Teil 2: Das «Recht auf Unvernunft»

Urteilsfähigkeit in der klinischen Praxis

Fortbildung
Ausgabe
2021/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10293
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(03):75-81

Affiliations
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik, Universitätsspital Zürich

Publiziert am 02.03.2021

Das Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet das Recht eines jeden Patienten, einer medizinischen Behandlung zuzustimmen oder diese abzulehnen, auch wenn diese Entscheidung mit irreversiblen oder tödlichen Folgen verbunden ist und/oder «unvernünftig» erscheinen mag. Voraussetzung ist, dass die Patienten bezüglich dieser Entscheidung urteilsfähig sind, wofür gewisse Kompetenzen vorhanden sein müssen.

Fallvignette 1 – Konsilauftrag zur Beurteilung der Ent­lassungsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht sowie der Urteilsfähigkeit in Bezug auf das Erstellen einer Patientenverfügung


Eine 61-jährige, multimorbide Patientin, die ursprünglich aus Ghana stammt und seit 1974 in der Schweiz lebt, wurde mit ­einem kardiogenen Schock bei vor­bestehender, fortgeschrittener hypertensiver Herzkrankheit hospitalisiert. Bei der Patientin war zudem ­aktenanamnestisch eine Paranoide Schizophrenie ­bekannt. Die Hauptsymptome waren wahnhaftes Er­leben sowie optische und akustische Halluzinationen mit «spirituellen» Inhalten (Stimmen von Familien­ahnen würden mit ihr kommunizieren). Im Gespräch zeigte sich die Patientin stark abgelenkt bei produktiv-psychotischem Erleben und formalgedanklich auffällig mit Vorbeireden und eigenlogischen Aussagen; die Exploration wurde durch die leicht eingeschränkten Deutschkenntnisse nochmals erschwert.
Darüber hinaus ergaben sich dringende fremdanamnestische Hinweise auf Vorliegen einer ausgeprägten Negativsympto­matik mit Apathie, Affektverflachung und sozialem Rückzug. Ausserdem bestand eine anhaltend fehlende Krankheitseinsicht, was dazu führte, dass die Patientin nur gelegentlich die in der ambulanten Behandlung verschriebenen antipsychotischen Medikamente einnahm. Ebenso bestand eine Malcompliance in Bezug auf die somatische Medikation.
Die Patientin ist verheiratet, ihr Ehemann unterstützte sie sehr, auch in der Bewältigung der Aufgaben des täglichen Lebens im gemeinsamen Haushalt. Sie hatte keine Kinder und war aufgrund der Diagnose der Paranoiden Schizophrenie 100%-IV-berentet.
Aufgrund der fortgeschrittenen hypertensiven Herzerkrankung und des bereits stattgehabten kardiogenen Schocks, war es ein Anliegen des Ehemannes sowie des Behandlungsteams auf der kardiologischen Station, dass die Patientin eine Vertretungsbevollmächtigung und eine Patientenverfügung erstellt. Es stellte sich die Frage, ob die Patientin diesbezüglich urteilsfähig war. Seitens des Behandlungsteams bestanden zudem Bedenken bezüglich der Entlassungsfähigkeit der Patientin, denn es bestand ein hohes Risiko für ein erneutes kardiovaskuläres Ereignis mit potenziell intensiv­medizinischer Behandlungsbedürftigkeit und hoher Mortalität.

