Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Ethik in der Pflege aus?

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2021/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10438
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(10):339-340

Affiliations
Établissement médico-­social (EMS) de la Fondation de l’Orme, Lausanne,
Commission d’éthique de la Fondation Soins Lausanne, Lausanne

Publiziert am 06.10.2021

In einer Krisensituation wie der Corona-Pandemie begegnet die Pflegeperson Kräften, die weit über jene hinausgehen, denen sie normalerweise entgegenwirken muss. Diese quälende Situation beeinträchtigt die Pflegeethik.

Die eine Ethik im Singular gibt es nicht. Insbesondere das Thema betreffend, das uns hier beschäftigt, zeigt sie sich in ihrem Facettenreichtum. Eine erste Form der Ethik, im Fernsehzeitalter von den Medien gefeiert, ist sehr präsent: Wenn es darum geht, über Triage, lebensverlängernde Massnahmen oder die Verteilung von unzureichendem Material zu diskutieren und ­unsere freiwilligen Soldaten so weit wie möglich in medizinisch-sozialen Einrichtungen einzusetzen, triumphiert dieser Zweig der Moralphilosophie zugegebenermassen recht mühelos. In der Praxis sieht es dann so aus: Falls es zu wenig Masken gibt, werden sie länger getragen, und wenn die Kittel reissen, kommt Klebeband zum Einsatz. Es geht hier also nicht um Ethik, sondern um den Umgang mit einer unzulänglichen und komplexen Realität. «Das Gesetz der Schwerkraft ist hart, aber es ist das Gesetz», sang Brassens. Und wenn Pflegekräfte sowie Intensivbetten knapp sind, dann kennen wir – ich für meinen Teil seit meinen ­Studentenpraktika – nur zu gut die Situation: Sobald die Presse nicht mehr zugegen ist, leiden erstere immer mehr an Erschöpfung und letztere werden nach einfachen Kriterien wie Krankheitsbild, Prognose, Alter, ­Lebensqualität und Lebenserwartung zugeteilt.
Doch während diese allgemeine Ethik nur eine geringe Hilfsquelle für die verausgabte Pflegefachkraft darstellt, so ist sie für die politische Macht sicherlich sehr nützlich. Deren Vertreter versuchen mit ihrer Hilfe, die manchmal ausgefallenen Wünsche der Bevölkerung einzugrenzen, zu formulieren und zu erfüllen. Gleichzeitig machen sie die Erfahrung: Wer Verantwortung trägt, muss akzeptieren, nicht geliebt zu werden. Diese Form der Ethik ist also vor allem politisch, das heisst, sie ­bezieht sich auf die allgemeinen Belange des Gemeinwesens, sie ist keine Ethik der Fürsorge – oder nur in geringem Masse.
Aber, wird man mir sagen, Hippokrates und seine Begleiter wie Wohltätigkeit, Autonomie, Würde, Gerechtigkeit … Aber nützt uns diese zweite Form der Ethik für unsere Überlegungen? Hilft sie dem Pflegepersonal in ihrer täglichen Arbeit mit den Patient:innen? Nun, auch in diesem Punkt wage ich zu behaupten, dass dies keine sehr nützliche Form der Ethik in Krisenzeiten ist. Sie ist ein Grundsatz der Pflegesorgfalt, der darin besteht, seine Arbeit gewissenhaft zu verrichten. Wenn die berufliche Pubertät hinter uns liegt, haben wir diese Wertvorstellungen mehr oder weniger erfolgreich verinnerlicht, und diese Begriffe ständig zu wiederholen wie Mantras oder Litaneien wird dem «Tauben, der nicht hören will oder kann», nur wenig helfen.
Diese zwei Formen der Ethik stehen meist im Vordergrund, aber diejenige, die mich hier interessiert, ist von einer anderen Beschaffenheit. Zusammen mit Fachleuten der unterschiedlichsten Richtungen (Pfleger:innen, Anwält:innen, Psychiater:innen, Ethiker:innen) gründeten wir vor mehr als zehn Jahren und leiten seitdem eine Ethikkommission im Rahmen der grössten Organisation für häusliche Pflege und Betreuung im Kanton Waadt [1]. Die Ethik, die uns vorrangig beschäftigt, betrifft das moralische Leiden des Pflegepersonals, das unserer Meinung nach das Hauptsymptom eines Problems, einer Schwierigkeit, in diesem Bereich ist. Dieses Unbehagen ergreift und überfordert manchmal unsere Kolleg:innen, wenn diese auf ihre Fragen zu einem bestimmten Patienten oder einer Patientin keine befriedigende oder vertretbare Antwort finden. Sie müssen gleichzeitig die eine Sache als auch die Entgegengesetzte tun. Zum Beispiel: Eine Pflegefachfrau muss eine Person in eine Klinik oder medizinisch-soziale Einrichtung einweisen, die damit nicht einverstanden ist und deren Wille auf ­einer zweifelhaften Autonomie und Urteilsfähigkeit beruht. In einem anderen Fall fühlt sie sich verpflichtet, jeder Ansteckung aus dem Weg zu gehen, um ihren eigenen Partner, der sich einer Chemotherapie unterzieht, oder ihre gebrechliche Verwandte zu schützen; gleichzeitig veranlasst sie ihre Pflicht, an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben, weil es ihr Beruf ist und sie ihn gewählt hat. Oder es ist wichtig, den Besuch von Verwandten in der medizinisch-sozialen Einrichtung zu verbieten, um die Ad-hoc-Richtlinien zu befolgen und ein Leben zu schützen, obwohl dieses Leben nur im Kontakt mit der Familie Sinn findet. Diese ethischen Konflikte und das daraus resultierende Unbehagen sind wesentliche Bestandteile der Pflegebeziehung; es ist eine Binsenweisheit zu behaupten, dass diese auf ihrer Einzigartigkeit basierende Beziehung praktisch immer eine Folge dieses besonderen Unbehagens der Pflegeperson ist.
In dieser Notlage verliert die Pflegefachkraft zudem ihre Unschuld: Sie kann sich ihrer Aufgabe nicht entziehen, denn selbst ihre Inaktivität hat Konsequenzen und sie kann das Dilemma nicht auf eine befriedigende Weise auflösen, weil der Patient oder die Patientin die Inkarnation dieses Problems sind. Angesichts dieser Fragen nach dem Warum, die weh tun; angesichts dieses moralischen Schmerzes, der im Alltag ununterbrochen präsent ist und der noch die Abgebrühtesten bricht, kann die Ethik ihre reflexive, kritische Dynamik und ihre ­Dekonstruktion des vermeintlich Offensichtlichen einbringen, um zu versuchen, die Hintergründe, die eigentlichen Herausforderungen zu verstehen. Diese Arbeitsweise, den Patienten betreffend, aber mit einem gewissen Abstand zum Arbeitsplatz, heilt die moralischen Wunden der Pflegekraft nicht, hilft ihr aber, ihren beruflichen Weg weiterzugehen, ihre Aufgabe zu erfüllen, ohne zu zerbrechen, und die Belastung mit ihrem Gewissen zu vereinbaren. Alain Badiou schrieb: «Die Philosophie (und dazu zähle ich auch die Ethik) ist keine Stunde Mühe wert, wenn sie nicht das Engagement näher beleuchtet.»
Aber seit Beginn der aktuellen Krise wurde unsere Kommission, in der Regel als nützlich anerkannt, nie in Anspruch genommen, sei es aus Zeitmangel, aufgrund von Schwierigkeiten, ein Treffen zu organisieren, wegen Arbeitsüberlastung oder weil dieses Instrument zur Linderung der Not der Pflegenden in Vergessenheit geraten ist. Ich wage zu glauben, dass unsere Kommission nicht die einzige mit diesem Schicksal ist …

