Weiter- und Fortbildung aus der Sicht des Nachwuchses

«Risikofaktor Mensch»

Fortbildung
Ausgabe
2021/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10359
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(07):237-239

Affiliations
Masterstudentin Humanmedizin Universität Bern

Publiziert am 06.07.2021

Montagmorgen, 9.30 Uhr in Ihrer Praxis. Das Wartezimmer überquillt, ein Termin reiht sich an den nächsten. Sie selbst hetzen von einem Patienten zum nächsten, als plötzlich die Tür aufgeht. Ein Ihnen un­bekannter älterer Mann tritt in Ihre Praxis, er habe Schmerzen auf der Brust und brauche dringend ­Temesta. Bevor Sie etwas fragen können, wird der Mann blass, sinkt zu Boden und regt sich nicht mehr.

Montagmorgen, 9.30 Uhr in Ihrer Praxis. Das Wartezimmer überquillt, ein Termin reiht sich an den nächsten. Die MPA versucht den immensen Andrang zu ­bewältigen. Sie selbst hetzen von einem Patienten zum nächsten, als plötzlich die Tür aufgeht. Ein Ihnen un­bekannter älterer Mann tritt in Ihre Praxis, er habe Schmerzen auf der Brust und brauche dringend ­Temesta. Bevor Sie etwas fragen können, wird der Mann blass, sinkt zu Boden und regt sich nicht mehr. Schweissperlen bedecken seine Stirn, der Körper ­verkrampft sich, er ist nicht mehr ­ansprechbar. Sofort rufen Sie nach der MPA und alarmieren den Rettungsdienst. Gemeinsam beginnen Sie mit den CPR-Massnahmen. Nach wenigen Minuten trifft der Kranken­wagen ein.
Alles wurde richtig gemacht. Doch selbst dann kann es passieren, dass nicht das gewünschte Ergebnis eintritt. Gravierend kann das Resultat sein, wenn es zusätzlich zu einer schwierigen Situation zu einem menschlichen Versagen im Gesundheitswesen kommt. Fehler passieren – auch in der Medizin. Nur haben diese Fehler meist schwerwiegendere Folgen als in anderen Berufen, wie das Beispiel oben zeigt. Eine Situation die jedem genauso passieren könnte. Doch wie können Fehler vermieden werden? Hätten Sie etwas anders gemacht? Wüssten Sie genau, was zu tun ist? Gerhard Moser, Rettungssanitäter aus Heimberg (Thun), erläuterte in seinem Vortrag am SGAIM-Herbstkongress 2020 in Lugano anhand praxisrelevanter Fallbeispiele und notfallmedizinischer Behandlungsstrategien, wie die Patientensicherheit trotz des «Faktors Mensch»­gewährleistet werden kann.
«70% der Fehler in- und ausserhalb der Medizin sind auf den ‚Faktor Mensch’ zurückzuführen.» [1] Dies erläutert Moser ein wenig genauer: Notfallmedizin besteht hauptsächlich aus Kommunikation. Das Wichtigste dabei ist Teamarbeit und Koordination. Aus jahrelanger Erfahrung weiss der Rettungssanitäter, dass es meistens die mangelnde Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit sind, die zu Zwischenfällen führen. Diese Aussage untermauern auch die ­immer häufiger werdenden interdisziplinären Notfallstationen. Hier muss alles reibungslos funktionieren, alle arbeiten Hand in Hand. Doch egal ob Spital oder Praxis, es braucht eine führende Hand, die deeskalierend wirkt und lebenswichtige Entscheidungen trifft. Im obigen Beispiel wurde korrekt gehandelt, dennoch ist es wichtig, sich möglicher Fehlerquellen bewusst zu sein.
Das Wichtigste in der Notfallmedizin ist Teamarbeit und Koordination. © Rawpixelimages | Dreamstime.com

Management zur Vorbeugung von ­Fehlern in Notfallsituationen

Üben, üben, üben. Dies hört man normalerweise nur im Studium. Doch auch für Kliniker/-innen und Praktiker /-innen ist die Routine enorm wichtig. Deshalb rät Moser zu Simulationstrainings. Diese sollen Sicherheit vermitteln im Umgang mit Notfallsituationen (Tab. 1).
Tabelle 1: Leitsätze in der Notfallmedizin [3].
1. Hilfe anfordern – lieber früh als spät
2. Verteilung der Arbeitsbelastung (10 Sek. für 10 Min.)
3. Verhinderung und Erkennung von Fixierungsfehlern
4. Merkhilfen verwenden und nachschlagen
5. Reevaluation der Situation (10 Sek. für 10 Min.)
6. Prioritäten dynamisch setzen

Fünf Leitpunkte zum korrekten Vorgehen

1. Trainieren Sie ihre Teamarbeit vor der Notfallsituation regelmässig.
2. Überprüfen Sie regelmässig das Notfallkonzept ­Ihrer Praxis.
3. Nutzen Sie Algorithmen (ABCDE-Schema).
4. Überprüfen Sie das Notfallequipment – weniger ist mehr – und stellen Sie sich immer die Frage, ob sie es auch anwenden können.
5. Begutachten Sie Ihr Material wie Ausstattung der Notfalltasche, Monitoring, Blutzuckergerät, Defi­brillator und Medikamentensortiment – was braucht man wirklich?
«Gut sein, wenn’s drauf ankommt», darum geht es in der Medizin. Das Problem ist nicht das fehlende Wissen, einzig und allein der Überraschungsmoment und dass es keine Wiederholungsmöglichkeit gibt, machen diese Herausforderung aus [2]. Die hohen Komplexitätsanforderungen an das behandelnde Team dürfen nicht zu Fehl- oder Mangelbehandlungen mit gravierenden Folgen führen, weshalb eine gewisse Routine und eine zeitnahe Entscheidungsfindung dringend ­erforderlich sind.
«Genau diese Flexibilität muss trainiert werden.», betont Moser. Was es zur Vermeidung aktiver (unsichere Handlung z.B. Medikamentenverwechslung, Dosierungsfehler) und latenter Fehler (Übermüdung) benötigt, unterstreicht folgende Liste zum Management von Notfallsituationen nach den Richtlinien von Moser:
– Kommunikation
– Nachbesprechung
– ­Arbeitsplatzorganisation (Materialkontrolle, Materiallagerung, Ausbildung).
Denn auch wenn es meistens nur zu Beinahezwischenfällen kommt, gilt es, auch diese so gut wie möglich zu vermeiden.