Grundlagen zum Konstrukt Urteils(un)fähigkeit

Urteilsfähigkeit ist kein medizinischer, sondern ein vom Recht her vorgegebener Begriff. Gemäss Art. 16 ZGB ist jede Person urteilsfähig, «der es nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände an der Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.» Nur eine urteilsfähige Person kann rechtwirksam in medizinische Untersuchungen und Behandlungen einwilligen, oder diese ablehnen.
Gemäss Art. 8 ZGB hat diejenige Partei das Vorliegen der Urteilsfähigkeit einer bestimmten Person nachzuweisen, die aus deren Vorhandensein Rechte ableitet. Die Beweislast der Urteilsfähigkeit auch mit Blick auf die (zivil- und strafrechtliche) Rechtmässigkeit der ­Zustimmung oder der Ablehnung eines ärztlichen ­Eingriffs liegt daher beim Arzt [2].
Prinzipiell wird grundsätzlich von Urteilsfähigkeit ausgegangen; erst bei Zweifeln an der Entscheidungskompetenz des Patienten erfolgt eine gezielte Unter­suchung der Urteilsfähigkeit. Sie wird dann jeweils für eine spezifische Fragestellung zu einem definierten Zeitpunkt ermittelt. In Bezug auf den Sachverhalt, um den es geht, ist die Urteilsfähigkeit also eine relationale Grösse. Ein Patient kann also beispielsweise in ­Bezug auf eine Entscheidung urteilsfähig sein, in ­Bezug auf eine andere jedoch nicht. Letztendlich muss die Untersuchung der Urteilsfähigkeit in Bezug auf ­einen Sachverhalt aber in einem Ja-/Nein-Entscheid ­resultieren («Dichotomie der Urteilsfähigkeit»).
Urteils(un)fähigkeit ist immer eine Zuschreibung nach ethisch-normativen Gesichtspunkten [1]. Die Tragweite der Entscheidung ist für die Ansprüche an die ­Urteilsfähigkeit relevant, eine besonders sorgfältige Beurteilung muss dann erfolgen, wenn die Entscheidung des Patienten für oder gegen eine diagnostische Abklärung oder Behandlung mit potenziell irreversiblen, eventuell sogar lebensbedrohlichen Konsequenzen verbunden ist [3].
Die Urteilsfähigkeit lässt sich nicht primär aus einer ­bestimmten Handlung ableiten, selbst wenn diese irrational oder gar bizarr anmutet. Für die Evaluation der Urteilsfähigkeit wird das Vorhandensein gewisser mentaler Fähigkeiten ermittelt (z.B. die Fähigkeit zur rationalen Abwägung), nicht die tatsächliche Anwendung dieser Kompetenzen. Pointiert lässt sich sagen, dass selbstverständlich ein «Recht auf Unvernunft» gilt.
Bei der Beurteilung sollte man beachten, dass nicht nur die Urteilsfähigkeit der Patientinnen und Patienten, sondern auch das Urteilsvermögen der Evaluierenden eingeschränkt sein kann. Voreingenommenheit, beispielweise aufgrund von starken weltanschaulichen Überzeugungen oder individuellen Wertvorstellungen, kann zu einer verzerrten Einschätzung führen. Der Entscheid zur Urteilsfähigkeit sollte dies reflektieren, sich auf transparente Kriterien stützen und intersubjektiv nachvollziehbar sein [4].
Nach den für die Schweiz gültigen SAMW-Leitlinien [4] setzt die Urteilsfähigkeit kognitive, emotionale, motivationale und voluntative (den Willen betreffende) Kompetenzen voraus, die unter der Erkenntnisfähigkeit, Wertungsfähigkeit, Fähigkeit zur Willensbildung und Fähigkeit zur Willensumsetzung subsummiert werden (Tab. 1). Hierbei handelt es sich um kumulative Voraussetzungen, was bedeutet, dass alle vier mentalen Kompetenzen als Voraussetzung für die Urteilsfähigkeit vorhanden sein müssen.
Tabelle 1: Kompetenzen für die Urteilsfähigkeit.
KompetenzAnforderungen
ErkenntnisfähigkeitFähigkeit, die für die Entscheidung relevanten Informationen zumindest in den Grundzügen zu erfassen.
WertungsfähigkeitFähigkeit, der Entscheidungssituation vor dem Hintergrund der verschiedenen Handlungsoptionen eine persönliche ­Bedeutung beizumessen.
WillensbildungFähigkeit, aufgrund der verfügbaren Informationen und ­eigener Erfahrungen, Motive und Wertvorstellungen einen Entscheid zu treffen.
WillensumsetzungFähigkeit, diesen Entscheid zu kommunizieren und zu ­vertreten.
Es darf nie von einer Diagnose direkt auf die Urteils(un)fähigkeit geschlossen werden, sondern es sind stets ­individuell die genannten mentalen Fähigkeiten zu prüfen. Tabelle 2 fasst psychische Erkrankungen und Zustände zusammen, welche die Urteilsfähigkeit beeinträchtigen können.
Tabelle 2: Zustände, welche die Urteilsfähigkeit beeinträchtigen können.
Erworbene/angeborene Intelligenzminderung
Demenz/Delir/Enzephalopathie
Erkrankungen aus dem psychotischen Spektrum: Wahnhafte Störung, Schizophrenie, schizoaffektive Störung
Substanzabhängigkeit, akute Intoxikation
Schwere depressive Episode, manisches Zustandsbild
Organische affektive oder psychotische Episode
Schwere Angststörung, akute Belastungsreaktion, posttraumatische Belastungsstörung
Verleugnung der Grunderkrankung bei neurologischen Erkrankungen mit Parietal­hirnbeteiligung: Neglekt oder ausgeprägte funktionelle Verleugnung
Schwere Schmerzzustände
Affektiver Ausnahmezustand
Schwere Identitätsstörungen

