Die Position der FMH

Dolmetschen als Schlüssel zur Chancengleichheit

Aktuelles
Ausgabe
2021/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10381
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(05):150-152

Publiziert am 04.05.2021

Mehr als die Hälfte des Gesundheitspersonals ist oft mit sprachlichen Hürden konfrontiert. Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten leistet das professionelle und familienunabhängige Dolmetschen entscheidende Dienste. Sei es in Bezug auf effiziente und effektive Anamnese, Kommunikation von Diagnose, Therapie- und Verhaltensempfehlungen, der Erhöhung der Adherence oder auf den Zugang zur medizinischen Grundversorgung.

Die Ausgangslage

Seit Jahren zeigen Daten, dass soziokulturelle Kontexte und gesundheitliche Chancengleichheit kausal verbunden sind. Nebst den bekannten Faktoren, wie Einkommen, Bildung, beruflicher Status, gibt es zusätzlich übergreifende Faktoren, die in Bezug auf die eigene Gesundheit Einfluss haben – es handelt sich dabei mehrheitlich um Diskriminierungsfaktoren wie beispielsweise Verständigungsprobleme. Die medizinische Versorgung in der Schweiz ist ohne Frage qualitativ hochstehend und über die Sozialversicherungssysteme in der Theorie auch der gesamten Bevölkerung zugänglich. Es ist jedoch so, dass der Zugang nicht für alle gerecht ist. Wissensdefizite, unterschiedliche Konzepte von Gesundheit und Krankheit sowie unterschiedliche Einschätzung der Wichtigkeit der Prävention führen zu einem unterschiedlichen Zugang [1]. Gerade die medizinische Versorgung weist eine hohe Komplexität auf. In der Verständigung über Gesundheit und Krankheit sind Finessen in Gesprächen ausschlaggebend für eine optimale Versorgung. Die ­Sicherstellung eines gerechten Zugangs und einer chancengerechten Behandlung ist eine immense Herausforderung für die Gesundheitsfachpersonen. Der Druck wird zusätzlich verstärkt, da häufig auch die Zeit nicht ausreicht und finanzielle Anreize so gesetzt sind, dass die Gesprächszeit weniger gut abgegolten oder ­sogar limitiert ist. Die Verantwortung für die zielgruppengerechte Versorgung liegt deshalb aktuell bei den Fachpersonen, da in der Gesundheitsversorgung systematische Angebote fehlen, die Menschen mit besonderem Bedarf erreichen.

Die Argumente

Menschen, die durch sozioökonomische ­Faktoren und weitere Merkmale benachteiligt sind, sind kränker.

In mehreren Studien [2–6], wie auch im Booklet des Bundesamtes für Gesundheit (Bundesamt für Gesundheit, 2018), kann klar nachgewiesen werden, dass Menschen mit einer tieferen Bildung, niedrigerem Einkommen oder tieferer beruflicher Stellung eine deutlich geringere Lebenserwartung aufweisen sowie zu Lebzeiten im Hinblick auf fast alle Erkrankungen einem höheren Risiko ausgesetzt sind.

Der Zugang zum Gesundheitssystem ist für Benachteiligte schwieriger.

Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass kumulative Benachteiligungen Inzidenz und Mortalität von Krankheiten in stärkerem Mass ansteigen lassen [7]. Auch der Zugang zum Gesundheitssystem ist für diese benachteiligten Personen schwieriger, obwohl sie vermehrt auf die Versorgung angewiesen sind.

Menschen, die sozioökonomisch benachteiligt sind, verhalten sich ungesünder.

Aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten und fehlendem Wissen ist das gesundheitsförderliche Verhalten bei Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status oft unzureichend. Die Prävalenz von multiplen ungesunden Verhaltensweisen [8] ist bei Menschen mit tiefem sozioökonomischem Status ­höher. Es gilt einen speziellen Fokus auf benachteiligte Personen zu legen sowie vermehrte Anstrengungen in der Behandlung von Menschen mit tiefen sozioökonomischen Status zu unternehmen. Sprachbarrieren können Präventionsarbeit und Gesundheitsförderung erschweren.

Fehlen Worte und Verständnis, kann keine umfassende Betreuung gewährleistet werden.

