Krisenmanagement in den Praxen des Sentinella-Netzwerks gemäss einer Beobachtungsstudie

COVID-19 und Telekonsultationen

Originalarbeit
Ausgabe
2021/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10335
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(02):41-45

Affiliations
Swiss Sentinel Surveillance Network; a Département de médecine de famille, Centre universitaire de médecine générale et santé publique, Unisanté, Lausanne; b IuMFE, Unige, Genève; c ­Bundesamt für Gesundheit (BAG), Liebefeld

Publiziert am 02.02.2021

Die SARS-CoV-2-Pandemie hat in der Schweiz zu bedeutenden Veränderungen in der Funktionsweise der haus- und kinderärztlichen Praxen geführt. Um diese Veränderungen zu untersuchen, hat das BAG das Sentinella-Meldesystem für übertragbare Erkrankungen angepasst.

Einleitung

Der erste SARS-CoV-2-Fall wurde in der Schweiz am 25. Februar 2020 im Tessin diagnostiziert. Drei Tage später wurden mittels einer bundesrätlichen Verordnung Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen untersagt. Im Anschluss daran traten in der ganzen Schweiz Fälle auf, wobei die lateinische Schweiz stärker betroffen war als die Deutschschweiz. Am 16. März erklärte der Bundesrat die ausserordentliche Lage und ordnete die Schliessung fast aller öffentlich zugänglicher Einrichtungen an, mit Ausnahme von Lebensmittelläden und anderen wichtigen Geschäften. Ab diesem Datum mussten nicht dringende Eingriffe und Konsultationen in Praxen und Spitälern verschoben werden. Die Armee, der ­Zivildienst und der Zivilschutz wurden in unterschiedlichen Pflegebereichen (einschliesslich Spitäler und Pflegeheime) eingesetzt. Ende März wurde der erste Höhepunkt der Epidemie erreicht. Da die Zahlen neuer Fälle einen Rückgang verzeichneten, wurden die Schutzmassnahmen ab dem 27. April 2020 progressiv gelockert, beginnend mit der Wiederaufnahme nicht dringender Konsultationen.
Um diese neue Situation zu bewältigen, mussten die Grundversorgerinnen und Grundversorger ihre Arbeitsweise anpassen. Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (Foederatio Medicorum Helveticorum – FMH) hat ein Schutzkonzept für Arztpraxen zur Verfügung gestellt [1]. Sie empfahl zudem das Befolgen der Empfehlungen des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten [2]. Zu den Massnahmen, welche die grösste Anpassung erforderten, gehörte die Unterbringung von Patientinnen und Pa­tienten mit Verdacht auf COVID-19 in einem separaten Raum. Sofern möglich, sollte das für diese Patientinnen und Patienten zuständige Personal nur dieser Patientengruppe zugewiesen werden. Zudem sollten Telekonsultationen bevorzugt werden. In England hatte eine Studie aufgezeigt, dass nach der Empfehlung des Nationalen Gesundheitsdienstes Mitte März Telekonsultationen zu bevorzugen, der Anteil der persönlichen Konsultationen von 52,1% in der ersten Monatshälfte auf 3,9% in der zweiten Monatshälfte zurückgegangen ist [3].
Telekonsultationen tragen dazu bei, die Verbindung zu den Patientinnen und Pa­tienten aufrechtzuerhalten. Es ist jedoch wichtig, dass die Qualität dieses Versorgungsansatzes gewährleistet ist. In der ­Literatur finden sich unterschiedliche Beurteilungen der Wirksamkeit der Telekonsultationen in der Patientenversorgung. So hat zum Beispiel eine Metaanalyse auf­gezeigt, dass mittels der Telemedizin eine Senkung des glykierten Hämoglobins bei Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes erreicht werden kann [4]. Eine weitere Metaanalyse belegte eine Verbesserung der Therapietreue von bestimmten psychiatrischen Populationen [5]. Es konnte auch ­gezeigt werden, dass die Anzahl der postoperativen Konsultationen nach einigen ­risikoarmen viszeralchirurgischen Eingriffen auf diese Art und Weise vermindert werden kann [6]. Jedoch hat eine englische Studie nachgewiesen, dass Telekonsultationen im Vergleich zu persönlichen Konsultationen kürzer dauern und weniger in­formationshaltig sind [7]. In dieser Studie wurde der Zugang zur Telekonsultation zudem von jungen Patientinnen und Patienten mit leichten Beschwerden favorisiert. Die Telekonsultation kann demnach ein gutes Instrument sein, jedoch nur in spezifischen Situationen und bei einem bestimmten Patiententyp.
Im Rahmen der Reaktion auf die COVID-19-Krise hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) das Sentinella-Meldesystem, ein Überwachungssystem für übertragbare Krankheiten in der ambulanten Medizin, per 16. März angepasst, um die Meldung von COVID-19-Verdachtsfällen neben der Meldung der Verdachtsfälle der saisonalen Grippe zu ermöglichen. Bei der Grippeüberwachung stimmen die gemeldeten Fälle mit der Anzahl der Patientinnen und Patienten, welche die Praxen mit grippalen Erkrankungen aufsuchten, überein. Da die Empfehlungen des BAG damals jedoch lauteten, dass Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf COVID-19, aber ohne Indikation für einen Test (keine schweren Symptome, keine Risikopatienten), die Praxen nicht aufsuchen sollten, wurde die Sentinella-Überwachung durch die Schaffung des Abschnitts «COVID-19-Tagebuch» angepasst. Das Hauptziel bestand hierbei darin, die telefonische Triage von COVID-19-Verdachtsfällen quantitativ zu beschreiben und die tägliche Anzahl der häuslichen Selbstisolationen im Vergleich zur Anzahl der Fälle, bei denen eine persönliche Konsultation erfolgte, zu schätzen. Die sekundären Ziele bestanden in der Beurteilung der Arbeitsbelastung in den Praxen sowie der Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Schutzmassnahmen.