Fallvignette 2 – Konsilauftrag zur Beurteilung der ­Urteilsfähigkeit


Ein 22-jähriger Patient ist mit Erstdiagnose einer akuten lymphatischen B-Zell-Leukämie fünf Monate zuvor aktuell aufgrund panvertebraler Schmerzen bei Blasteninflitration des Knochenmarks hospitalisiert.
Der Patient lehnt eine weitere Behandlung der Leukämie mit Chemotherapie ab. Der Patient habe sich bei Erstdiagnose einmalig auf einen Zyklus Chemotherapie eingelassen («ich bin überredet worden»). Durch die ausgeprägten Nebenwirkungen (Gewichtsabnahme, Haarausfall, Fatigue, Polyneuropathie) habe er erstmalig seit der Erkrankung deutliche körperliche Symptome wahrgenommen und diese daher als schädlich inter­pretiert. Der Patient sei vorher sehr sportlich und muskulös gewesen; er lege Wert auf sein äusseres Erscheinungsbild.
Im Vorfeld hätten sich der Patient und seine Familie (mit türkischem Migrationshintergrund) bereits einem Imam sowie einem naturkundlich heilenden Arzt aus der Türkei anvertraut, zuvor auch einer naturheilkundlichen Klinik in Deutschland. Er bete mehrfach täglich und nehme Nahrungsergänzungsmittel sowie bestimmte Pilze ein und halte eine Low-Carb-Diät ein. Er sei überzeugt, dass die Kombination dieser Massnahmen nütze; letztlich könne aber nur Gott wieder nehmen, was er gegeben habe. Er würde lieber sterben, als sich nochmals einer Chemotherapie zu unterziehen. Er könne es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, sich diese zum Teil auf der Entwicklung von Kampfgasen (Nitrosamin) beruhenden Substanzen applizieren zu lassen. Seine Familie (Eltern und Bruder) unterstütze ihn vollumfänglich auf diesem individuellen Behandlungsweg. Dies wurde in einem weiteren Gespräch mit den Eltern und dem Bruder des Patienten bestätigt.
Psychopathologisch findet sich in der Konsultation ein bewusstseinsklarer Patient, es sind keine relevanten mnestischen/kognitiven Störungen zu eruieren (leichte Konzentrationsstörungen, die in Zusammenhang mit Schmerz und körperlicher Erschöpfung zu interpretieren sind). Im Affekt zeigt sich ein zuerst leicht dysphorischer, im weiteren Gesprächsverlauf dann aber zugänglicher Patient mit leicht gedrückter Stimmungslage bei erhaltener Schwingungsfähigkeit ohne Hinweis auf eine relevante depressive Symptomatik. Ein Lebenswille wird glaubwürdig geäussert, aber gleichzeitig auch die Haltung kommuniziert, nicht um jeden Preis überleben zu wollen.

Erkenntnisfähigkeit

Eine Entscheidung bezüglich einer Behandlungsoption ist bedeutungslos, wenn der Patient nicht in der Lage ist, die Umstände zu verstehen. Voraussetzung für die Urteilsfähigkeit ist daher, dass die handelnde Person in der Lage ist, die Aussenwelt zumindest in ­ihren Grundzügen richtig zu erkennen und sich ein ­angemessenes Bild von der Realität zu verschaffen.
Zur Ermittlung der Erkenntnisfähigkeit wird zuerst das Informationsverständnis über die Krankheit und deren voraussichtlichen natürlichen Verlauf erfragt. Dazu eignen sich offene Fragen am besten. Der Patient wird gebeten, die Behandlungsoptionen und deren Risiken und Vorteile mit seinen eigenen Worten wiederzugeben. Im Falle einer Ablehnung der empfohlenen Behandlung werden auch die möglichen Konsequenzen dieser Entscheidung erfragt sowie Alternativen und mögliche Vorteile und Nachteile dieser Optionen. Dies können auch von schulmedizinischen Konzepten abweichende Alternativen sein wie holistische Ansätze oder das Vertrauen allein auf religiöse Hilfe, wie in der oben genannten Fallvignette 2.
Der Patient sollte die konkreten Auswirkungen seiner Entscheidung auf sein Leben/seine Lebensführung wiedergeben können und den potenziellen Behandlungsbedarf der Erkrankung verstehen. Beispielfragen sind im U-doc aufgeführt (Tab. 3).
Tabelle 3: U-doc: Beispielfragen zur Erfassung der Erkenntnisfähigkeit [1].
Würden Sie unser Gespräch noch einmal aus Ihrer Perspektive zusammenfassen, ­besonders hinsichtlich folgender Punkte:
a) Ihren Gesundheitszustand
b) Die Behandlungsmöglichkeiten und die jeweiligen Vor- und Nachteile
c) Die Vor- und Nachteile, wenn wir stattdessen gar nichts tun?
– Was meinen Sie, welche Auswirkungen hat [vom Patienten präferierte Option] auf Ihren Alltag? Was wird sich ändern?
– Was denken Sie, ist mit Ihrer Gesundheit derzeit nicht in Ordnung?
– Glauben Sie, dass Sie irgendeine Art von Behandlung brauchen?
– Was denken Sie, sind die Beweggründe, Ihnen [empfohlene Option] zu empfehlen?
Wird man für die Beurteilung der Urteilsfähigkeit von extern hinzugezogen, sollte vorher immer eine Rücksprache mit dem behandelnden Arzt erfolgen, um Informationen zum Gesundheitszustand des Patienten und Details zur erfolgten Aufklärung zu erhalten. Falls diese noch nicht suffizient oder unter ungünstigen Bedingungen (Hörgerät nicht eingesetzt, kein Dolmetscher bei fremdsprachigen Patienten, affektiver Ausnahmezustand des Patienten, Benutzung von für den Patienten unverständlichen Fachtermini etc.) erfolgt ist, muss diese vor der Beurteilung der Urteilsfähigkeit unter möglichst idealen Konditionen nachgeholt werden.
Einfache Bedside-Tests wie die MMSE (Mini Mental State Examination), das MoCA (Montreal Cognitive Assessment) oder der Uhrentest können hilfreich sein, um die allgemeine Gesprächsgestaltung in ihrer Komplexität der dargebotenen Informationen an das (aktuelle) Kognitionsniveau des Patienten anzupassen [5]; sie sind aber nicht geeignet, die Beurteilung der Urteilsfähigkeit zu ersetzen oder allein darauf abzustützen [6].
Bei schwerwiegender Störung der Erkenntnisfähigkeit erübrigt sich die Prüfung weiterer Aspekte der Urteilsfähigkeit, es besteht Urteilsunfähigkeit.
Zustände mit einer schweren Störung des Realitätsbezugs, wie Erkrankungen aus dem psychotischen Formenkreis, manische Zustände und schwere depressive Zustände zum Beispiel mit wahnhafter Symptomatik und suizidaler Einengung können die Erkenntnis­fähigkeit stören, ebenso wie signifikante mnestische ­Beeinträchtigungen wie bei einem Delir, einem Korsakow-Syndrom oder einer dementiellen Entwicklung.