Die Strukturerhebung des Bundesamtes für Statistik zeigt, dass knapp 10% der 1. Generation mit Migrationshintergrund in der Schweiz angeben, keine Landessprache zu beherrschen. Doch Verständigung ist ­immer ­Interaktion in mind. zwei Richtungen. Einerseits sind die Patientinnen und Patienten, andererseits die Fachpersonen an dieser Interaktion beteiligt. In Schweizer Spitälern und Praxen arbeiten immer mehr Ärztinnen und Ärzte mit ausländischem Diplom, die sich aufgrund von mangelhaften Sprachkenntnissen nur ungenügend mit den Patientinnen und Patienten verständigen ­können. Die Forderungen auf Basis der Medizinalberufeverordnung in Bezug auf die Sprachkenntnisse bleiben im europäischen Vergleich be­scheiden.

Quality of Care

Verständigungsschwierigkeiten können dazu führen, dass unnötige Untersuchungen oder zeitintensive Interventionen durchgeführt werden (Überversorgung), die auch höhere Kosten nach sich ziehen, was dem grundlegenden Gedanken der Wirtschaftlichkeit – ein zentraler Aspekt des KVG – widerspricht. Fehlerhafte Verständigung kann auf der anderen Seite auch dazu führen, dass eine angezeigte Intervention ausbleibt (Unterversorgung). Gerade in der medizinischen Versorgung mit spezialisiertem Vokabular und komplexen Zusammenhängen – stellvertretend sei hier die Psychiatrie erwähnt –, sind sprachliche Finessen ausschlaggebend und Laienübersetzungen nicht ausreichend. Die Qualität der Behandlung, Compliance und Patientensicherheit sind abhängig vom gegenseitigen Verstehen und verstanden werden.

Bedarf und Finanzierung

Der Bedarf an Dolmetschleistungen ist vorhanden. Waren es beispielsweise bei INTERPRET 2010 noch 72 000 Einsatzstunden im Gesundheitsbereich, erhöhten sich die Dolmetscheinsätze 2019 auf 163 153 [9], ­wobei 2/3 der Einsätze im ambulanten Setting geleistet wurden. Auch im Rahmen der 2017 veröffentlichten Studie des Kollegiums für Hausarztmedizin KHM wurde der Bedarf nach Dolmetschleistungen nachgewiesen. Mehr als die Hälfte der befragten Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte führen mindestens monatlich Konsultationen durch, bei denen eine direkte adäquate Kommunikation mit Patienten oder Eltern (kinderärztliches Setting) nicht möglich ist [10]. Die Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK empfiehlt, die Kosten für Übersetzungs- und Dolmetscherdienste, die zur Durchführung einer zweckmässigen Behandlung erforderlich sind, im stationären ­Bereich den OKP-pflichtigen Leistungen zuzurechnen und somit in die Berechnung der Fallpauschalen einfliessen zu lassen [11]. Es ist an den Tarifpartnern, diese Empfehlung umzusetzen. Die Finanzierung im ambulanten Bereich ist in der aktuellen Tarifstruktur nicht vorgesehen und nicht einkalkuliert, was der heutigen Anwendungspraxis in Kliniken, Ambulatorien und Praxen nicht entspricht. Der Einsatz von Dolmetschenden kostet zwar, ist in der Gesamtbilanz jedoch billiger als der Einsatz teurer Diagnostik, unnötiger Konsultationen oder Hospitalisationen. Auch in der KHM-Studie geben 2/3 der Befragten an, dass mit Hilfe von ­Dolmetscheinsätzen unnötige Kosten hätten gespart werden können.

Chancengleichheit fördern

Die Sprachbarrieren erschweren den auf den Bedarf ausgerichteten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Der Einsatz von Dolmetschenden ist ein erster Schritt, um die Chancengleichheit im Gesundheitswesen zu fördern. Gemäss dem durch Kieser erstellten Gutachten [12] wird ein Anspruch auf Dolmetscherleistung bejaht, wenn dies für eine sachgerechte Abklärung des Sachverhaltes zwingend notwendig ist.

Rechtliche Ausgangslage

Vor jeder Behandlung ist eine Einverständniserklärung der Patientin oder des Patienten einzuholen. Er oder sie kann nur rechtsgenügend in die Behandlung einwilligen, nachdem er/sie aufgeklärt wurde, wobei die Aufklärung in einer Sprache zu erfolgen hat, die er/sie versteht. Das bedeutet bei fremdsprachigen Patienten, dass Dolmetschende die Ausführungen der Ärztin oder des Arztes übersetzen müssen, sofern letztere/-r die Sprache der Patientin oder des Patienten nicht ­beherrscht.

Verantwortung der öffentlichen Hand

In der Bundesverfassung (Art. 41 Abs. 1b) ist festgehalten, dass sich Bund und Kantone dafür einsetzen, dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege ­erhält. Eine ausreichende Verständigung ist hierfür unerlässlich.