Methodik

Es handelte es sich um eine prospektive ­Beobachtungsstudie, die unter Sentinella-Ärztinnen und Ärzten während der Corona­virus-Pandemie von März bis Mai durchgeführt wurde. Das Sentinella-Meldesystem umfasst 150 bis 250 Ärztinnen und Ärzte der Fachrichtungen Allgemeine Innere Medizin und Pädiatrie in der ganzen Schweiz. Es handelt sich um eines der vom BAG betriebenen Überwachungssysteme für übertragbare Krankheiten im Sinne des Artikels 11 des Epidemiengesetzes. Die Informationen wurden mittels Online-Formularen über einen Sentinella-Webserver eingegeben, wobei die Anonymität der Patientinnen und Patienten gewahrt wurde. Jeder Arzt verfügte über einen spezifischen Code, den er mit seinen Daten verknüpfen und so ebenfalls die Anonymität wahren konnte. Die Meldungen konnten täglich oder zumindest wöchentlich erfolgen. Die Meldung von ­COVID-19-Verdachtsfällen wurde am 19. März 2020 aufgenommen.
Die von den teilnehmenden Ärztinnen und Ärzten angeforderten Informationen umfassten die Anzahl der Patientinnen und Patienten, die im Zusammenhang mit ­COVID-19 behandelt wurden. Sie wurden definiert als Patientinnen und Patienten mit Symptomen einer akuten Erkrankung der oberen und/oder unteren Atemwege und/oder Fieber ≥38 °C, was den klinischen ­Kriterien für einen Verdacht auf COVID-19 ­entsprach, die vom BAG bei Beginn der Überwachung definiert worden sind. Im Abschnitt «COVID-19-Tagebuch» berichteten Ärztinnen und Ärzte auch über die Anzahl der Patientinnen und Patienten, die ­telefonisch betreut wurden und denen eine häusliche Selbstisolation empfohlen wurde, die eine Spitalüberweisung benötigten oder die an ein Testzentrum weiter­gewiesen wurden. Sie sollten pro Tag be­richten, ob sie generell Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf COVID-19 persönlich (in der Praxis oder bei einem Hausbesuch) oder auf Distanz (telefonisch oder mittels Überweisung an spezialisierte Zentren) behandelt hatten. Sofern die Betreuung auf Distanz erfolgte, musste angegeben werden, ob dies aufgrund fehlendem Schutzmaterial geschah. Überdies gaben sie die Gesamtheit der Arzt-Patient-Kontakte (APK) im Rahmen der routinemässigen Meldungen im Sentinella-System an. Zu den APK gehören Konsultationen in der Praxis sowie Hausbesuche, jedoch keine ­Telefonate.
Beurteilt wurden zudem der Arbeitsdruck und die Arbeitsbelastung in der Praxis während der Epidemie sowie die verzeichneten Personalausfälle und die Verfügbarkeit des Schutzmaterials.
Die Datenanalyse war deskriptiv. Die wöchentlichen Raten der Telekonsultationen bzw. der telefonischen Hospitalisationen wurden ermittelt, indem die Anzahl dieser Telefonate durch die Anzahl der wöchent­lichen APK dividiert wurde. Die Aktivität wurde durch den prozentualen Anteil der Mitglieder beschrieben, welche die eine oder andere Antwortkategorie ausgewählt hatten.
Die Teilnahme der Ärztinnen und Ärzte war freiwillig. Die von ihnen im Rahmen von Sentinella über­mittelten Beobachtungen sind anonym (EpG Art. 14, Abs. 2) und fallen nicht in den Geltungsbereich des Bundesgesetzes über die Forschung am Menschen. 

