Projekt 15 des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care»

Versorgung von Vorschulkindern mit Entwicklungsstörungen im Kanton Zürich

Forschung
Ausgabe
2021/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10407
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(07):218-220

Affiliations
a Abteilung Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich;
b Forschungszentrum für das Kind, Universitäts-Kinderspital Zürich

Publiziert am 06.07.2021

Vorsorgeuntersuchungen ermöglichen die frühe Erkennung von Entwicklungsverzögerungen und damit die zeitnahe Zuweisung zu sonderpädagogischen Massnahmen. Jedoch erhalten nicht alle Kinder rechtzeitig eine entsprechende Therapie. Wir zeigen, wo aus Sicht der Grundverversorger*innen im Kanton Zürich Versorgungs- und Wissenslücken bestehen.

Hintergrund

15–20% aller Vorschulkinder weisen eine verzögerte Entwicklung im Bereich der ­Motorik, Sprache, Kognition oder dem sozialen Verhalten auf [1, 2] und profitieren von einer frühen Therapie [3]. Bei der rechtzeitigen Erkennung von Entwicklungsverzögerungen spielen die ärztlichen Grundver­sorger*innen eine zentrale Rolle – auch um frühe sonderpädagogische Massnahmen zu initiieren (Logopädie, Heilpädagogik inkl. Audiopädagogik und Low Vision). Im Kanton Zürich prüfen die Fachstellen Sonderpäd­agogik den individuellen Therapiebedarf und sind damit «Gatekeeper» für die sonderpädagogischen Therapien (s. Abb. 2) [4]. ­Allerdings weist die Anzahl angemeldeter Kinder darauf hin, dass einige betroffene Kinder zu spät erkannt werden oder es eventuell Hürden bei der Anmeldung gibt. Wir haben daher mit einer Befragung der Grundversorger*innen die Abklärungs- und Zuweisungswege sowie die Zufriedenheit mit dem Zürcher Abklärungsverfahren untersucht.
Abbildung 1: Wie sicher fühlen sich Grundversorger*innen (Haus- und Kinderärztinnen und -ärzte) bei der Erkennung eines Entwicklungsrückstandes?
Abbildung 2: Darstellung der Zugangswege zu frühen sonderpädagogischen Massnahmen im Kanton Zürich. Kinder mit Entwicklungsverzögerungen werden bei den Fachstellen Sonderpädagogik ­(grosser Kasten in der Mitte) am Universitäts-Kinderspital Zürich und dem SPZ am Kantonsspital Winterthur angemeldet, die den Bedarf bestimmen und Massnahmen sprechen oder triagieren.
Abkürzungen: kjz: Kinder- Jugendhilfezentren, KESB: Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, PUK: ­Psychiatrische Universitätsklinik.

Methoden

Kern der Studie bildete ein umfangreicher Online-Fragebogen, den insgesamt 129 Praxispädiater*innen (Rücklauf 59,2%) und 142 Hausärztinnen und Hausärzte (Rücklauf 11,3%) im Kanton Zürich ­beantwortet haben. Ergänzt wurde dieser durch anonyme Abrechnungsdaten der Grundver­sorger*­innen (Abdeckung mind. 74,0%) im Kanton Zürich für die Jahre 2014 bis 2018, die wir von der NewIndex AG beziehen konnten, und eine interne Datenabfrage der Fachstellen Sonderpädagogik des Jahres 2017 im Hinblick auf die Zuweisergruppen der angemeldeten Kinder.

