Gibt es die typische Hausarztpraxis?

Unkonventionelle Einsichten aus der Perspektive des Praxisvertreters

Reflexionen
Ausgabe
2021/01
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10280
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(01):31-32

Affiliations
Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, Arosa

Publiziert am 06.01.2021

Bald nach der Aufgabe der eigenen Praxis habe ich angefangen, Kolleginnen und Kollegen, die in die Ferien fahren oder aus Krankheitsgründen ihrer Tätigkeit nicht nachgehen können, zu vertreten. Zeitweilig machte ich in den ersten Jahren drei bis vier Monate im Jahr Vertretungen, später nur noch Kurzeinsätze im Medizinischen Zentrum Arosa.

Grosse Unterschiede zwischen den ­Praxen

Bald nach der Aufgabe der eigenen Praxis habe ich ­angefangen, Kolleginnen und Kollegen, die in die ­Ferien fahren oder aus Krankheitsgründen ihrer Tätigkeit nicht nachgehen können, zu vertreten. Zeitweilig machte ich in den ersten Jahren drei bis vier Monate im Jahr Vertretungen, später nur noch Kurzeinsätze im Medizinischen Zentrum Arosa.
In dieser Zeit habe ich mehr als 25 verschiedene Praxen auf dem Lande oder in Vororten von Städten kennengelernt. Die Vertretungen dauerten zwischen einem Wochenende und zwei Monaten, an einem Ort war ich elfmal. Bei den verschiedenen Vertretungen habe ich interessante Erkenntnisse gewinnen können, über die ich gerne etwas berichten möchte.
Zunächst stellte ich fest, dass keine der Praxen, in denen ich Vertretungen machte, das breite Spektrum meiner früheren Praxis in Arosa erreichte. In Arosa sind wir 30 km und 1200 Höhenmeter vom nächsten Spital und Spezialisten entfernt und im Winter sind im Ort bis zu 20 000 Personen anwesend. Bei meinen Vertretungen in verschiedenen Kantonen stellte ich fest, dass man nur selten einen chirurgisch akuten Fall zu sehen ­bekommt. Viele Patientinnen und Patienten rennen, wenn ein Unfall passiert ist oder ein akutes Geschehen sie plagt, direkt in die nächste Spitalambulanz. Auch Kinder sah ich sehr selten, am ehesten noch dort, wo in der Nähe ein Pädiater ohne Nachfolge aufgegeben hat. Notfälle sieht man nicht viele und akute Fälle je nach Praxis verschieden oft. Überwiegend sind es chronische Patienten, die den grossen Teil der Arbeit aus­machen: Menschen mit Hypertonie, Herzkrank­heiten, ­Diabetes, Arthrose und Polymorbidität. Häufig sieht man Patienten zur Kontrolle der Antikoagulation. Sollten mit der Zeit tatsächlich die neuen antithrombotischen Medikamente den «Quick» ablösen, so wird das zu erheblichen Veränderungen in den Praxis­abläufen führen. Und wie sollen Patienten, die eine regelmässige Betreuung benötigen, geführt werden, wenn kein regelmässiger «Quick» mehr gemacht werden muss?

Der Beruf der MPA im Wandel

In den letzten Jahren hat sich das Berufsbild der Medizinische Praxisassistentin (MPA) – früher: Arztgehilfin – deutlich verändert. Das Labor hat, vor allem durch die modernen Apparate, an Bedeutung eingebüsst. Einen grossen Teil der Zeit verbringen unsere Mitarbeiterinnen am Telefon und am Computer. Oft hatte ich sogar den Eindruck, dass Ordnung und der geregelte Ablauf am Computer und am Telefon fast wichtiger sei, als dafür zu sorgen, dass der Arzt immer und ohne Pausen Patienten betreuen kann. Die Triage am Telefon, die meine MPAs in Arosa meisterhaft beherrschten, können die MPAs in einer Praxis, wie ich sie an­getroffen habe, nur lang­samer erlernen. Auch die Schulung des klinischen Blicks braucht mehr Zeit. Um hier etwas mitzuhelfen, habe ich den Mitarbeiterinnen immer wieder klinische Bilder gezeigt (im Einverständnis der Patienten), wobei ich meistens, aber nicht immer auf Interesse stiess.
Das Röntgen spielte in den verschiedenen Praxen eine recht unterschiedliche Rolle. Ich gab zu jedem Bild ­einen technischen Kommentar ab (Ausschnitt, Belichtung). Nur so kann die Qualität der Bilder, die für ­unseren Ruf beim Spezialisten und im Spital wichtig ist, verbessert werden. Wesentlich unempfindlicher auf Belichtungsfehler sind natürlich die Bilder, die mit ­digitalem Röntgen gemacht werden.
Auffällig ist der grosse Respekt der MPAs vor dem ­vollen Wartezimmer. Aus diesem Grunde werden viele mögliche Patienten am Telefon an andere Ärzte verwiesen. Das sinnvolle «Dazwischennehmen» und die Improvisationskunst vermisste ich in einigen Praxen. Das ist kein Wunder, denn die Patienten werden immer ungeduldiger, niemand hat mehr Zeit. Sogar die Arbeitsunfähigen und die Rentner schauen dauernd auf die Uhr.
Viel Arbeit haben unsere MPAs mit der Apotheke, die es in vielen Praxen in der Schweiz gibt. Politiker und KK-Funktionäre glauben immer, hier sei ohne grosse Mühe, viel Geld zu verdienen. Dass aber die Verwaltung einer Praxis-Apotheke mindestens ein Halbtagespensum einer MPA ist, sehen sie nicht. Dazu kommt, dass ich Praxen erlebt habe, die ohne Medikamentenabgabe nicht überlebensfähig wären.
Die Zusammenarbeit mit den MPAs war allen vorherigen Bemerkungen zum Trotz sehr gut. Es ist für diese oft sehr engagierten Damen nicht einfach, wenn die Vertretung viele Dinge anders macht, als sie es sich vom Praxisinhaber gewohnt sind. Häufig leiden sie ­sogar darunter.

