Traumatologie für die Hausarztpraxis – Folge 1

Verletzungen des oberen ­Sprunggelenks

Fortbildung
Ausgabe
2021/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10338
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(03):96-99

Affiliations
a Chirurgische Gemeinschaftspraxis Hohmad, Thun; b Hirslanden Klinik Birshof, Münchenstein; c Praxis SP.E, Nänikon

Publiziert am 02.03.2021

Das Supinationstrauma am Sprunggelenk ist häufig und kann gut in der Hausarzt­praxis behandelt werden.

Unfallmechanismus

Beim Supinationstrauma erlebte der Patient/die Pa­tientin oft einen Misstritt, der beim Gehen oder Rennen im unebenen Gelände, auf Treppen, Stufen oder Bordsteinkanten aufgetreten ist. Sportarten wie Volleyball, Basketball, Fussball, Kletter- und Geländesport bergen ein erhöhtes Risiko dafür. Eine forcierte Supinationsbewegung, Adduktion oder Innenrotation des Fusses führt zu einer Traumatisierung der lateralen Sprunggelenksstrukturen. Prädispositionen sind unter an­derem ein Varustyp im Rückfuss, ein Pes cavus ­(Hohlfuss) und bei Sportlern ein nicht ausgeheiltes ­Supinationstrauma.
Ein Pronationstrauma (Fuss nach aussen, abduziert) ist wesentlich seltener und führt zu einem völlig anderen Verletzungsmuster (Einbezug des Innenknöchels, Deltabandes und der Syndesmose), kann schwerere Folgen haben und benötigt oft eine aufwändigere Therapie.

Anamnese

Die Patienten geben häufig an, sie hätten sich den Fuss «vertrampt». Der genaue Unfallmechanismus muss erfragt werden, um sicher zu sein, dass es sich um ein ­Supinationstrauma handelte.

Wichtige Fragen sind:

– Ging der Fuss nach innen oder aussen (gegebenenfalls an der nicht verletzten Seite demonstrieren lassen)?
– Konnten Sie unmittelbar danach belasten/laufen?
– Hatten Sie schon früher oder gar wiederholt einen solchen Unfall?
– Hatten Sie schon vor dem Unfall ein Instabilitäts­gefühl?
– Wann genau ist der Unfall passiert (Unfallzeit und Unfalltag sind genau zu erfragen)?

Patho-Anatomie

Das obere Sprunggelenk (OSG) wird an der lateralen Seite passiv durch die drei Bänder Lig. fibulotalare anterius (LFTA), Lig. fibulocalcaneare (LFC) und Lig. fibulotalare posterius (LFTP) stabilisiert (Abb. 1).
Abbildung 1: Anatomie des oberen Sprunggelenks. Illustrationen mit freundlicher Genehmigung der AO Foundation, Davos – Copyright: AO Foundation, Switzerland.
Die Peronealsehnen sind wesentlich für die aktive ­Stabilisierung. Die Syndesmose (Lig. tibiofibulare anterius) liegt oberhalb des LFTA und fixiert die Sprunggelenksgabel. Eine Syndesmosensprengung darf nicht verpasst werden!

Klinik

Inspektion

Wird der Fuss beim Gehen belastet, wird abgerollt, oder ist eine Belastung im Stehen gar nicht möglich?
Findet sich eine Schwellung über dem Aussenbandapparat (typisch ist eine eiförmige Schwellung im Bereich des LFTA)? Besteht eine Schwellung im Bereich des Innenknöchels? Ist das gesamte Sprunggelenk geschwollen?
Bei nicht ganz frischen Verletzungen: Findet sich eine Hämatomverfärbung über dem LFTA, isoliert an der lateralen Seite? Findet sich ein Hämatom im Bereich des Innenknöchels?
Merke: Die isolierte laterale Bandruptur zeigt nur im Bereich des Aussenknöchels Auffälligkeiten.

