Projekt 21 des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care»

Standardisiertes Assessment- und Berichterstattungs-System für Funktionsfähigkeit

Forschung
Ausgabe
2021/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10372
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(04):118-120

Affiliations
a Schweizer Paraplegiker-Forschung, Nottwil, Schweiz; b Departement Gesundheitswissenschaften und Medizin, Universität Luzern, Schweiz; ­c Fakultät für Angewandte Gesundheits- und Sozialwissenschaften, Technische Hochschule Rosenheim, Deutschland

Publiziert am 30.03.2021

Das Gesundheitswesen wird aktuell vielschichtig gefordert. Gesundheitsdienstleistungen sollen zweckmässig, wirtschaftlich und wirksam sein und dabei kontinu­ierlichen Qualitätsverbesserungsprozessen ­unterzogen werden.

Hintergrund

Das Gesundheitswesen wird aktuell vielschichtig gefordert. Gesundheitsdienstleistungen sollen zweckmässig, wirtschaftlich und wirksam sein und dabei kontinu­ierlichen Qualitätsverbesserungsprozessen ­unterzogen werden. Damit gewinnen Gesundheitsdaten auf allen Ebenen des Gesundheitssystems an ­Bedeutung [1]:
– für das klinische Patientenmanagement auf der ­Mikroebene;
– für klinikübergreifende Qualitätsmessungen und -vergleiche auf der Mesoebene;
– sowie für die kantonale und nationale Planung auf der Makroebene [2].
Eine bestehende Herausforderung dabei ist die Messbarmachung der Gesundheit. Zu diesem Zweck entwickelte die WHO die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [3], welche die erlebte Gesundheit einer Person unter Einbezug der individuellen Umwelt als Funktionsfähigkeit beschreibt [4], die neben Mortalität und Morbidität zu den wichtigsten Gesundheitsindikatoren zählt [5]. Besonders in der Rehabilitation steht die Optimierung der Funktionsfähigkeit einer Person im Zentrum [6]. Jedoch sind die Erfassung und Berichterstattung von Funktionsfähigkeit in der Praxis oft nicht standardisiert, und es gibt eine Vielzahl von angewendeten klinischen Assessment-Instrumenten. Dies erschwert die Vergleichbarkeit und das Lernen aus Funktionsfähigkeitsdaten im Sinne einer kontinuierlichen Verbesserung auf allen Ebenen des Gesundheitssystems [7].
Ziel des NFP 74 StARS Projekts war die Entwicklung ­eines standardisierten Assessment- und Berichterstattungs-Systems (StARS) für Funktionsfähigkeit, um eine zielgerichtete und qualitativ hochwertige Rehabilitation zu unterstützen.
Das Projekt befasst sich mit zwei Anwendungsbeispielen eines StARS:
– Teil A) Die nationalen Qualitätsberichte in der Rehabilitation;
– Teil B) Die klinische Entscheidungsfindung in der Rehabilitation nach Querschnittlähmung (QSL).
Für beide Anwendungsbeispiele war es ferner das Ziel, Strategien zu entwerfen, um ein StARS in den entsprechenden Bereichen zu verankern.

Merkmale eines StARS für ­Funktionsfähigkeit

1) Ein StARS basiert auf der ICF, dem Referenzsystem der WHO für Funktionsfähigkeit [3].
2) Ein StARS setzt sich aus einer Kombination von Methoden zusammen, die es erlauben Funktionsfähigkeit zu beschreiben und Informationen zur Funktionsfähigkeit zu standardisieren und vergleichbar zu machen.
– Es integriert Informationen, welche mit einem oder verschiedenen Assessment-Instrumenten erfasst wurden.
– Idealerweise basieren die im StARS integrierten Assessment-Instrumente auf ­einer Intervallskala. Es können statistische Methoden angewendet werden, um ordinal-skalierte Funktionsfähigkeitsdaten in eine Intervallskala zu überführen.
– Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein StARS durch eine empirisch gestützte Referenzmetrik Informationen zur Funktionsfähigkeit, die mit unterschiedlichen Assessment-Instrumenten erhoben wurden, vergleichbar machen.
– Bei der Entwicklung eines StARS besteht die Option, aus verschiedenen sich ergänzenden Assessment-Instrumenten einen übergeordneten Funktionsfähigkeitsindex zu generieren.