Wertungsfähigkeit

Unter Wertungsfähigkeit wird die Kompetenz verstanden, der Entscheidungssituation vor dem Hintergrund der verschiedenen Handlungsoptionen eine persön­liche Bedeutung beizumessen, das heisst sie anhand eigener Wertmassstäbe zu evaluieren.
Die Untersuchung der Wertungsfähigkeit unterliegt grösserer Subjektivität als die Prüfung der ersten Komponente. Auch hier empfehlen sich offene Fragen (Tab. 4), die den Patienten im Narrativ schildern lassen, warum er sich aus den verschiedenen Optionen für die präferierte entschieden hat, um zugrundeliegende Motive, Emotionen und Werte zu ergründen.
Tabelle 4: U-doc: Vorschläge für offene Fragen zur Erfassung der Wertungsfähigkeit [1].
Sie denken, [vom Patienten präferierte Option] ist das Beste für Sie. Können Sie mir erklären, warum das so ist?
Was denken Sie, haben Erfahrungen Ihre Entscheidung beeinflusst? Wenn ja, in welcher Weise?
Was macht [vom Patienten präferierte Option] für Sie persönlich besser als [alternative Option]?
Was löst die Vorstellung von [alternative Option] in Ihnen aus?
Bezug zu eigenen Werthaltungen: Die Person kann die Entscheidung mit persönlichen Werthaltungen und Überzeugungen in Verbindung bringen.
Lebensgeschichtliche Einordnung: Die Person ist in der Lage, die Entscheidungs­situation im Kontext ihrer bisherigen (Krankheits-)Geschichte sowie im Zusammenhang mit ihrer gegenwärtigen Lebenssituation zu betrachten.
Informationsgewichtung/Entscheidungsgründe: Die Person gewichtet einzelne Aspekte verhältnismässig resp. führt verständliche Gründe für ihre Entscheidung an, bzw. ist sich im Klaren darüber, falls sie dies nicht tut.
Affektive Beteiligung: Die Person kann sich mit einer angemessenen Affektintensität am Entscheidungsprozess beteiligen und zeigt eine einfühlbare affektive Reaktion.
Die vorgebrachten persönlichen Gründe des Patienten müssen dabei nicht medizinisch akzeptiert sein oder von der breiten Öffentlichkeit geteilt werden; mög­licherweise lassen sie sich nur vor dem Hintergrund ­religiöser oder philosophischer Weltanschauungen ­einer kleinen Minderheit [7] oder aus dem subjektiven Erfahrungshorizont des Patienten heraus verstehen.
Die Wertungsfähigkeit setzt eine «verhältnismässige» Gewichtung der einzelnen Aspekte voraus; alternativ ist auch möglich, dass der Patient die starke oder geringe Gewichtung einzelner Gesichtspunkte reflektieren und begründen kann.
Einschränkungen der Wertungsfähigkeit können sich bei wahnhaften Störungen oder überwertigen Ideen ergeben, wenn einzelne Themen übermässig affektbeladen sind und dadurch eine ausgewogene Abwägung verunmöglicht wird. Bei Zuständen mit ausgeprägten Störungen der Aufmerksamkeitslenkung und weiterer höherer Hirnfunktionen wie strategischem Denken, Impulskontrolle, Handlungsplanung oder des analytischen Denkens kann die Fähigkeit zur rationalen Weiterverarbeitung der Information gestört sein. Klinisch treten derartige Einschränkungen zum Beispiel bei Denkstörungen im Rahmen psychotischer Störungen (zum Teil auch als Residualsymptomatik) auf oder bei deliranten/­enzephalopathischen Zustandsbildern. Bei schweren Identitätsstörungen (wie z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung) kann der Zugang zu eigenen Werthaltungen und Prioritäten (vorübergehend) erschwert sein oder diese können rasch wechseln.