Palpation

Man beginnt mit der Palpation am besten in der Region des Sprunggelenks, in der man keine Schmerzen erwartet. Die anatomischen Regionen, die in den ­Ottawa Ankle Rules (OAR) (Abb. 2) genannt sind, müssen zur Sicherung der korrekten Diagnose abgetastet werden.
Abbildung 2: Ottawa Ankle Rules. Besteht keine Druckdolenz in den gekennzeichneten Zonen, so kann auf ein Röntgenbild ­verzichtet werden. http://www.theottawarules.ca/ankle_rules . Reprinted with permission from the author.
Aussenbandapparat: Bei typischem einfachem Supinationstrauma findet sich ein isolierter Druckschmerz über dem LFTA. Bei ausgedehnten Bandverletzungen besteht ein Druckschmerz auch über dem LFC.
Peronealsehnenfach: Mögliche Ruptur der Sehnenscheide oder (Sub-)Luxation?
Distale Fibula von dorsal: Fraktur?
Metatarsale-V-Basis: knöcherner Ausriss der Peronealsehne?
Innenbandapparat: Mediale Malleolarfraktur?
Ligamentum deltoideum: Komplexe Bandverletzung, Pronationstrauma mit Beteiligung der Syndesmose oder hohe Fibulafraktur?
Merke: Bei der isolierten lateralen Bandruptur be­stehen Druckschmerzen ausschliesslich über dem LFTA und dem LFC. Der Innenknöchel und das Delta­band sind der Schlüssel zur Diagnose von komplexen Verletzungen am OSG. Keinerlei Symptome in dieser Region schliessen schwerere Verletzungen mit hoher Sicherheit aus.

Funktionsuntersuchung

Bewegt der Patient das OSG/den Fuss aktiv, ist er darin eingeschränkt oder ist Bewegen unmöglich?
Wie ist die passive Beweglichkeit, ist die Untersuchung schmerzbedingt überhaupt möglich?
Stabilität: Ist diese Untersuchung schmerzhaft oder ist sie schmerzbedingt unmöglich? Bei starker Aufklappbarkeit sind mindestens das LFTA und das LFC gerissen.
Wie ist die OSG-Stabilität sagittal (Talusvorschub bzw. ap Schublade, Abb. 3)? Bei positivem Talusvorschub ist mindestens das LFTA gerissen.
Abbildung 3: Die a-p Schublade: Die Ferse wird durch die Faust unterlegt, dann drückt man mit der anderen Hand/ ­Vorderarm auf den distalen Unterschenkel. Dabei ist der Test immer auch auf der Gegenseite durchzuführen. Ein Unterschied von mehr als 2 mm ist pathologisch. Bild vom Autor [1].
Merke: Eine Stabilitätsprüfung darf nur durchgeführt werden, wenn der Verdacht auf eine isolierte laterale Bandverletzung besteht. Besteht bei der Inspektion und Palpation des OSG (siehe oben) der Verdacht auf Verletzung von weiteren Strukturen, soll die Funk­tionsuntersuchung unterlassen werden.

Bildgebung

Die Diagnose einer isolierten lateralen Bandruptur kann rein klinisch sein, eine Bildgebung ist nicht ­immer erforderlich. Siehe dazu: Ottawa Ankle Rules (Abb. 2) [2]. Ein Verfeinerung dieser Regeln sind die ­sogenannten Bernese Rules [3]. Eine Gegenüberstellung der beiden Regeln [4] hat zu folgender Schlussfolgerung geführt: «The OAR remain the decision rules of choice for ankle injuries despite its modest ‘ruling out’ ­capacity.»
Ottawa Ankle Rules: Konnte der Patient vom Trauma an nicht mehr belasten oder finden sich Druckschmerzen ausserhalb der Region des lateralen Bandapparates und besteht damit der Verdacht auf eine komplexere knöcherne oder ligamentäre Verletzung, so sollte grosszügig eine Röntgendiagnostik erfolgen. In der Regel besteht diese aus Aufnahmen des OSG in zwei Ebenen [4]. Wenn der Patient dazu in der Lage ist, dann sollten die Aufnahmen belastet erfolgen, dies ergibt mehr Information zur Stabilität des Sprung­gelenks. Bei entsprechender Expertise ist kann auch eine Ultraschalluntersuchung weitere Informationen liefern.
Eine weitergehende Bildgebung mit CT oder MRI ist selten erforderlich und ist dann eher einer spezialärztlichen Untersuchung vorbehalten.
Merke: Liberaler Einsatz der Röntgendiagnostik bei starker Schwellung, schwerer Untersuchbarkeit und jedem Verdacht auf eine komplexere Verletzung.