Ergebnisse

Zum Zeitpunkt der Studie umfasste das Sentinella-System 171 Mitglieder und 200 Ärztinnen und Ärzte (Gruppenpraxen konnten dabei als ein einziges Mitglied betrachtet werden). In 36% handelte es sich um Ärztinnen. Jeweils 28%, 28% und 27% der Ärztinnen und Ärzte gehörten den Altersgruppen 40–49, 50–59 und 60–69 Jahre an. Diese Charakteristika sind repräsentativ für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte gemäss der FMH-Ärztestatistik 2019 [8]. 86% der Mitglieder waren Fachärztinnen bzw. Fachärzte für Allgemeine Innere Medizin (n = 146) und 14% Fachärztinnen bzw. Fachärzte für Pädiatrie (n = 25). Die ­wöchentliche Anzahl der von den Mitgliedern eingereichten Sentinella-Formulare lag zwischen 154 und 165, was 90 bis 95% der Mitglieder entsprach.
In der ersten Woche der COVID-19-Daten­erhebung durch Sentinella (Woche 13: 23.–29.03.) stieg die Gesamtzahl der Telefonate betreffend COVID-19 auf 752 pro 1000 APK. Unter diesen Telefonaten lag die Anzahl der Patientinnen und Patienten, die von der häuslichen Selbstisolation betroffen waren, in der Woche 13 bei maximal 205 pro 1000 APK (23.–29.03). Diese ging stetig zurück und lag in der Woche 22 bei 10 pro 1000 APK (25.–31.05.). Einige Patientinnen und ­Patienten mussten nach der telefonischen Beurteilung hospitalisiert werden. Die maximale Hospitalisierungsrate für COVID-19-Fälle lag hiebei in den Wochen 12–16 (16.03.–19.04.) bei 3 bis 6 pro 1000 APK. Bisweilen hatten diese Telefonate zur Folge, dass die Patientinnen und Patienten von der Praxis weiterverwiesen wurden. Das Maximum wurde hierbei in der Woche 12 (16.–23.03.) mit 20 pro 1000 APK erreicht. Die Kontaktbeschränkungen haben auch dazu geführt, dass Patientinnen und Pa­tienten zu anderen Themen als COVID-19 telefonische Beratungen wahrnahmen. Am Höhepunkt in der Woche 15 (6.–12.04.) machten diese Konsultationen etwa einen Drittel der APK aus. Da diese Daten erst ab der Woche erhoben wurden, liegen keine früheren Daten vor. Die Anzahl der oben beschriebenen Telefonate wird in Abbildung 1 in Bezug zur Anzahl der APK (sprich der ­Patientinnen und Patienten, die persönlich betreut wurden) gesetzt. Zudem wird die Anzahl der APK aufgrund eines Verdachts auf COVID-19 mit der Anzahl der APK aus allen Gründen verglichen. In Abbildung 2 ist die Gesamtzahl der APK pro Arzt und Woche in den Jahren 2019 und 2020 sowie den Rückgang der APK nach der Erklärung der ausserordentlichen Lage durch den Bundesrat dargestellt.
Abbildung 1: Anzahl der telefonischen Konsultationen pro 1000 APK pro Woche nach verschiedenen Kategorien. Anzahl der APK für COVID-19-Verdachtsfälle pro 1000 APK. Die APK umfassen persön­liche Konsultationen, aber keine telefonischen Beratungen.
Abbildung 2: Durchschnittliche Gesamtzahl der APK in der Praxis pro Arzt und Woche in den Jahren 2019 und 2020. Pfeil: Erklärung der ausserordentlichen Lage durch den Bundesrat mit der ­Einschränkung der medizinischen Konsultationen auf dringende Fälle (16.03.2020).