Mit Schwierigkeiten muss man rechnen

Als Vertretung in einer Arztpraxis muss man beweglich sein und alles andere als doktrinär. Die Vertretung hat die Aufgabe, die Praxis möglichst im Sinne des Praxisinhabers zu führen. Es ist nicht ihre Aufgabe, eine etablierte Therapie zu ändern, es sei denn, akute Probleme erfordern es. Man muss es auch ertragen, eine Therapie fortzuführen, die man selber lieber etwas anders anginge. Sicher ist es gut, die Patienten ­darin zu bestärken, die Therapie, die sie haben, gut fortzuführen («Ihr Doktor hat für Sie eine sehr zweckmässige Behandlung angeordnet»). Vielmals hatte ich den Eindruck, dass Patienten es schätzten, wieder einmal einige Erklärungen über ihre Krankheit zu erhalten oder wieder einmal zu hören, welches Medi­kament für welche Erkrankung genommen wird. Ich erlebte allerdings auch Patienten, die nicht imstande waren, mir darzulegen, weshalb sie hier waren («Mein Arzt weiss das schon»).
Oft wäre ich froh darum gewesen, vom Praxisinhaber einige Richtlinien zu bekommen, was ihm wichtig sei und wo er spezielle Lösungen für seine Praxis ge­funden habe. Sehr wertvoll waren in dem Sinne Einführungstage, wo man Chef und Praxis etwas kennenlernen konnte, was ich einige Male erlebte. Auch über die Zusammenarbeit mit Kollegen und Spitälern sollte man sich informieren können.

Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten

Interessant war es, die Verschiedenheit der Praxen zu sehen. Die neueren Praxen sehen sich sehr ähnlich, die älteren sind individueller eingerichtet. Grosse Unterschiede sah ich auch bei der Führung von Langzeit­patienten. In einer Praxis gab es die Doktrin, dass der Hypertoniker jährlich ein EKG, ein Thorax-Röntgen und ein grosses Labor bekam. In einer anderen Praxis, dessen Chef ich als sehr gewissenhaft erlebte, stellte ich fest, dass von 50-jährigen Patienten, die seit Jahren in der Praxis bekannt sind (ohne Dauertherapie) weder ein Thorax noch ein EKG vorhanden war.
Wenig Unterschiede sah ich bei der Behandlung der ­Patienten. Sei es Hypertonie, Herzinsuffizienz, Diabetes oder Polymorbidität; die Therapien sind doch sehr ähnlich, wobei in Schweizer Hausarztpraxen recht oft Generika eingesetzt werden.
Offene Fragen, die auch ich in meiner Praxis erlebte, bleiben. Wie oft soll man Hypertoniker kontrollieren? Alle 4, 8, 12 Wochen oder zweimal jährlich? Ich habe ­alles gesehen. Was ist richtig? Jeder Kollege, der seine Gewohnheiten hat, sieht gute Gründe für sein Tun oder Lassen. Auf diesem Gebiet vermisse ich Richtlinien, die aber wesentlich von uns Allgemeinärzten kommen müssten, natürlich in Zusammenarbeit mit Spezialisten. Hier ist ein weites Feld für Forschungen offen.
Und etwas ist wichtig: Als Vertretung ist man Arbeit­nehmer. Nur in seltenen Fällen gibt es eine kollegiale Kameradschaft, nicht zuletzt, weil man ja den Chef gar nie erlebt.
Dr. med. ­Martin ­Röthlisberger
Jöri-Jenni-Strasse 4
CH-7050 Arosa
dr.roe.arosa[at]bluewin.ch