Aber warum wird eine Struktur, die früher als hilfreich galt, nicht berücksichtigt?

Die Krise ist eine Gewalt, deren Macht durch die Omnipräsenz der Zahlen verstärkt wird. Sie begnügen sich nicht mit stündlichen Statistiken, so blendend transparent, dass sie wie ein Skotom wirken. Sie dienen nicht nur dazu, Abwesenheiten auf den Dienstplänen rot zu markieren, sondern sie dringen in die Intimität der Pflegebeziehung ein. Die Digitalisierung wird bis an den Punkt getrieben, an dem sie die Nutzlosigkeit oder gar die Toxizität des menschlichen Kontakts suggeriert, der durch die Bildschirme unserer Computer ersetzt wird. Es ist äusserst wichtig, dass die einzigartige Ethik, auf der die Pflegebeziehung, das Händereichen, aufbaut, nicht hinweggefegt wird von der Heftigkeit der Krise. Unser Pflegeberuf sollte nicht «mit Instrumenten» oder «ohne Sichtbarkeit» seinen Weg gehen. Die Palliativabteilungen und Pflegestationen für Demenzkranke bleiben am ehesten Inseln, wo diese einzigartige Ethik fortbestehen kann, und dies aus zwei Gründen: Zum einen wird der Tod dort als friedlicher Begleiter angenommen und gelebt, und zum anderen ist die körperliche Nähe zu den Patienten in diesen beiden Pflegebereichen unerlässlich und ­unterbindet weitgehend das «Navigieren mit Instrumenten». An diesen Orten weichen die Zahlen dem menschlichen Kontakt, der persönlichen Pflege.
Der Gewalt der Krise, die die ethischen Überlegungen zu einem Luxusprodukt, zu einem zeitraubenden ­Anhängsel macht, müssen wir eine Kraft entgegensetzen, die die Ethik wieder in den Fokus stellt. Genau das ist eine der Aufgaben, die wenig erwähnt und zu selten von der Hierarchie der Pflegestrukturen übernommen wird. Nur deren Führungskräfte und – auf höherer Ebene – die politischen Verantwortlichen können sich konkret dafür stark machen, dass die Ethik in der Pflege zu einer Notwendigkeit ersten Ranges wird. Meines Erachtens ist es in einer Krisensituation eine ihrer Hauptaufgaben, diese Ethik in den Mittelpunkt zu ­rücken und Zeit, also finanzielle Mittel, zur Verfügung zu stellen, damit sie in die Praxis umgesetzt werden kann.
Es wäre unredlich zu leugnen, dass die Medizin zu ­einem beträchtlichen Teil auf Technik angewiesen und deren Anwendung eine Grundvoraussetzung unserer Berufe und eine Pflicht gegenüber dem Patienten ist. Wenn aber durch die aktuelle Krise die Hälfte bestimmter Bevölkerungsgruppen unseres Landes ums Leben kommt, ist es gut, sich daran zu erinnern, dass unsere Ethik nicht nur aus Floskeln und Fernsehdebatten besteht …
1 P. Corbaz et F. Quinche. Éthiques pour les soins à domicile. Éd. Médecine et hygiène. 2015