Die pädiatrische Praxisassistenz in der Schweiz
Was ist ähnlich, was anders?

Die pädiatrische Praxisassistenz in der Schweiz

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2020/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2020.10304
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(11):336-337

Affiliations
a Kinder- und Jugendpraxis Schlieren; b «Kind im Zentrum» ZH-Wollishofen

Publiziert am 03.11.2020

Der Ausbau der pädiatrischen Praxisassistenz ist ein entscheidender Beitrag zur Nachwuchsförderung und Sicherung der künftigen ­pädiatrischen Grundversorgung in Praxis und Spital. Manche Fertigkeiten können nur im Spital, andere ­allein in der Praxis erworben werden.

Rückblick

Als ich im Jahre 2000 die Chance eines Sabbaticals nutzen konnte und in Amerika Teaching Tools wie Einwegscheiben und Video-Supervision kennenlernte, schlug ich dem damaligen Chef des Zürcher Kinderspitals ­Felix Sennhauser vor, die damals noch in den Kinderschuhen steckende pädiatrische Praxisassistenz (pPA) als Rotationsstelle an seiner Klinik zu etablieren. Geld dafür war keines vorhanden. Eine Stiftung ermöglichte sechsmonatige Rotationsstellen (2001 bis 2002), die ­dokumentiert und ausgewertet wurden. Dies war das Startsignal für eine grosse Erfolgsstory des Zürcher Kinderspitals in Zusammenarbeit mit Praxispädiatern. Die Gesundheitsdirektion unterstützte dieses Projekt finanziell. In den vergangenen 20 Jahren hatte ich ununterbrochen Praxisassistierende, zuerst für jeweils sechs, bald für neun und schliesslich für zwölf Monate.
Rasch wurde mir klar, dass das fundierte Erlernen von pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen, gepaart mit entwicklungspädiatrischem Know-how und darauf ­basierenden Beratungen, sich in Inhalt und Form von allgemeininternistischen Praxisassistenzen unterscheidet [1]. Als Ausbildner des Kollegium für Hausarztmedizin (KHM) für Lehrpraktikerinnen und ­-praktiker erlebe ich, dass schon nach kurzer Zeit die allgemeininternistischen Praxis­assistierenden selbstständig mit­arbeiten können, während in meiner pädiatrischen Praxis der erste ­Monat zu 100% der 1:1-Ein­arbeitung ­gewidmet ist ­(Supervisionsstufen 4 und 5, siehe med. Masterarbeit Nadja Näf [2]).
2011 war das Bedürfnis nach Praxisassistenzen im Kinderspital Zürich so gross, dass mit der Praxis Thomann/Geiser in Schlieren eine zweite Rotationsstelle eingeführt wurde. In der Zwischenzeit sind es vier ­Praxen, zu denen die Praxisassistierenden des Kinderspitals rotieren. Andere Spitäler haben vom Konzept des Kinderspitals gelernt und bieten eigene Curricula an.

Jetziger Stand

Die pPA gibt es in vielen Kantonen in verschiedensten Versionen [3]. Je nach Region sind Rekrutierung, Matching, Vergabe, Qualitätskriterien und Kofinanzierung sehr unterschiedlich. Die Anstellung wird durch die kantonale Gesundheitsdirektion bewilligt [4]. Manche Kantone unterstützen pPA besonders in ländlichen Regionen finanziell stärker. Im Kontrast dazu gibt es leider Praxen bzw. Unternehmen, welche die Praxis­assistenz als Möglichkeit zur Bewältigung der Arbeitslast und/oder als gewinnbringendes Geschäftsmodell sehen.
Manche Kantone delegieren die Administration der pPA an die Stiftung zur Förderung der Weiterbildung in Hausarztmedizin (WHM), die auch Kurse für Lehrpraktikerinnen und -praktiker organisiert und Rahmenbedingungen definiert.
Die von Sepp Holtz oben beschriebene Art der pPA stellt hohe Qualitätsansprüche an alle Beteiligte. Das Anliegen der Autoren ist die höchstmögliche Qualität der pPA. Dies kommt nicht allein den Kindern und ­Jugendlichen in Spital und Praxis bzw. den Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung zugute – es ist auch kostendämmend [5].
In Zürich haben sich einige Lehrpraktikerinnen und -praktiker zur «Arbeitsgruppe pPA» zusammengeschlossen mit dem Ziel, die Qualität der pPA hoch zu halten und sie gemäss den Besonderheiten der Pädiatrie weiterzuentwickeln. Dazu gehören Lehrpraktikertreffen, ­Intervisionen, Kontaktpflege zu den Kinderkliniken sowie Engagement in Lehre und Standespolitik.