Fähigkeit zur Willensbildung

Wer die Fähigkeit zur Willensbildung besitzt, kann anhand seiner Einsichten und Motive aus den möglichen Optionen eine vom Verstand oder der Intuition geleitete Entscheidung treffen. Willensbildungsfähigkeit setzt eine gewisse Selbstbestimmungskompetenz und damit einen Handlungsfreiraum voraus, das heisst das Handeln des urteilsfähigen Patienten folgt nicht unkontrolliert kurzfristigen Impulsen oder Trieben. Für die Willensbildung ist auch eine gewisse Stabilität der ­Entscheidung Voraussetzung. Rasch wechselnde, im Inhalt stark divergierende Willensäusserungen ohne Veränderung der äusseren Sachlage können ein Indiz für fehlende Urteilsfähigkeit sein [2].
Darüber hinaus sollte kohärent dargelegt werden können, weshalb sich der Patient für die gewählte Option entschieden hat, sei es durch rationale Argumentation oder intuitionsbasierte Selbstreflexion.

Fähigkeit zur Willensumsetzung

Hat sich eine Person einen Willen gebildet, stellt sich die Frage, ob sie eine ausreichende Widerstandskraft besitzt, gemäss der eigenen Entscheidung auch zu ­handeln und ihren Willen umzusetzen. Den eigenen Willen gilt es in ausreichendem Masse gegen äussere Einflüsse, aber auch gegen inneren Drang umsetzen zu können.
Hieraus ergibt sich, dass die Fähigkeit zur Willens­bildung dann relevant eingeschränkt ist, wenn die ­Person nicht in der Lage ist, die eigene Meinung beispielsweise gegenüber einem Familienangehörigen in ausreichendem Masse zu verteidigen, also gegen Einflüsse von aussen. Kann die Person den Willen deshalb nicht in die Tat umsetzen, weil ein innerer Drang, wie zum Beispiel ausgeprägtes Craving nach Substanzkonsum, die Entscheidung relevant bestimmt, ist die Willensumsetzungsfähigkeit ebenfalls eingeschränkt.
Wenn keine Kommunikationsfähigkeit besteht, somit der Wille der Person nicht geäussert werden kann (z.B. bei mutistischen oder schwer aphasischen Patienten), erübrigt sich eine weitere Prüfung und es besteht ­Urteilsunfähigkeit. Die Kommunikationsfähigkeit der Person sollte, genauso wie die anderen mentalen ­Fähigkeiten, so weit wie möglich unterstützt und ­gefördert werden; beispielsweise sollten sedierende Medikation, soweit wie möglich, reduziert werden oder die Tageszeit zur Exploration gewählt werden, in welcher der Patient am wachsten und adäquatesten ­erscheint. Auch ein niederschwelliger Beizug eines professionellen Übersetzers ist bei fremdsprachigen Patienten angezeigt, um eine differenzierte Kommunikation der Person zu ermöglichen. Seh- und Hörhilfen sollten – sofern vorhanden – immer beigeschafft werden.
Das U-doc fasst Willensbildungs- und Willensumsetzungsfähigkeit zusammen; mögliche Beispielfragen sind in Tabelle 5 aufgeführt.
Tabelle 5: U-doc: Mögliche Beispielfragen zur Prüfung der Fähigkeit zur Willensbildung und ­-umsetzung [1].
Für welche Behandlungsoption haben Sie sich entschieden?
Warum haben Sie sich für [vom Patienten präferierte Option] entschieden?
Was macht die Entscheidung [wenn keine Entscheidung] so schwierig?
Fühlt sich die Entscheidung richtig an?