Betreffend der persönlichen Betreuung (in der Praxis ober beim Hausbesuch) oder der Betreuung auf Distanz zeigt Abbildung 3, dass in der zweiten Hälfte des Monats März zwischen 30 und 60% der Mitglieder ihre Patientinnen und Patienten mit COVID-19-Verdacht persönlich betreuten. In den Monaten April und Mai sank dieser Wert auf 10 bis 40% der Mitglieder. In den restlichen Fällen wurden die Patientinnen und Patienten telefonisch betreut oder an andere Zentren weiterverwiesen. Das Fehlen von Schutzmaterial war selten der Grund für die Betreuung auf Distanz (<10% der Fälle).
Abbildung 3: Art der Betreuung der COVID-19-Verdachtsfälle pro Arzt und Woche. ­Persönliche ­Betreuung: in der Praxis oder beim Hausbesuch. Auf Distanz: telefonisch oder an andere Zentren weiterverwiesen. Im Falle einer Betreuung auf Distanz gaben die Ärztinnen und Ärzte an, ob dies auf fehlendes Schutzmaterial oder auf andere Gründe zurückzuführen war.
Die Untersuchung befasste sich zudem mit der Arbeitsbelastung in den Praxen während der Pandemie. In Abbildung 4 wird die empfundene Arbeitsbelastung mit der üblichen Arbeitsbelastung verglichen. In der Woche 12 (16.–22.03.), eine Woche vor dem ersten Höhepunkt der Epidemie, stellte mehr als die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte eine erhöhte oder stark erhöhte Arbeitsbelastung fest. Diese vermehrte Belastung nahm Ende März rasch ab und bewegte sich für den Rest der untersuchten Periode zwischen 5 und 20%. Bis zu 70% der Ärztinnen und Ärzte berichteten Anfang April dagegen über einen Rückgang der Arbeitsbelastung (beachten Sie, dass diese Antwortmöglichkeit erst ab dem 26.03. angeboten wurde).
Abbildung 4: Beurteilung der empfundenen im Vergleich zur üblichen Arbeitsbelastung pro Arzt und Woche. Die Antwort «Hat abgenommen» wurde am 26.03. in der Woche 13 eingeführt.
Die Praxen waren auch mit Personalaus­fällen konfrontiert. Bis Mitte April meldeten zwischen 14 und 32% der Mit­glieder ­Personalausfälle. Dieser Wert sank anschliessend bis Ende April auf unter 14%.
Bei der Bewältigung der Pandemie bestand eine weitere Herausforderung im Zugang zum Schutzmaterial. In dieser Studie gaben <20% der Praxen einen Mangel an chirurgischen Masken an. Der Zugang zu Schutzmänteln war problematischer. In durchschnittlich 56% der Praxen fehlten sie bis zur Woche 12 (16.–22.03.). Dieser Wert sank bis Ende Mai auf 25%, wie in Abbildung 5 ersichtlich ist.
Abbildung 5: Prozentualer Anteil der Mitglieder, denen Schutzmäntel fehlten (pro Woche).
In Anbetracht dieser Veränderungen der Arbeitsbedingungen wurden die Ärztinnen und Ärzte gefragt, welchen Prozentsatz der tatsächlichen Arbeitsbelastung ihre Praxis abdecken könnte. Wie Abbildung 6 aufzeigt, konnten zwischen 75 und 95% der Praxen im März und April >80% der Arbeitsbelastung abdecken. Im Mai konnten >90% der Praxen >80% der Arbeitsbelastung abdecken.
Abbildung 6: Prozentualer Anteil der pro Arzt und Woche tatsächlich abgedeckten Arbeitsbelastung.