Resultate

Die Abrechnungsdaten zeigten, dass 88,3% der insgesamt rund 400 000 Konsultationen von Vorschulkindern durch Praxis­pädiater*innen und 11,7% durch Hausärztinnen und Hausärzte durchgeführt wurden. Praxispädiater*innen gaben an, dass sie pro Woche im Schnitt 17,4 (± 9,8) Vorsorgeuntersuchungen (VSU) bei Vorschulkindern durchführten. Bei den teilnehmenden Hausärztinnen und -ärzten waren es in diesem Altersbereich 2,4 (± 2,3) VSU pro Woche. Fokussiert auf drei Entwicklungsstörungen (kognitiver Entwicklungsrückstand [kogn. ER], Sprachentwicklungsstörung [SES] und Autismus­-Spektrum-Störung [ASS]) geben 68,4% der Praxispädiater*innen und 40,7% der Hausärztinnen und -ärzte die VSU als den Konsultationsgrund an, durch die in der Regel der erste Verdacht auf eine solche Entwicklungsverzögerung gestellt werde. Praxis­pädiater*innen fühlen sich bei der Erfassung obengenannter Störungsbilder sicherer als Hausärztinnen und -ärzte (kogn. ER: 9,50 vs. 7,58 von 10 Punkten, ­p <0,001; SES: 8,67 vs. 7,63, p = 0,029; ASS: 7,33 vs. 5,44, p = 0,002; [siehe Abb. 1]).
Auf die Frage, ob sie auch Kinder sehen, die sie aufgrund von Widerständen der Eltern nicht für eine Therapie anmelden können, gaben 55,5% der Grundversorger*innen an, dass sie ein oder mehrere Kinder pro Jahr und oben genannter Entwicklungsstörung trotz ­grosser Bemühung nicht einer weiter­führenden Diagnostik oder Therapie zuführen können. Nach Einschätzung der Teilnehmer*innen wollen viele Eltern den Entwicklungsrückstand ihres Kindes nicht sehen (57%) oder glauben, dass die Kinder ihn selbstständig aufholen (66,9%).

Diskussion

Neben niedergelassenen Pädiaterinnen und Pädiatern leisten Hausärztinnen und Hausärzte bei der Grundversorgung von Vorschulkindern – vor allem in ländlichen Regionen – einen elementaren Beitrag. Die meisten Teilnehmenden der Befragung ver­orteten sich im Hinblick auf die Früherkennung von Entwicklungsstörungen – vor ­allem mit Blick auf den kognitiven Entwicklungsrückstand und die Sprachentwicklungsstörung – «auf der sicheren Seite». Die subjektiv empfunden etwas geringere Sicherheit von Hausärztinnen und -ärzten in diesem Zusammenhang spricht für den weiteren Ausbau von strukturierten Weiterbildungsmöglichkeiten in diesem ­Bereich – etwa durch Kurse für entwicklungspädiatrische Vorsorgeuntersuchungen, Workshops oder Supervisionsgruppen [5, 6], mit denen sie ihr Know-How vertiefen und ­damit die Qualität und ihre Sicherheit im Alltag steigern können. Dies erscheint umso wichtiger, da die VSU bei der Früherkennung von Kindern mit Entwicklungsverzögerungen aus Sicht der befragten Grundversorger*innen eine zentrale Rolle spielen und ohne Hausärztinnen und -ärzte vielerorts eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugend­lichen kaum möglich wäre.
Dass die meisten Teilnehmer*innen unserer Studie angaben, regelmässig mit elter­lichen Widerständen gegenüber Entwicklungsabklärungen und sonderpädagogischen Massnahmen zu begegnen, ist ein weiteres Argument für die Pflege einer ­guten Vertrauensbeziehung im Rahmen ­regelmässiger VSU – immerhin betrifft dies rechnerisch rund 1500 Kinder pro Jahr im Kanton Zürich. Die noch laufenden Teilprojekte unserer Studie versuchen hier genauere Daten zu liefern und nehmen zudem die longitudinalen Entwicklungsverläufe der Kinder und die elterliche Perspektive auf die Therapien vertieft in den Blick, um allenfalls konkrete Ansatzpunkte für Verbesserungen in diesem Bereich zu finden.
Dieses Paper basiert auf der Dissertation «Versorgung von Vorschulkindern mit Entwicklungsstörungen: Rolle der Grundversorger im Kanton Zürich (Schweiz)» von Martin Moser (Universität Zürich, 2020).