Vorgehen bei Urteilsunfähigkeit

Einer Patientin oder einem Patienten die Urteilsfähigkeit hinsichtlich einer Behandlung abzusprechen, ist ein hochsensibler Entscheid, der eine schwere Einschränkung der persönlichen Freiheit bedeutet [4]. Bei Grenzfällen oder in besonders anspruchsvollen Situationen kann eine zusätzliche psychiatrische Evaluation veranlasst werden, um die Entscheidung interdisziplinär unter Einbezug der Angehörigen abzustützen, die Verantwortung zu teilen und das für die weitere Behandlung wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Hausarzt und Patient möglichst wenig zu stören. Im ambulanten Setting ist dies aufgrund fehlender Kooperation des Patienten aber nicht immer möglich und muss gut vorbereitet werden, damit sich der Pa­tient nicht zusätzlich stigmatisiert fühlt.
Für jegliche Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit gilt: Bei kurzfristig reversiblen bzw. stark fluktuierenden Zuständen sollte die Beurteilung der Urteilsfähigkeit möglichst rasch wiederholt werden. Es bleibt immer erklärtes Ziel, den Patienten wieder autonom handlungsfähig zu machen, so dass dieser sich zu einem späteren Zeitpunkt nach persönlicher Abwägung frei und informiert für oder gegen die empfohlene Behandlung entscheiden kann. Auch bei Patienten mit fehlender Urteilsfähigkeit zum gegebenen Zeitpunkt kann es – bei entsprechender Zugänglichkeit und Kompetenz des Patienten – sinnvoll sein, den mutmass­lichen Willen hypothetisch zu erfragen («wenn der ­Knoten Krebs wäre, was würden sie dann machen wollen») [8] und diese Auskünfte in die Behandlungsplanung zu integrieren. Generell sollte die urteilsunfähige Person – wo immer möglich – einbezogen werden in die medizinischen Entscheidungen (Art. 377 ZGB).
In medizinisch dringlichen Fällen mit unmittelbarer Gefährdung ergreift der Arzt medizinische Massnahmen nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person. Gesetzlich ist dies im Kinder- und Erwachsenenschutzrecht Art. 379 ZGB geregelt.
Bei weniger dringlichen Fällen oder nach Stabilisierung des Patienten klärt der behandelnde Arzt ab, ob eine Patientenverfügung besteht; diese ist rechtlich bindend. Falls diese nicht vorliegt oder keine Angaben zur aktuellen Fragestellung erhält, erstellt der behandelnde Arzt unter Beizug einer gesetzlichen Vertretungsperson einen Behandlungsplan. Die Auswahl der gesetzlichen Vertretungsperson richtet sich nach der im Art. 378 ZGB festgelegten Vertretungskaskade (siehe Anhang in der Online-Version dieses Artikels unter www.primary-hospital-care.ch). Im Idealfall ist die ­Vertretungsperson in der Patientenverfügung oder im Vorsorgeauftrag festgelegt. Ansonsten ist – falls keine Beistandschaft für medizinische Massnahmen eingeleitet wurde – der im selben Haushalt lebende Ehepartner oder eingetragene Lebenspartner die nächste ­gesetzliche Vertretungsperson. Für alle Personen in der Kaskade gilt, dass sie der urteilsunfähigen Person in letzter Zeit Beistand geleistet haben müssen; ein Verwandtschaftsverhältnis per se ist nicht ausreichend. Falls sich keine vertretungsberechtigte Person eignet oder bereit erklärt, bei Uneinigkeit unter den vertretungsberechtigten Personen oder wenn Anlass zur ­Vermutung besteht, dass die Interessen der urteilsunfähigen Person gefährdet sind, wird eine medizinische Vertretungsbeistandschaft bei der zuständigen Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) beantragt. Dieser Vorgang setzt – wenn sie durch den behandelnden Arzt eingeleitet wird – die Entbindung von der Schweigepflicht bei der Gesundheitsdirektion voraus.
Ob bei fehlender Urteilsfähigkeit und Ablehnung der Behandlung diese gegen den Willen durchgeführt wird, muss mit der Vertretungsperson sorgfältig abgewogen werden. Dabei fliessen verschiedene Faktoren ein: Die Schwere und die Akuität des zu erwartenden gesundheitlichen Schadens, die Wirksamkeit der Intervention (Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung), die Risiken des Eingriffs und die Schwere der zu er­wartenden psychischen Reaktion des Patienten durch die erzwungene Behandlung, sowie auch die kurzfristige und langfristige logistische Durchführbarkeit zur ­Sicherung des Behandlungserfolgs, vor allem wenn eine Intervention eine langfristige Nachbehandlung verlangt wie zum Beispiel eine orale Antikoagulation [9]. Auch falls nach sorgfältiger Abwägung eine Entscheidung gegen eine Behandlung der urteilsunfähigen Person getroffen wird, sollte die Einschätzung der Urteilsfähigkeit sorgfältig in der Krankenakte dokumentiert werden.