Diskussion

Diese Studie hat aufgezeigt, dass sich die Funktionsweise der Schweizer Praxen während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie grundlegend verändert hat, wobei es zu einer bedeutenden und raschen Neuorientierung hin zu Telekonsultationen gekommen ist. Auf dem ersten Höhepunkt der Krise, Ende März, hatten die Ärztinnen und Ärzte 16-mal mehr telefonische Konsultationen betreffend COVID-19 als APK betreffend COVID-19. In dieser Phase führte ein Viertel der Anrufe zu einer häuslichen Selbstisolation, was die Wirksamkeit der Triage auf ­Distanz belegt. Der Anteil der Betreuung auf Distanz stieg im Verlauf der Pandemie progressiv und erreichte Ende April 80%. Ein weiteres Anzeichen für die Anpassung der Praxen ist der starke Rückgang der Gesamtzahl der APK, zu der es nach der Einschränkung der Konsultationen gekommen ist.
Die Arbeitsbelastung stieg zunächst in den meisten Praxen an. Schliesslich wurden die Praxen mit einem Andrang von Patientinnen und Patienten mit COVID-19 auf dem Höhepunkt der Infektionskurve konfrontiert. Zudem berichteten bis zu 32% der Mitglieder über Personalausfälle. Für eine Interpretation dieser Ausfallrate müsste man sie jedoch mit derjenigen im gleichen Zeitraum des Vorjahres vergleichen können. Am 16. März 2020 erklärte der Bundesrat die ausserordentliche Lage. Die Ärztinnen und Ärzte mussten ihre Konsultationen ausschliesslich auf die als dringend erachteten Fälle beschränken. Ab diesem Zeitpunkt konnte ein Rückgang der Gesamtzahl der APK im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres verzeichnet werden. Zwei Wochen nach dieser Massnahme des Bundesrats berichteten 40% der Mitglieder von einer Verminderung der Arbeits­belastung. Diese Ergebnisse sind vergleichbar mit jenen aus einer Online-Befragung, welche die FMH bei mehr als 12 000 ihrer Mitglieder durchgeführt hat [9].
Eine der Einschränkungen dieser Studie bestand darin, dass sie keine Bewertung des Anteils der Patientinnen und Patienten erlaubte, die in der Praxis umfassend betreut wurden. Wenn teilnehmende Ärztinnen und Ärzte die Art der Betreuung ihrer Pa­tienten als «persönlich» oder «auf Distanz» einordneten, konnte die Antwort «auf Distanz» sowohl eine einfache telefonische Beratung als auch eine Weiterverweisung an ein anderes Zentrum bedeuten (Abb. 3). Zudem wurde in einigen Kantonen empfohlen, Patientinnen und Patienten nicht in der ­Praxis zu behandeln, sondern sie an die von den Kantonen eingerichteten speziellen Zentren für Verdachtsfälle zu überweisen. Parallel dazu konnten einige Praxen spe­zielle Bereiche einrichten, um Patientinnen und Patienten mit COVID-Verdacht unter Einhaltung der Empfehlungen zu betreuen. Diese Studie erlaubt keine Aussage darüber, wie hoch der prozentuale Anteil der Sentinella-Praxen war, in denen diese Änderungen vorgenommen wurden, und in welchem Umfang diese Umstrukturierungen zum Einsatz gekommen sind. Betrachtet man ausschliesslich die telefonischen Konsultationen, so wurde eine sehr geringe Anzahl an Patientinnen und Patienten weiterverweisen oder hospitalisiert (≤2%).
Eine weitere Einschränkung bestand darin, dass sich die Definition der im Rahmen von Sentinella zu meldenden COVID-19-Verdachtsfälle im Laufe der Zeit nicht geändert hat: Die verdächtigen Symptome waren Husten, Atemnot oder Fieber ≥38 °C, entsprechend der Definition des BAG bei Beginn der Überwachung. Symptome, die später zur Falldefinition hinzugefügt wurden wie Halsschmerzen, Anosmie, Ageusie oder Kopfschmerzen wurden nicht explizit berücksichtigt. Dies könnte dazu geführt haben, dass eine geringere Anzahl an Verdachtsfällen identifiziert wurde. Es ist jedoch denkbar, dass Ärztinnen und Ärzte die Verdachtskriterien von sich aus angepasst haben.
