Weite Wege und endlose Strassen faszinieren. Manchmal verbinden sie Nationen und Kontinente, denken Sie nur an die Seidenstrasse oder den Jakobsweg. Und in kosmischen Dimensionen – die Milchstrasse! Auch als Metapher sind Wege beliebt, zur Darstellung einer Entwicklung oder einer Verbindung. Folgen Sie mir auf einem Weg der Erinnerungen und Bilder?
Zuerst ein pragmatischer Tipp für die Sprechstunde, wo ein Bild manchmal mehr wert ist als viele Worte: Auch mit unseren Patienten sind wir auf gemeinsamen Wegen unterwegs. Wenn ein Wegabschnitt (eine Therapie) nicht zum gewünschten Ziel führt oder zu mühsam ist, kann man auch umkehren – für Patienten gut zu wissen. Für sie ist es einfach wichtig, jemanden an ihrer Seite zu wissen, egal, wohin der Weg (die Entwicklung ihrer Krankheit) führt. Für sie sind wir erfahrene Lotsen auf unbekannten Wegen. Und was ist mit unserem eigenen Weg?
Die meisten von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, sind im mittleren Lebensalter (und fortgeschrittenen Arbeitslebensalter) und haben somit schon einen längeren Weg hinter sich. Wagen wir einen Blick zurück: Die Kindheit, mit den ersten Gehversuchen im physischen und im übertragenen Sinn, mit den ersten Lektionen von Erfolg und Scheitern: Ah, das berauschende Gefühl der ersten Schritte auf zwei Beinen, der ersten Fahrt auf zwei Rädern ohne Hilfe! Und dann doch noch auf der Nase gelandet. Später, in der Schule: Das Glücksgefühl von Erkenntnis, die Frustration des nicht Begreifens. Die erste Liebe, der erste Liebeskummer, in einer Reihe von weiteren. Fühlt sich nicht das ganze Leben wie eine Reihe von Erfolg und Scheitern an? Wege und Irrwege, und immer wieder diese Entscheidungen: Welche Abzweigung nehme ich am besten? Einige haben wir links liegen lassen, im Rückblick mit Bedauern oder auch einmal mit Erleichterung darüber. Manche waren Sackgassen.
Glücks- und Stressmomente am Wegesrand. Der weite Weg, den wir vom naiven, neugierigen Studenten zum erfahrenen, vielleicht auch ernüchterten Routinier gegangen sind, vom abenteuerlustigen Single bis zum verantwortungsbewussten, na ja, vielleicht manchmal biederen Familienmenschen. Dabei haben wir zahllose Erlebnisse gesammelt, im Rückblick bunte Episoden am Wegesrand. Und ja, dicht neben den farbig blühenden, duftenden Augenweiden stehen dort auch unsere Dämonen: die dornigen Gewächse der Ängste und Zwänge, der giftiggrüne Neid und die stachelige Eifersucht, dazwischen eingestreut die schwarze Wurzel der Verzweiflung. Über weite Strecken war unser Weg vielleicht undramatisch und eintönig, ohne grosse Höhen und Tiefen. Nur so entsteht der Kontrast zu den speziellen Episoden.
Gott sei Dank sind wir nicht alleine unterwegs, sondern begegnen vielen Passanten. Alle haben uns irgendwie darin beeinflusst, wohin wir unsere Schritte lenken – und wir sie ebenso. Die, die wir aus den Augen verloren haben – welche Wege haben sie wohl eingeschlagen? Weite Abschnitte unseres Weges gehen wir gemeinsam mit unseren Eltern, Geschwistern, Freunden, Partnerinnen und Partnern und den eigenen Kindern. Wie bereichernd, diese Wegabschnitte mit ihnen zu teilen! Wie selten bedanken wir uns bei ihnen für ihre Begleitung.
Vielleicht sind Sie auch einmal ein Stück des Weges zurückgegangen, das Ihnen allzu ruppig schien. Oder haben sich im Gegenteil durchgebissen, in der Hoffnung, dass der Weg wieder passabler würde. Irgendwann einmal wird der Wegverlauf vor uns undeutlicher (niemand weiss im voraus, wann sich der Nebel senkt) und endet im Nirgendwo. Manche nennen es Ewigkeit. Im besten Fall sind wir inzwischen fremd geworden mit Landschaft und Weggenossen, sind genug weit gekommen. Müde, ohne erschöpft zu sein. Die letzten Schritte können wir dann leichten Herzens gehen, in Erwartung baldiger Ruhe.
Korrespondenz
Prof. Dr. med Stefan Neuner-Jehle MPH, Institut für Hausarztmedizin Pestalozzistrasse 24 CH-8091 Zürich Stefan.Neuner-Jehle[at]usz.ch