Anwendung auf die beschriebenen Fälle

Anwendung bei Fallvignette 1

In der Zusammenschau gingen wir, basiert auf unsere zweimalige klinische Beurteilung der Patientin sowie den Angaben des Ehemannes und der Aktenanamnese, aus psychiatrischer Sicht diagnostisch von einer paranoiden Schizophrenie aus. Aus dem Untersuchungs­befund ergeben sich keine Hinweise mehr auf das ­Vorliegen eines Delirs. Psychopathologisch standen akustische Halluzinationen im Vordergrund, die für die Patientin – wenigstens zeitweise – zu Leidensdruck und zu einer erheblichen Herabsetzung des Alltagsfunktionsniveaus zu führen schienen. Eine psychopharmakologische, antipsychotische Behandlung war aus unserer Sicht indiziert und wurde erneut empfohlen, wurde von der Patientin und ihrem Ehemann aber nicht gewünscht. In Bezug auf die Entlassungs­fähigkeit aus psychiatrischer Sicht sahen wir keine Einschränkung. Die Patientin schien auf eher niedrigem, aber stabilem und lange Zeit unverändertem Symptom- und Funktionsniveau, unterstützt durch ­ihren Partner, den Alltag bewältigen zu können. Es ­ergaben sich diesbezüglich keine Hinweise auf akute Gefährdungsaspekte im Sinne akuter Selbst- oder Fremdgefährdung aus psychiatrischer Sicht.
Die Patientin konnte sich im Rahmen der zweimaligen konsiliarpsychiatrischen Exploration jeweils ein in ausreichendem Masse adäquates Bild von ihrer Umwelt machen; sie zeigte sich zu allen Qualitäten orientiert und konnte ihre somatischen Probleme sowie die groben Behandlungsumstände auf Nachfrage konsistent widergeben. Sie zeigte zwar chronifiziert-psychotische Symptome im Sinne von wahnhaftem Erleben begleitet von akustischen Halluzinationen, diese beeinträchtigten sie aber nicht relevant bezüglich der grundlegenden Erkenntnisfähigkeit. Sie konnte sich in dem für die medizinischen Entscheidungen relevanten Rahmen ein adäquates Bild von der Realität ­machen. Die Patientin konnte sich aufgrund formal­gedanklicher Auffälligkeiten etwas erschwert ver­ständlich machen, dieser Einschränkung konnte durch eine angenehme Gesprächsatmosphäre in einem ruhigen Setting und ausreichendem zeitlichen Rahmen für die psychiatrischen Gespräche begegnet werden.
In Bezug auf eine Urteilsfähigkeit für das Erstellen einer Patientenverfügung kamen wir zusammenfassend zu dem Schluss, dass die Patientin in Bezug auf eine Vertretungsbevollmächtigung in medizinischen Belangen als urteilsfähig einzuschätzen ist. Sie gab konsistent an, dass ihr Ehemann für sie in medizinischen Fragestellungen entscheiden solle, wenn sie nicht dazu fähig wäre. Die Patientin besass die ausreichenden mentalen Fähigkeiten, konnte ihrer Entscheidung vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte persönliche Bedeutung beimessen, und diese in ausreichendem Masse einordnen und begründen. Sie zeigte eine konsistente Willensbildung, vertrat diesen Willen gegenüber dem Ehemann, den verschiedenen Mitgliedern des Behandlungsteams und auch zeitlich konsistent über die zweimalige psychiatrische Konsultation.
In Bezug auf das Festlegen der einzelnen Massnahmen im Rahmen der geplanten Patientenverfügung (Reanimation: Ja? Intensivmedizinische Behandlung: Ja? ECMO (Extrakorporale Membranoxygenierung): Ja?) erachteten wir die Patientin als nicht urteilsfähig. Sie schien die Tragweite ihrer angegebenen Wünsche («Lassen sie mich das nächste Mal sterben, der Tod ist so schön.») nicht adäquat abschätzen zu können. Sie verfügte nicht über eine ausreichende Wertungsfähigkeit, die komplexen Handlungsoptionen mit den weitreichenden implizierten Konsequenzen zu über­blicken und diesen eine persönliche Bedeutung beizumessen. Vielmehr schien die positive Wahrnehmung des Todes mehrheitlich durch psychotische Symptome geprägt; sie hörte regelmässig die Stimmen verstorbener Familienmitglieder, nach denen sie sich sehnte.
Zusammenfassend zeigt sich an diesem klinischen Beispiel, dass die Urteilsfähigkeit in Bezug auf die Frage-stellung eine relationale Grösse ist.