Die dritte Einschränkung bestand darin, dass bei der Einführung der PCR-Analyse in den Kantonen die Ärztinnen und Ärzte aufgefordert wurden, ihre diagnostischen ­Abstriche an die kantonalen Laboratorien zu schicken, da das Nationale Referenzzentrum für Influenza nicht in der Lage war, schnelle Ergebnisse für die Überwachung zu liefern. Leider konnten die Anzahl der von Sentinella-Mitgliedern an diese anderen Laboratorien verschickten Abstriche und deren Ergebnisse in dieser Studie nicht erfasst werden. Es ist daher nicht möglich, die verschiedenen beschriebenen Werte ­direkt in Bezug zur Anzahl der infizierten Patientinnen und Patienten zu setzen.
Zu erwähnen ist die Verschiebung nicht dringender Konsultationen im Rahmen der Pandemiebewältigung. Diese Massnahme könnte die nachteilige Auswirkung der Verzögerung oder Unterbrechung von Behandlungen bestimmter Erkrankungen nach sich gezogen haben, mit bisweilen schwerwiegenden Folgen. Eine Untersuchung der Auswirkungen von Komplikationen, die sich aus der Reduzierung der nicht dringenden Konsultationen ergeben haben, ist erforderlich, um sie gegen die Notwendigkeit dieser Massnahme während der Pandemie abzuwägen. Von Interesse ist ­zudem die Frage, ob nach der Aufhebung der ausserordentlichen Massnahmen ein «Rebound»-Effekt hinsichtlich der Anzahl der APK zu beobachteten sein wird. Die ­Erfassung nachteiliger Auswirkungen im Zusammenhang mit den getroffenen ­Massnahmen und dem durch diese Situation verursachten potenziellen Stress könnte auch Teil der Überwachung einer künftigen Epidemie oder einer Epidemiewelle sein.
Diese Studie, die sich das bereits bestehende Netzwerk von Sentinella zunutze gemacht hat, hat es ermöglicht, rasch wichtige Informationen über Veränderungen in Praxen während der Krise zu erfassen. Sie hat den Druck, dem die Ärztinnen und Ärzte ausgesetzt waren, und die Geschwindigkeit, mit der sie ihre Gewohnheiten ­geändert haben, insbesondere durch die ­Förderung von Telekonsultationen, hervorgehoben. Wird diese Situation die Art und Weise, wie wir Medizin praktizieren, langfristig verändern, indem die Telekonsultation Eingang in die Routinepraxis findet?
Darüber hinaus wurde [9, 10] – wie auch in anderen Studien in der Schweiz und in Frankreich – festgestellt, dass Absonderungsmassnahmen und Einschränkungen der nicht dringenden Konsultationen die Arbeitsbelastung der Ärztinnen und Ärzte verringert haben. Könnte das Potenzial des Netzwerks aus Hausärztinnen bzw. Hausärzten und Kinderärztinnen bzw. Kinderärzten in der Zukunft besser eingesetzt werden?
Wir danken Herrn Dr. med. Christoph Merlo für das Korrekturlesen der deutschen Übersetzung, den Mitgliedern der Sentinella-Programmkommission sowie den an Sentinella teilnehmenden Ärztinnen und ­Ärzten herzlich.
Mona Savoy
Unisanté, Centre universitaire
de médecine générale et santé publique
Route de Berne 113
CH-1010 Lausanne
mona.savoy[at]unisante.ch
 1 COVID-19: plan de protection de la FMH pour l’exploitation des cabinets médicaux. 2020.
 2 Infection prevention and control and preparedness for COVID-19 in healthcare settings. Fourth update – 3 July 2020. European center for disease prevention and control. 2020.
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 8 Hostettler S KE. Statistique médicale 2019 de la FMH: forte dépendance de l’étranger. Bulletin des médecins suisses 2020:101(13):450–5.
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10 Monziols M CH, Verger P, Scronias D, Ventelou B. Comment les médecins généralistes ont-ils exercé leur activité pendant le confinement lié au Covid-19? Etudes & Résultats de la Direction de la Recherche, des Études, de l’Évaluation et des Statistiques (Drees) 2020;mai 2020, numéro 1150.