Klassifikation

Die Klassifikation der Aussenbandverletzungen kann Tabelle 1 entnommen werden.
Tabelle 1: Graduierung der Ausenbandverletzungen (TK = Taluskippung, TV = Talus­vorschub, FTA = Lig. fibulotalare anterius, FC = Lig. fibulocalcaneare) [5]. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V.
GradVerletzungFunktionInstabilitätSchwellung (Differenz zur Gegenseite)
Grad IZerrung (Mikro­skopische Ruptur)keine Einschränkungkeine TK, kein TV≤0,5 cm
Grad IIPartialrupturBewegungsein­schränkung 5–10°keine TK, TV + (FTA betroffen)0,5–2 cm
Grad IIIKomplettrupturBewegungsein­schränkung >10°TK +, TV + (FTA und FC betroffen)>2 cm

Differenzialdiagnosen

Malleolarfraktur (Druckschmerz direkt auf dem Knochen), osteochondrale Taluskantenfraktur (Schwellung des gesamten OSG), Peronealsehnenluxation, (provozierbar durch Eversion des Fusses und Dorsal­extension gegen Widerstand), isolierte Syndesmosenruptur (Druckdolenz), Fraktur des Proc. lateralis tali («snowboard ankle», klinisch kaum unterscheidbar von einer Bandruptur, aber atypische Anamnese, meist Valgustrauma des Rückfusses, Röntgendiagnose), Abrissfraktur an der Basis des Metatarsale V (Druckdolenz).
Merke: Besteht klinisch oder radiologisch der Verdacht auf eine dieser Verletzungen, so gehört diese in die Hand eines damit erfahrenen Arztes. Eine zu späte oder zu wenig konsequente Behandlung verlängert die Behandlungsdauer und kann zu irre­versiblen Schäden führen.

Behandlung

Die Behandlung ist individuell und richtet sich nach dem Schweregrad der Verletzung. In der Literatur werden viele Behandlungskonzepte vorgeschlagen. Allen gemeinsam ist eine funktionelle Stabilisierung: functional treatment – early mobilisation with use of an external support [6]. Dieser «external support» muss nicht nur supinationsverhindernd, sondern auch rotationssichernd sein! Eine rigide Gipsbehandlung ist heutzutage obsolet. Eine leichte Kompression mit einem Kompressionsstrumpf der Klasse I wird zusätzlich zur Orthesenbehandlung empfohlen [7].
Wir empfehlen folgendes, Grad-adaptiertes Vorgehen (ist etwas zurückhaltender als die AWMF Leitlinie 012-022 [5]):
Grad I: Initial Orthesenanlage, sofern es die Weichteile erlauben. Vollbelastung, keine Thromboseprophylaxe. Die Orthese sollte für sechs Wochen getragen werden.
Grad II: Primär gegebenenfalls Ruhigstellung des OSG, zum Beispiel mit gespaltenem Softcast für ca. eine Woche, dabei Abrollbelastung und Thromboseprophylaxe. Dann Übergang auf eine supina­tionsverhindernde, rotationssichernde Orthese, Vollbelastung und Stopp der Thromboseprophylaxe. Behandlungsdauer sechs Wochen.
Grad III: Primär Ruhigstellung des OSG, zum Beispiel mit gespaltenem Softcast für ein bis zwei ­Wochen, dabei Abrollbelastung und Thrombose­prophylaxe, je nach Stärke der Symptome. Dann Übergang auf eine supinationsverhindernde, rota­tionssichernde Orthese, Vollbelastung und Stopp der Thromboseprophylaxe. Behandlungsdauer für insgesamt sechs Wochen nach Trauma. Die Orthese muss Tag und Nacht getragen werden. Beim sport­lichen Patienten mit Grad-III-Rupturen und massiver Instabilität kann auch einmal eine primäre ­operative Behandlung sinnvoll sein.
Wir empfehlen das Tragen der Orthese auch nachts, da bei «Seiten- und Bauchschläfern» im Schlaf eine passive Dehnung der Bänder unbemerkt auftreten kann.
Merke: Die Therapie mit einer Orthese sollte bei Band­rupturen insgesamt sechs Wochen dauern. Die vollständige Rekonvaleszenz kann längere Zeit be­anspruchen.
Sportliche Aktivitäten: Stop-and-go Sportarten sollen während sechs Wochen unterlassen werden. Lineare Sportarten (Walken etc.) sind hingegen nach Schwellungs- und Schmerzabnahme erlaubt [7].
Propriozeptives Training (nach der akuten Phase) unterstützt die Stabilität und ist eine wirksame Prophylaxe gegen eine erneute Distorsion [8].
Bei persistierender Instabilität und rezidivierenden Distorsionen kann je nach Patientenanspruch eine Bandrekonstruktion diskutiert werden.
Merke: Bei Beschwerdepersistenz nach zwölf Wochen empfiehlt sich eine zusätzliche Bildgebung (MRI), um Begleitverletzungen auszuschliessen.