In der Notfallsituation – richtiges ­Management in der Praxis

Das Notfallmanagement Ihrer Praxis ist das A und O. Dabei lautet die erste Regel: Es muss einfach sein. In Stresssituationen funktioniert unser Gehirn leider nicht immer so, wie wir es uns wünschen. Deshalb empfiehlt der Fachmann das 10-Sekunden-für-10-Minuten-Prinzip: «Nehmen Sie sich 10 Sekunden Zeit, die nächsten 10 Minuten zu planen, um damit das Überleben des Patienten zu sichern». Damit es auch unter solchen Umständen – und ein Notfall ist immer eine Stresssituation – nicht zu schwerwiegenden Fehlern kommt, können Checklisten sehr hilfreich sein. Prinzipien, die wir alle kennen, sind das Primary ­Survey, das ABCDE-Schema oder auch die 4 S (Safety, Scene, Support and Situation). Welches wir uns zu ­Nutzen machen, spielt keine Rolle – Hauptsache es funktioniert.

Ein weiteres Fallbeispiel zur Testung Ihres Notfallkonzeptes

In Ihrer Praxis klingelt das Telefon. Wie immer meldet sich die MPA am Apparat. Am anderen Ende des Telefons ist ein aufgebrachter Mann. «Meine Frau wurde von einer Wespe gestochen und wir können das Allergieset nicht finden. Sie hat massive Atemnot. Wir sind in zwei Minuten da ... piep piep piep». Die MPA stürzt in Ihr Sprechzimmer und erzählt Ihnen vom Vorfall. Was werden Sie tun und vor allem was bereiten Sie vor und in welcher Reihenfolge, um diese lebensgefährliche ­Situation zu entschärfen? Sauerstoff, venöser Zugang, Steroide und dann Antihistaminika? Hier hilft ein kleines Notfallset (Tab. 2).
Tabelle 2: Notfallset (ein Beispiel) © Gerhard Moser.
MedikamenteO2
Ringer, Glucose
Adrenalin 1 mg
Aspégic® 500 mg inkl. Aqua
Atropin 1 mg
Dormicum® 15 mg
Fentanyl® 0,1 mg
Salbutamol
Isoket® Spray
Morphin 10 mg
Ondansetron® 8 mg/4 ml
Solu-Medrol® 125 mg
Solu-Medrol® 125 mg
Tavegyl® 2 mg
Naloxon® 0,4 mg/1 ml
Anaphylaxieset (z.B. 2 × 5 mg Levocetirizin & 2 × 50 mg Prednisolon)
MaterialInfusionsbesteck
Venöser Zugang (Venflon, Staubinde, Entsorgungsbehälter, Pflaster, PVK, Alkoholtupfer, Rasierer, Spritzen, Kanülen)
Verbandsmaterial (elastische Binde, Kompresse, Verbandschere, Schiene)
Beatmungsbox (O2, Sauerstoffbrille, Inhaliermaske, ­Beatmungsmaske, Guedel evtl. Intubationsset mit Larynxmaske)
Varia: Thermometer, Halskragen, Brechbeutel, Abfallsack, ­Handschuhe, Glucometer-Set, Pupillenlampe, Stethoskop, ­Handabsaugpumpe, Nasen-Vernebler
Ganz nach dem Prinzip treat first what kills first sollten Sie zuerst das behandeln, was am lebensbedrohlichsten ist. Ein weiterer Algorithmus, der in einer Notsituation hilfreich sein kann, ist das ABCDE-Schema [4]: ­
A – Airway (Atemweg)
B – Breathing (Beatmung)
C – Circulation (Kreislauf)
D – Disability (Defizit, neurologisches)
E – Exposure/Environment (Exploration).

Kleines Nothilfe 1 × 1 für Ihre Praxis

1. Verteilung der Aufgaben unter Berücksichtigung der individuellen Kompetenzen. Berücksichtigen Sie dabei Umstände, Grösse und die örtliche Lage Ihres Betriebes.
2. Stellen Sie eine risikobasierte Ausstattung für medizinische Notfälle zusammen. Damit sollten Schwer- wie auch Bagatellverletzungen behandelt werden können (Tab. 2).
3. Trainieren Sie Ihre Mitarbeitenden regelmässig (alle zwei bis drei Jahre) im Notfallmanagement. Sie sollen darin handlungsfähig gemacht werden, Notfallsituationen zu erkennen, zu beurteilen und geeignete Massnahmen einzuleiten [5].
Dieser kleine Einblick in die Notfallmedizin soll dabei helfen, künftige Gefahrensituationen organisierter zu meistern und vermeidbare Fehler zu minimieren.
Kostenloser Algorithmus – Anaphylaxie: mit beiliegendem QR-Code als Download oder per E‑Mail an info[at]prominis.ch
Jasmin Borer
Verantwortliche Redaktorin
­Primary and Hospital Care
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