Anwendung bei Fallvignette 2

Der Patient ist über die potenziell tödliche Krankheit genau informiert und weiss, dass diese behandelt werden muss. Er kann die Folgen der Ablehnung der empfohlenen Therapie (Persistenz der Leukämie, Blutungen, Infekte, Tod) benennen, wobei er dieses Risiko niedriger einschätzt, als die behandelnden Hämato­logen. Die Divergenz der Risikobewertung ist dem ­Patienten bewusst und kann von ihm reflektiert werden. Er interpretiert sie als Folge der seiner Meinung nach nur einseitig schulmedizinischen Ausbildung westlicher Ärzte und ihrem reduzierten Zugang zu Re­ligiosität, das heisst diese Information ist vom Patienten verarbeitet worden, wird aber aktiv abgelehnt. Die Fähigkeit zur Aufnahme und Weiterverarbeitung der gegebenen Information ist also vorhanden.
Der Patient kann Alternativen benennen in Form der komplementärmedizinischen Behandlung in Kombination mit religiöser Unterstützung und deren mögliche positive (weniger Nebenwirkungen) und negative Folgen (immanentes Risiko der Unwirksamkeit).
In der Konsultation findet sich ein bewusstseinsklarer Patient, es sind keine relevanten mnestischen/kognitiven Störungen ausser einer leichten Konzentrationsstörung in Zusammenhang mit Schmerz und Müdigkeit eruiert worden. Zusammenfassend ist die Erkenntnis­fähigkeit als erhalten zu beurteilen.
Der Patient kann basierend auf seinen Werthaltungen und Erfahrungen ausführen, warum er sich für die Ablehnung einer erneuten Chemotherapie entschieden hat. Dabei beruft er sich argumentativ einerseits auf die subjektiven Erfahrungen körperlicher Nebenwirkungen des ersten Zyklus aus der Vergangenheit, zudem auf die Aussagen der Alternativmedizin und seine persönliche fatalistische religiöse Überzeugung, dass der Verlauf der Krankheit letztlich Gottes Willen folgt.
Seine Ansichten zur Schulmedizin und zur alternativmedizinischen Behandlung werden von seinem familiären Umfeld und anderen Menschen in seiner Community geteilt. Die Idee, eine Tumorerkrankung mit Low-Carb-Diäten «aushungern» zu können, findet sich unter Krebspatienten tatsächlich relativ häufig, auch wenn sie meist als komplementäre Strategie zur schulmedizinischen Behandlung genutzt wird.
Manchmal ist es schwierig, derartige konditionale Präferenzen bei von der Schulmedizin stark abweichenden Krankheitsmodellen von wahnhaften Überzeugungen abzugrenzen. Diese zeichnen sich durch nicht mit der Realität vereinbare Inhalte (d.h. sie sind offensichtlich falsch, werden nicht von der Umwelt geteilt ausser ­allenfalls im Rahmen eines induzierten Wahns), einer hohen subjektiven Gewissheit und Unkorrigierbarkeit (nicht widerlegbar durch Erfahrungen oder Argumente) aus. Die Wahninhalte sind in der Regel stark affektbesetzt, bestimmen Motivation und Handlung des Betroffenen und können seine Urteilsfähigkeit einschränken.
Der Patient kann seine Abwägung darlegen. Er macht dabei klar, dass Überleben nicht um jeden Preis Priorität hat.
Die affektive Beteiligung des Patienten liegt im Bereich des Einfühlbaren und Erwartbaren, auch wenn im ­Verhältnis zum Vergleichskollektiv derartig schwer ­erkrankter Patienten verhältnismässig wenig Sorge in Bezug auf die Zukunft spürbar wird.
Vor dem Hintergrund seines religiösen Wertesystems, seiner kritischen Sichtweise gewisser gesellschaft­licher Entwicklungen und den subjektiv negativen Erfahrungen der Chemotherapie sind die Ausführungen des Pa­tienten kohärent und wertekongruent, so dass insgesamt das Kriterium der Wertungsfähigkeit gegeben ist.
Der Patient kann seine Meinung klar, verständlich und konsistent (bereits seit drei Monaten) widergeben und auch argumentativ verteidigen. Er beweist eine deut­liche Widerstandskraft gegenüber widersprechenden Meinungen, auch gegenüber mehreren im Krankheitsverlauf involvierten Kaderpersonen inklusive dem Chefarzt aus der fallführend behandelnden Hämatologie. Der Patient wird in seiner Meinung zwar intensiv familiär gestärkt; es gibt aber keinen Hinweis auf eine Fremdbeeinflussung durch vorhandene Abhängigkeiten. Damit sind die Kriterien für die Willensbildung und -umsetzung ebenfalls erfüllt.
Gesamthaft haben wir den Patienten daher als urteilsfähig in Bezug auf die Ablehnung einer weiteren chemotherapeutischen Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie eingeschätzt.
Nachdem zuerst ein Best-Supportive-Care-Ansatz verfolgt wurde, hat der Patient im weiteren Verlauf einer Antikörpertherapie mit Blinatumomab zugestimmt, die aber vorhersehbar allein die Krankheit nicht ausreichend kontrollieren konnte. Der Patient hat sich auch bei weiterem Progress – inklusive Komplikationen wie einer beidseitigen Retinablutung – weiterhin gegen eine chemotherapeutische Behandlung ausgesprochen. Der Patient ist schliesslich drei Monate später nach akutem Multiorganversagen auf einer wohnortnahen Intensivstation verstorben.

Hinweis


Lesen Sie dazu auch den 1. Teil mit dem Titel «Umgang mit Denial bei ­Tumor­erkrankungen» unter https://primary-hospital-care.ch/article/doi/phc-d.2020.10142.
Der Online-Appendix ist als separates Dokument verfügbar unter: https://primary-hospital-care.ch/article/doi/phc-d.2021.10293.
Dr. med. Eva Pape
Klinik für Konsiliarpsych­iatrie und Psychosomatik
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 91
CH-8091 Zürich
eva.pape[at]usz.ch
1 (SAMW), S.A.d.M.W., U-doc: Hilfsmittel zur Evaluation und Dokumentation der Urteilsfähigkeit. 2019.
2 Aebi-Mueller, R., Der urteilsunfähige Patient – eine zivilrechtliche Auslegeordnung. Jusletter, 2014.
3 Leo RJ, Competency and the Capacity to Make Treatment Decisions: A Primer for Primary Care Physicians. Prim Care Companion J Clin Psychiatry. 1999;1(5):131–41.
4 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), Urteilsfähigkeit in der medizinischen Praxis. 2019, Gremper AG: Basel.
5 Kahn DR, et al. A prospective observational study of decisional capacity determinations in an academic medical center. (0091-2174 (Print)).
6 Soriano, M.A. and R. Lagman, When the patient says no. Am J Hosp Palliat Care. 2012;29(5):401–4.
7 Drane JF. Competency to give an informed consent. A model for making clinical assessments. (0098-7484 (Print)).
8 Glod W. Conditional preferences and refusal of treatment. HEC Forum. 2010;22(4):299–309.
9 Rubin, J. and K.M. Prager, Guide to Considering Nonpsychiatric ­Medical Intervention Over Objection for the Patient Without Decisional Capacity. Mayo Clin Proc. 2018;93(7):826–9.