Kurzkommentar von André Woodtli, Amtschef Amt für Jugend und Berufsberatung, Bildungsdirektion Kanton Zürich

Kinder im Vorschulalter, die aufgrund von Entwicklungsverzögerungen speziell unterstützt und gefördert werden sollten, müssen so früh wie möglich erfasst werden. Dafür braucht es geschulte und wache Augen aller im Frühbereich tätigen Fachpersonen.
Wie die vorliegende Studie zeigt, leisten die Grundversorger*innen einen unverzichtbaren Beitrag zur Früherkennung von Kindern mit Entwicklungsverzögerungen. Sie sind wichtige Vertrauenspersonen für die Eltern und spielen eine zentrale Rolle bei der Zuweisung zu den frühen sonderpädagogischen Massnahmen. Den medizinischen VSU kommt jedoch nicht nur ­hinsichtlich der Zuweisung zu sonder­pädagogischen Massnahmen, sondern auch im Zusammenhang mit weiteren Frühförderangeboten eine wichtige Triage-Funktion zu. Um auch diese optimal wahrnehmen zu können, müssen Grundve­rsorger*innen nicht nur die Angebote im Gesundheitsbereich, sondern auch diejenigen der Kinder- und Jugendhilfe innerhalb des Bildungswesens sowie die entsprechenden Zugangs- beziehungsweise Zuweisungswege kennen. Sie sind Lotsen für alle frühen Hilfen. Und es funktioniert nur im Netzwerk, auf der Grundlage eines regelmässigen Austauschs.
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie bestärken uns darin, die Verbindlichkeit der VSU zu stärken sowie die Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Bildungswesen weiter auszubauen.

Schlussfolgerungen für die Praxis

– Nebst Kinderärztinnen und -ärzten leisten Hausärztinnen und -ärzte einen relevanten Beitrag für die medizinische Grundversorgung von Kindern im Vorschulalter.
– Vorsorgeuntersuchungen sind elementar bei der frühen Erkennung von Entwicklungsverzögerungen.
– Spezifische Weiterbildungen können die subjektive Sicherheit steigern und eine hohe Versorgungsqualität sichern.
Das hier beschriebene Teilprojekt unserer Studie befasst sich mit den Zugangswegen in das Versorgungssystem früher sonderpädagogischer Massnahmen im Kanton ­Zürich. Weitere in unserem Projekt im Rahmen des NFP 74 untersuchten Aspekte sind die differenzierte Charakterisierung der betroffenen Kinder und der gesprochenen Massnahmen in einem kantonalen Register, die Beschreibung der Versorgungssituation spezifischer Patientengruppen, die Bedürfnisse der betroffenen Familien sowie deren Zufriedenheit und Erfahrungen mit dem Versorgungssystem und die Langzeiteffekte früher Interventionen.
Für das Projekt:
Prof. Dr. med. Oskar Jenni
Leiter Abteilung Entwicklungspädiatrie
Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung
Steinwiesstrasse 75
CH-8032 Zürich +41 44 266 77 51
oskar.jenni[at]kispi.uzh.ch

Für das Programm:
Heini Lüthy
Verantwortlicher Medienarbeit des NFP 74
Tössfeldstrasse 23
CH-8400 Winterthur
Hl[at]hluethy.ch
1 Jenni O, Benz C, Caflisch J, von Rhein M, Albermann K. Entwicklungsstörungen im Vorschulalter – Interdisziplinär beurteilt. Ther Umschau. 2013;70(11):637–45.
2 O’Hare A, Bremner L. Management of developmental speech and language disorders: Part 1. Arch Dis Child 2016;101:272–277. doi:10.1136/archdischild-2014-307394
3 Stich HL, Baune BT, Caniato RN, Mikolajczyk RT, Krämer A. Individual development of preschool children-prevalences and determinants of delays in Germany: A cross-sectional study in Southern Bavaria. BMC Pediatr. 2012;12.
4 Bildungsdirektion Kanton Zürich, Amt für Jugend und Berufsberatung. Zürcher Abklärungsverfahren zum sonderpädagogischen Bedarf im Vor- und Nachschulbereich. 2013. https://www.zh.ch/content/dam/zhweb/bilder-dokumente/themen/familie/angebote-fuer-familien-mit-kindern/spf/zuercher_abklaerungsverfahren_spf.pdf
7 Fabian Egli. Fortbildung des Kollegiums für Hausarztmedizin KHM – Entwicklungspädiatrische Vorsorge für Allgemeinmediziner/-innen, Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(02):42. DOI: https://doi.org/10.4414/phc-d.2019.10020. Veröffentlichung: 06.02.2019