Methoden

Das Projekt stützte sich auf eine bereits entwickelte Vorgehensweise für die standardisierte Berichterstattung von Funktionsfähigkeit, anhand welcher ein StARS konzeptuell (basierend auf ICF Linking) und quantitativ (basierend auf Rasch Analyse) entwickelt wird [8]. In Teil A wurde dieses Vorgehen für zwei Assessments, die in den Schweizer Qualitätsberichten für muskuloskelettale und neurologische Rehabilitation – FIM™ (Functional Independence Measure) und EBI (Erweiterter Barthel Index) – verwendet werden, angewendet, um Funktionsfähigkeitsdaten zu standardisieren. Dabei wurde eine ICF-basierte und intervallskalierte Referenzmetrik entwickelt und deren Einfluss im Vergleich zur aktuellen Qualitätsberichterstattung analysiert.
In Teil B wurde anhand einer nationalen Kohortenstudie für QSL untersucht, wie standardisiert erhobene Funktionsfähigkeitsdaten aufbereitet und zurück in die Praxis überführt werden können. Dabei wurden eine Querschnittstudie anhand Strukturgleichungsmodellen, eine Längsschnittstudie anhand ­Latent-Process-Mixed-Modellen und eine ergänzende Literatur­übersicht zu Vorhersagemodellen für Funktionsfähigkeit nach QSL durchgeführt.
Zudem wurden in einem Stakeholder-Dialog gemeinsam mit relevanten Akteuren Strategien entwickelt, wie ein StARS im klinischen Kontext und in nationalen Qualitätsberichten implementiert werden kann.

Ergebnisse

In Teil A konnte eine ICF-basierte und intervallskalierte Referenzmetrik basierend auf FIM™ und EBI [9, 10] entwickelt werden. Diese Referenzmetrik ermöglicht es, die Ergebnisse der beiden Instrumente für die Qualitätsberichte vergleichbar zu machen [11]. Der Vergleich zwischen dem bestehenden Qualitätsberichtsystem und dem StARS zeigte die Vorteile des StARS hinsichtlich der Intervallskalierung (valide und genauere Berechnung der Behandlungsergebnisse) und der ICF-­Basierung (internationale Vergleichbarkeit, Aufzeigen von inhaltlichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten) [12].
In Teil B konnte die Querschnittstudie zur Untersuchung der Komplexität der Funktionsfähigkeit Aufschluss geben über mög­liche Beziehungen von Funktionsfähigkeitskomponenten bei Austritt aus der Erstrehabilitation nach QSL [13]. In der Längsschnittstudie konnten vier Verlaufsklassen der Funktionsfähigkeit während der Erstrehabilitation, wie auch mögliche Prädiktoren dieser Klassen, identifiziert werden. Zusammen mit der Literaturübersicht zu Vorhersagemodellen der Funktionsfähigkeit können diese Ergebnisse die Grundlage für weiterführende Schritte bilden, wie Funktionsfähigkeitsdaten für die Praxis aufbereitet und nützlich gemacht werden können.
Im Stakeholder-Dialog wurde eine Implementierungsagenda für ein StARS in den beiden Anwendungsbeispielen sowie in weiteren Anwendungsbereichen erarbeitet.

Interview mit KD Dr. med. Anke Scheel-Sailer, Leitende Ärztin Paraplegiologie, Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil

Welchen Nutzen hat aus Ihrer Sicht das NFP 74 StARS Projekt für die klinische Praxis?
Mit der wissenschaftlich dargestellten, transparenten und vergleichbaren Messbarkeit der Funktionsfähigkeit gibt das NFP 74 StARS Projekt der Funktionsfähigkeit im Gesundheitssystem einen wirklichen Stellenwert. Die Funktionsfähigkeit ist damit nicht nur für Patientinnen und Patienten ein wichtiger subjektiv empfundener Aspekt ihrer ­Lebensqualität, sie wird auch für Kliniker, Versicherer und Politiker zu einer messbaren Grösse. Die Funktionsfähigkeit kann so zukünftig in Wirksamkeitsmessungen und kontinuierlichen Verbesserungsprozessen im Gesundheitssystem integriert werden.
Was denken Sie über die standardisierte Berichterstattung von Funktionsfähigkeitsinformationen?
Dieses Projekt hat gezeigt, dass standardisierte ­Berichterstattung von Funktionsfähigkeit möglich ist. Individuell ergänzende Informationen sollten dabei nicht verloren gehen. Aus meiner Sicht braucht es deshalb im klinischen Management beides: standardisierte Berichterstattung ergänzt durch individuelle Informationen.
Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten ­Ergebnisse aus dem NFP 74 StARS Projekt?
Funktionsfähigkeit kann wissenschaftlich fundiert gemessen und in die klinische Berichterstattung ­integriert werden. Verschiedene Assessments ­können mit dieser Methode in einen Funktions­fähigkeits-Score umgewandelt werden, so dass auch spezialisierte Instrumente weiter genutzt werden können. Im Projekt wurde gezeigt, dass eine datenbasierte Vorhersage von Funktionsfähigkeit möglich ist. Bis zu einer individuell bedeutungsvollen Vorhersage in der Praxis sind jedoch noch ­weitere Schritte und insbesondere umfangreiche Daten notwendig.
Welchen Beitrag an eine Verbesserung der ­Gesundheitsversorgung kann das NFP 74 StARS Projekt aus Ihrer Sicht leisten?
Das Projekt schafft die Voraussetzungen dafür, dass Funktionsfähigkeit tragfähig in das Gesundheitssystem im Sinne der Berichterstattung und damit auch im Sinne der Qualität integriert werden kann.

Diskussion und ­Schlussfolgerung

Das Projekt zeigt an zwei Anwendungsbeispielen konkret auf, dass es möglich und praktikabel ist, ein StARS für Funktions­fähigkeit zu entwickeln. Ein StARS, das die ICF als Referenzsystem nutzt, ermöglicht den Vergleich und das Lernen von Funktionsfähigkeitsdaten, die mit verschiedenen Assessment-Instrumenten erhoben wurden. Folglich können Informationen von etablierten Assessment-Instrumenten gezielt als Teil der klinischen Entscheidungsfindung und gleichzeitig für übergreifende Qualitätsinitiativen genutzt werden. So kann ein StARS im Sinne eines lernenden Gesundheitssystems eingesetzt werden [2].
Zudem wurde gemeinsam mit relevanten Stakeholdern aufgezeigt, dass ein StARS für Funktionsfähigkeit für weitere Anwendungsbereiche von Relevanz ist: für die allgemeine Berichterstattung von Funktionsfähigkeit (z.B. elektronische Patientenakte, Austrittsberichte) sowie für die Planung und Leistungsaufträge der Kantone und für nationale Gesundheitsstatistiken.
Für das Projekt:
Prof. Dr. med. Gerold Stucki
Schweizer Paraplegiker-­Forschung
Guido A. Zächstrasse 4,
CH-6207 Nottwil
gerold.stucki[at]paraplegie.ch

Für das Programm:
Heini Lüthy
Verantwortlicher ­Medienarbeit des NFP 74 www.nfp74.ch
Tössfeldstrasse 23
CH-8400 Winterthur
Hl[at]hluethy.ch
1 Vincent C, Staines A, Swiss Federal Office of Public Health FOPH. Enhancing the Quality and Safety of Swiss Healthcare - A national report commissioned by the Federal Office of Public Health on the quality and safety of healthcare in Switzerland, 2019. Bern, Switzerland: https://www.bag.admin.ch/bag/en/home/versicherungen/krankenversicherung/krankenversicherung-qualitaetssicherung.html Accessed [2020 July 17].
2 Stucki G, Bickenbach J. Functioning information in the learning health system. Eur J Phys Rehabil Med. 2017;53:139–43.
3 World Health Organization. International Classification of Functioning, Disability and Health - ICF. Geneva, Switzerland: WHO, 2001.
4 Stucki G, Rubinelli S, Bickenbach J. We need an operationalisation, not a definition of health. Disabil Rehabil. 2020;42:442–4.
5 Stucki G, Bickenbach J. Functioning: the third health indicator in the health system and the key indicator for rehabilitation. Eur J Phys Rehabil Med. 2017;53:134–8.
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 9 Maritz R, Tennant A, Fellinghauer C, Stucki G, Prodinger B. The Functional Independence Measure 18-item version can be reported as a unidimensional interval-scaled metric: Internal construct validity revisited. Journal of rehabilitation medicine. 2019;51:193–200.
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