Unsere Forderungen

• Um eine autonome und informierte Entscheidung zu treffen, müssen Patienten und Fachpersonen den Inhalt des Gespräches verstehen. Die Verhältnisse sind entsprechend so anzupassen, dass Dolmetschleistungen einfacher zugänglich werden.
• Damit Gesundheitsfachpersonen eine korrekte Diagnose stellen und eine angemessene und wirksame Behandlung aufnehmen können, ist es unabdingbar, dass sie die Gesundheitsbedürfnisse der Patientenin bzw. des Patienten verstehen. Ein bedeutender Teil des Verständnisses wird über die Sprache erlangt: Sprachbarrieren müssen mit Hilfe von Dolmetschdiensten überwunden werden.
• Die Schweiz verfügt mit der Interessengemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln INTERPRET über eine Institution, die für das Ausbildungs- und Qualifizierungssystem verantwortlich ist und ein zweitstufiges Qualifizierungsverfahren anbietet, das nationale und internationale Bekanntheit und Anerkennung geniesst. Die Standards sind zwingend einzuhalten, um eine entsprechende Qualität der Angebote zu garantieren.
• Obwohl Empfehlungen der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) vom 27. Juni 2019 zur Abgeltung von Dolmetschleistungen in den Spitälern bestehen, werden diese unterschiedlich umgesetzt. Verbindliche Regelungen der Finanzierung von Dolmetschleistungen im Gesundheitswesen sind zwingend erforderlich, Die gesetzliche Regelungslücke muss behoben werden. Eine nationale Lösung sowie die Kostenübernahme durch Dritte ist anzustreben sowohl für den stationären als auch für den ambulanten Bereich.
• Neue Technologien bringen Möglichkeiten, dass der Einsatz vor Ort wahlweise mittels Videodolmetschen ersetzt werden kann, was auch Kosteneinsparungen pro Einsatz bringen würde. Neue Technologien sind im Einsatz zu berücksichtigen.
• Die zur Verfügung stehenden Dolmetschleistungen müssen möglichst einfach organsiert sein und die Bedürfnisse der Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen, wie beispielsweise wenig Organisationsaufwand, rasche und zeitgerechte Disponibilität, berücksichtigen.
• Der Einsatz einer Dolmetscherin bzw. eines Dolmetschers im Rahmen der Einwilligungsaufklärung ist immer dann angezeigt, wenn der Patientin bzw. dem Patienten die notwendigen Informationen aus sprachlichen Gründen nicht auf andere Weise vermittelt werden können.
Dieser Artikel ist ebenfalls in der Schweizerischen Ärztezeitung erschienen:
Abteilung Public Health, Nussbaumstrasse 29
Postfach
CH-3000 Bern 16
public.health[at]fmh.ch
 1 Socioeconomic Factors, Health Behaviors and Mortalty. The Journal of the American Medical Association (JAMA), 1998
 2 Mielck A. Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Bern: H. Huber; 2000.
 3 Leu RE, Burri S, Priester T. Lebensqualität und Armut in der Schweiz. Bern: Paul Haupt.
 4 Mäder U. et al. Armut im Kanton Basel-Stadt. Social Strategies. Vol. 23;1991.
 5 Bisig B, Gutzwiller F. Soziale Ungleichheit und Gesundheit im Kanton Zürich. Serie Gesundheitsförderung Kanton Zürich Nr. 6; 1999.
 6 Gubéran E. Mortalité prématurée et invalidité selon la profession et la classe soicale à Genève. OCIRT; 2000.
 7 Schumann B. (2009). Indikatoren des sozioökonomischen Status und ihre Assoziation mit kardiovaskulären Risiko­faktoren in einer älteren Allgemeinbevölkerung. Marburg/Lahn: Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
 8 Boes S, Kaufmann C, Marti J. (2016). Sozioökonomische und kulturelle Ungleichheiten im Gesundheitsverhalten der Schweizer Bevölkerung. Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan).
 9 INTERPRET. Statistikbericht 2019 – Zusammen­fassung und Einordnung.
10 Jäger F. (2017). Dolmetschende in Schweizer Haus- und Kinderarztpraxen. Studie im Auftrag des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM).
11 GDK. Empfehlungen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung: Ermittlung der effizienten Spitäler nach Art. 49 Abs. 1 KVG, 27.6.2019, Seite 8.
12 Kieser U. (2020) Gutachten erstattet dem Schweizerisches Rotes Kreuz – Croix-Rouge suisse zu Fragen der Kostenvergütung durch die Krankenversicherung für das interkulturelle Dolmetschen.