Die Sicht der Praxisassistentin

Durch Sepp Holtz, der seit meinem Medizin­studium mein Mentor ist, kam ich früh mit dem Thema pPA in Berührung. Ich erhielt in den vergangenen neun Jahren wiederholt Einblicke in seine Praxis­tätigkeit und Rolle als Lehrarzt.
In meinem vierten Weiterbildungsjahr zur Fachärztin Kinder- und Jugendmedizin erhielt ich die Möglichkeit, in seiner Kinderarztpraxis für ein Jahr als Assistenzärztin zu arbeiten. Ich brachte ein Jahr Erfahrung in Allgemein Innerer Medizin sowie drei Jahre Spitalpädiatrie mit. Rasch realisierte ich, dass mein bisheriger Erfahrungsschatz zwar für die meisten akuten somatischen Problemstellungen in der Praxis ausreicht, aber ein noch grösserer Teil der Praxistätigkeit Vorsorgeuntersuchungen und Entwicklungsabklärungen mit den dazugehörenden Beratungen umfasst. Die Praxis bietet das ideale Setting, um sich diese Kompetenzen anzueignen, die im Spital kaum gelehrt werden. Einerseits erhielt ich während meiner Praxisassistenz sehr viele wertvolle 1:1-Teachings, andererseits erfolgte über fünf Supervisionsstufen ein schrittweises Heranführen an die praxispädiatrische Tätigkeit und später immer wieder eine Reevaluation des Gelernten. Die Besprechung der – im Einverständnis mit den Eltern – aufgenommenen Filmsequenzen meiner Konsultationen trugen ­besonders zur Erweiterung meiner Fachkompetenzen bei. Neben der Kompetenz­erweiterung in Entwicklungspädiatrie und ­Gesprächsführung habe ich im vergangenen Jahr zudem Einblick in die Begleitung von Langzeitpatienten bekommen, und damit einhergehend den Umgang mit dem komplexen Versicherungswesen und wirtschaft­lichen Aspekten erlernt.
Die Wertschätzung und Offenheit der Patienten mir ­gegenüber habe ich in der Praxisassistenzzeit als sehr positiv erlebt. Obwohl der jährliche Wechsel der Praxis­assistierenden für sie immer wieder einen neuen Beziehungsaufbau bedeutet, konnte ich in diesem Jahr viele vertrauensvolle Begegnungen mit den Patientinnen und Patienten und ihren Familien erleben. Entsprechend schwer fiel mir der Abschied von ihnen.
Oft wird über die Dauer der pPA diskutiert. Aus meiner Sicht ist ein ganzes Jahr notwendig, um sich die oben erwähnten Kompetenzen anzueignen. Das Praxisassistenzjahr habe ich als sehr bereichernd erlebt und kann es wärmstens weiterempfehlen.

Ausblick und Visionen

Der Ausbau der pPA ist ein entscheidender Beitrag zur Nachwuchsförderung und Sicherung der künftigen ­pädiatrischen Grundversorgung in Praxis und Spital. Manche Fertigkeiten können nur im Spital, andere ­allein in der Praxis erworben werden.
Neu gibt es seit 2020 am Kinderspital Zürich ein zweijähriges Curriculum Praxispädiatrie. Es umfasst je sechs Monate Entwicklungspädiatrie, Kinderchirurgie und Notfallmedizin sowie je drei Monate Dermatologie und ORL. Den Curriculumsteilnehmenden wird empfohlen, zusätzlich eine Praxisassistenz zu absolvieren. Wir sind auf gutem Weg: Die pPA ist breit anerkannt, und die Nachfrage von Seiten der Assistenzärztinnen und -ärzten klar vorhanden. Dennoch beschäftigen uns zentrale Fragen: Genügt eine Empfehlung oder braucht es ein Obligatorium für künftige Praxispädiater? Wie sieht die Qualitätssicherung aus? Genügt der freie Wett­bewerb, sprich: «Flüsterwerbung» der Assistenz­ärztinnen und -ärzte, oder braucht es eine offizielle Qualitäts­kontrolle? Wie erfolgt die Kofinanzierung, damit der Praxis­assistierende nicht zur «Cashcow» verkommen muss? Wie kann die Kontinuität der pPA-Stellen in den Lehrpraxen gesichert werden? Wie finden wir genügend erfahrene, kompetente und hoch motivierte Lehrpraktikerinnen und -praktiker?
Unsere Erfahrung zeigt, dass eine pPA neun bis zwölf Monate dauern muss, soll sie der Komplexität der Praxispädiatrie und den damit verbundenen Qualitäts­anforderungen gerecht werden. Einerseits braucht es die Förderung der Lehrenden durch Didaktik-Fortbildungen, Kommunikationstrainings und Intervisionen ­sowie eine angemessene Entschädigung ihrer Arbeit. Andererseits braucht es einen besonderen Effort der standespolitischen Verbände, um der Politik aufzu­zeigen, dass eine gute pädiatrische Grundversorgung kein Selbstläufer ist, in Spital und Praxis gelehrt werden muss und nicht gratis zu haben ist.
Claudia Baeriswyl
pädiatrie schweiz
Postfach 1380
CH-1701 Freiburg
sekretariat[at]paediatrieschweiz.ch
1 Holtz S. «Die Praxisassistentin gestaltete die Untersuchung genau so, wie der Chef das gerne hat». Prim Hosp Care (de). 2016;16(07):136–7.
2 Masterarbeit Nadja Naef, Strukturierte Weiterbildung in der Pädiatrischen Praxis, auf Anfrage bei sepp.holtz[at]gmail.com -erhältlich.
3 Häuptle, von Erlach: Weiterbildung in Hausarzt-medizin: Praxisassistenz und Curriculaweiterbildung (Rotationsstellen) in der Schweiz. Praxis 2019; 108 (1).