Prognose

Eine rezente Review-Arbeit kommt zum Schluss: «However, prognostic factors associated with chronic residual symptoms from acute lateral ankle ligament sprains are poorly understood» [9]. Dennoch wird in dieser Arbeit versucht, prognostische Hinweise herauszuarbeiten. Kurzfristig keine gute Prognose haben Patientinnen und Patienten, die initial starke Schmerzen, eine re­duzierte Belastung und eine Einschränkung des Be­wegungsausmasses zeigen. Langfristig keine gute ­Prognose weisen ältere Patienten oder weibliche ­Pa­tientinnen auf. Prognostisch ebenfalls diskutiert wird eine erneute Distorsion innerhalb von drei Monaten.
PD Dr. med. Dominik Heim
Chirurgische Gemeinschafts­praxis Hohmad
Hohmadstrasse 1
CH-3600 Thun
dominik.heim[at]klinikhohmad.ch
1 Heim D, Gujer S. Kleine chirurgische Notfälle – oder ist es doch mehr? Therap. Umschau 2015;72(1):47–51.
2 Stiell IG, McKnight RD, Greenberg GH, et al. Implementation of the Ottawa ankle rules. JAMA.1994;271:827–32.
3 Eggli S, Sclabas GM, Eggli S, et al.The Bernese Ankle Rules: A fast, reliable test after low-energy, supination-type malleolar and midfoot trauma. J Trauma. 2005;59:1268–71.
4 Brunner Ch, Lütolf Y, Roeber B. Medizinische Bildgebung Praxis. Selbstverlag: 94-7. Optimo Service GA, Daten und Print Zürich.
5 Rammelt S, Richter M, Walther M. Frische Außenbandruptur am Oberen Sprunggelenk. Leitlinien Unfallchirurgie/ AWMF-Nr. 012-022 Letztes Bearbeitungsdatum: 08.08.2017.
6 Struijs P, Kerkhoffs G. Ankle sprain. Clinical evidence 2010;05:1115–33.
7 Durst H, Hartl M, Speer J. Sprunggelenksdistorsion: Wann röntgen, wie behandeln. Ars medici 2017;3:134–8.
8 Rivera MJ, Winkelmann ZK, Powden KJ et al. Proprioceptive training for the prevention of ankle sprains: An evidence-based review. Journal of Athletic Training 2017;52(11):1065–7.
9 Thompson JY, Byrne C, Williams MA, et al. Prognostic factors for recovery following acute lateral ankle ligament sprain: a systematic review. BMC Musculoskeletal Disorders. (2017)18:421–35.