welche die Patientin am Sonntag aufgesucht hat. LWS ap/seitlich mit unauffälligen Befunden und gleich noch Empfehlung zur MRI-Untersuchung bei Persistenz der Beschwerden. Wie soll ich beweisen, dass ich bei unkompliziertem Infekt der oberen Luftwege keine Antibiotika eingesetzt habe? Eine Nicht-Aktion ist schlichtweg nicht nachweisbar. Analog schwierig respektive nicht messbar ist «PSA-Messung nur nach umfassender Aufklärung des Patienten» usw. Ein Lösungsansatz, um eine Nicht-Aktion nachzuweisen, wäre eine praxistaugliche Codierung wie zum Beispiel ICPC-2. Ein Vorstoss meinerseits beim SGAIM-Vorstand 2017 [12] fand kein Gehör.
Hygienekonzept
Schon vor COVID-19 wussten die Ärzte und das Praxisteam wie man Hände desinfiziert. Wer regelmässig MPA-Lernende hat, ist da laufend am Trainieren und Instruieren. Wie soll das nachgewiesen werden oder messbar sein? Für mich ist dies völlig schleierhaft. Hier liegt das Problem noch auf einer anderen Ebene: Wenn wir der Politik die Händedesinfektion als «unsere Qualitätsanstrengungen» verkaufen, ernten wir wohl zu Recht ein müdes Lächeln.
CIRS
Auch dieser Bereich ist im Ansatz gut. In der Ausführung wird er scheitern, falls hier gemessen oder allenfalls sogar sanktioniert wird. Dies wäre der Untergang der jahrelangen Anstrengungen rund um CIRS [13]. Aktuell sind 84 Meldungen online seit 2017 das heisst, ca. 20 Meldungen pro Jahr. Wie soll nun CIRS gemessen werden? Anhand der Registrierungen? Damit wird man sich kaum zufriedengeben. Eine Registrierung ändert ja gar nichts. Anhand der verfassten CIRS-Meldungen? Dies würde dazu führen, dass Meldungen «um-der-Meldung-willen» kreiert werden und damit wäre der Todesstoss gegeben.
Fokus auf Indikatoren
Wenn der Fokus auf einzelne messbare Grössen im Umfeld von Qualität gelegt wird, heisst dies zwangsläufig, dass anderes ausgeblendet wird. Gemäss Mathias Binswanger [1] kommt es allein schon durch die Thematisierung zu einer Veränderung der Wahrnehmung. Wenn noch incentives oder penalties damit verknüpft sind, kommt es zwangsweise zu einem adaptiven Verhalten. Vor Jahren wurde die Abbildung 1 publiziert. Mich hat immer schon gestört, dass da viel im Licht und offenbar wenig «im Dunkeln» ist. Meine Tochter hat diese Grafik realitätsnaher neu gezeichnet (Abb. 2): Nur ein kleinster Teil wird erfasst – und der Rest wird ausgeblendet. Alles, was nicht messbar, das heisst mit Zahlen erfassbar ist, wird mit der Zeit irrelevant und schlussendlich scheinbar inexistent [14].
Fazit
Im Bereich Qualitätsindikatoren ist nur interessant und wird berücksichtigt, was messbar ist. Alles andere fällt a priori weg. Die Hausarztmedizin und deren Qualität ist aber weit mehr als einige wenige definierbare und messbare Parameter. Wir haben es zunehmend mit multimorbiden Patientinnen und Patienten zu tun, die wir auch vor Overdiagnosis und Overtreatment schützen müssen (Quartäre Prävention) [15]. Da kommen shared decision making [16] und Abweichen von Leitlinien [17] ins Spiel. Qualitätsindikatoren stören diesen patientenzentrierten Ansatz. Wir sind gefordert, den Jahren Leben und nicht nur dem Leben Jahre hinzuzufügen. Das erste ist schlecht oder gar nicht messbar (Tab. 1). Eine Aktion ist einfacher messbar und benötigt oft viel weniger Beratungs- und Begründungsaufwand als eine Nicht-Aktion. Alle, die schon versucht haben, einem Patienten eine unsinnige MRI-Untersuchung «auszureden», können ein Lied davon singen. Möglich ist dies praktisch nur auf einer längerdauernden, stabilen Arzt-Patienten-Beziehung. Den Patienten gemäss einzelnen oder meist mehreren Guidelines zu behandeln, ist einfach messbar. Die Guidelines gemäss dem Wunsch des Patienten zu interpretieren, ist patientenzentriert, wird dem shared decision making gerecht, schneidet aber bei der Messung der Indikatoren schlecht ab.
GL dem Patientenwunsch entsprechend interpretieren
smarter medicine / Quartäre Prävention
Aktion = etwas tun/anordnen (Begründung einfacher)
Nicht-Aktion = Verzicht auf Massnahme/Intervention (Begründung aufwändiger)
Somit stellt sich die Frage, welche Medizin wir anstreben wollen. Ganzheitlich, patientenzentriert oder reduziert auf die biomedizinische Dimension? Jeder zusätzliche (Qualitäts-)Indikator fördert diese eingeschränkte Sicht und ist damit aus ganzheitlicher und patientenzentrierter Sicht ein Abbau der Behandlungsqualität.
Korrespondenz
Dr. med. Alexander Minzer Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin, Psychosomatische und Psychosoziale Medizin SAPPM, Präsident Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin Breitenstrasse 15 CH-4852 Rothrist Alexander.Minzer[at]hin.ch
6 Focus on GP quality indicators, General Practitioners Committee, BMA, June 2018.
7 Kringos D, Nuti S, Anastasy C, Barry M , Murauskiene L , Siciliani L, et al. Re-thinking performance assessment for primary care. Eur J Gen Pract. 2019 Jan;25(1):55–61.
8 Mutter JB, Liaw W , Moore MA, Etz RS, Howe A, Bazemore A. Core Principles to Improve Primary Care Quality Management. J Am Board Fam Med. Nov-Dec 2018;31(6):931–40.
9 Young RA, Roberts RG, Holden RJ. The Challenges of Measuring, Improving and Reporting Quality in Primary Care, Ann Fam Med. 2017 Mar;15(2):175–82.
14 Precht RD, Zofinger Tagblatt vom 12. Sept. 20, S. 48 Zitat: »Irgendwann wollen wir alles messen, weil wir uns sonst nicht mehr sicher fühlen. Dann fangen wir an, die messbare Seite der Welt für die Welt zu halten».
15 Kühlein T, Maibaum T, Klemperer D. Quartäre Prävention oder die Verhinderung nutzloser Medizin; Deutscher Ärzteverlag | ZFA | Z Allg Med | 2018; 94 (4).
16 Gerber M, Kraft E, Bosshard C. Shared Decision Making – Arzt und Patient entscheiden gemeinsam. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(44):1524–9.
17 Kühlein T, Schaefer, C. Die Kunst des Abweichens; Deutsches Ärzteblatt, Jg 117, Heft 37 S. 1696 (2020).