Verlust und Trauer

Trauernde Angehörige in der hausärztlichen Praxis

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2021/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10444
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(10):334-336

Affiliations
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel und Mitglied der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der SAMW, Basel

Publiziert am 06.10.2021

Für Beratung und Unterstützung von Angehörigen während der Erkrankung und nach dem Tod ihrer Mitmenschen gibt es bis heute kaum wissenschaftlich gestützte Empfehlungen und Richtlinien und auch nur wenige Fortbildungsangebote.

Trauersituationen sind vielfältig

Sowohl schwer kranke Menschen wie auch ihre Verwandten und Freunde durchleben Trauerprozesse, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden. In diesem Artikel wird ganz bewusst nur auf die Trauer und die Begleitung von Angehörigen eingegangen. Natürlich nehmen Trauer und Abschiednehmen oftmals schon während der Erkrankung eines geliebten Mitmenschen ihren Anfang. Je nach Art und Verlauf der Krankheit beginnen diese Prozesse schon Jahre vor dem eigentlichen endgültigen Verlust [1].
Verlusterlebnisse und Trauerreaktionen sind so divers wie das Leben der schwer kranken oder verstorbenen und auch dasjenige der trauernden Menschen: Die ­Situation einer mitten im Leben stehenden kinder­losen Frau, deren Partner nachts an einem plötzlichen Herztod verstirbt, ist nicht vergleichbar mit derjenigen eines älteren Mannes, dessen Ehefrau nach jahrelangem Tumorleiden professionell betreut in einem Hospiz verstirbt. Die aus der Türkei stammende Mutter von vier erwachsenen Kindern, deren Ehemann nach einem kurzen Aufenthalt wegen COVID-19 sediert und intubiert auf einer Intensivstation verstirbt, hat wahrscheinlich andere Bedürfnisse als die alleinstehende, seit wenigen Jahren pensionierte Tochter einer in ­hohem Alter im Pflegeheim an einer Demenzerkrankung verstorbenen Dame. Und auch das Trauern einer alleinerziehenden Mutter von drei kleinen Kindern, die sich nach reiflicher Überlegung für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat, kann nicht mit dem Trauerprozess eines nach traumatischer Scheidung zum zweiten Mal verheirateten Managers verglichen werden, der aus der Zeitung vom Tod seiner ersten Ehefrau erfährt.
Nicht nur die Situationen sind divers; die Art des Trauerns und die Möglichkeiten des Umgangs damit ­werden ebenso bestimmt durch Persönlichkeit, Alter, ­Geschlecht, kulturellen und religiösen Hintergrund sowie Lebenserfahrungen. Auch sind in den individuellen Trauerprozessen die vier Dimensionen (körperlich, psychisch, sozial und spirituell/existentiell) in ganz unterschiedlichem Ausmass repräsentiert [2].

Trauer – natürliche Lebenserfahrung oder medizinische Behandlungs­indikation?

Bis vor einigen Jahrzehnten wurde Trauer als private Angelegenheit angesehen, die es mit Unterstützung der Familie, engen Freunden und vertrauten Menschen aus der unmittelbaren örtlichen oder spirituellen Umgebung zu bewältigen galt. Nun hat die gesellschaftliche Entwicklung zu einer Destandardisierung der Lebensläufe, einer verstärkten Individualisierung und damit einhergehend aber auch zu einer zunehmenden sozialen und oftmals auch emotionalen­Vereinsamung insbesondere von älteren Menschen geführt.
In der Folge wurde das Erfassen von Bedürfnissen trauernder Menschen und die Trauerbegleitung zu einer Aufgabe für Gesundheitsfachpersonen.
Man weiss, dass soziale Isolation und Einsamkeit schon ohne Verlusterlebnisse mit einer deutlich erhöhten Mortalität assoziiert sind [3]. 45% aller Frauen und 15% aller Männer im Alter über 65 Jahren sind verwitwet. Der Verlust eines geliebten Menschen und insbesondere des Lebenspartners ist eines der schwerwiegendsten Lebensereignisse und führt für sich wiederum zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität [4].
Hausärztinnen sind bedingt durch ihre Tätigkeit regelmässig mit Todesfällen konfrontiert. Man geht ­davon aus, dass ausgehend von einem 100%-Pensum jährlich ca. 20 von einer Hausärztin betreute Menschen versterben und entsprechend viele Verwandte und Freunde trauern [5].
Angesichts der Auswirkungen von Verlusterlebnissen auf die Gesundheit der Hinterbliebenen wurde auch schon postuliert, dass es eine hausärztliche Aufgabe sei, nach einem Todesfall aktiv auf die Angehörigen zuzugehen und diese gemäss einem standardisierten Protokoll in ihrem Trauerprozess zu unterstützen und zu begleiten [6]. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass dies zweifelsohne von vielen Hinterbliebenen geschätzt, von anderen aber abgelehnt würde [7]. Auch vonseiten der Ärzteschaft wurde argumentiert, dass das aktive Zugehen auf trauernde Menschen einer «paternalistischen Medikalisierung» eines normalen Prozesses respektive einer «intrusiven Proaktivität» in eine fundamentale Lebenserfahrung gleichkomme [8].

Die Rolle der Hausärztinnen in der ­Trauerbegleitung

Insbesondere bei Todesfällen in einer Institution ist in der Regel ein interprofessionelles Team zuständig für die Betreuung der Verstorbenen. Hier ist es wichtig, die Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten für die Begleitung der Hinterbliebenen im Trauerprozess zu klären. Nicht selten wird es die Aufgabe der Hausärztin sein, zumal sie die Verstorbene und deren Angehörige über viele Jahre begleitet hat, deren Wertvorstellungen kennt und ihre Bedürfnisse erfragen oder abschätzen kann. Hausärztinnen sehen es häufig als ihre Aufgabe an, trauernde Menschen zu identifizieren und eine Unterstützung anzubieten, vor allem angesichts der damit verbundenen erhöhten Morbidität und Mortalität, aber auch um eine komplizierte Trauer zeitgerecht ­erfassen zu können [9]. Man darf auch davon ausgehen, dass generell eine Kontaktaufnahme durch die Ärztin nach dem Verlust einer Angehörigen von den Hinterbliebenen geschätzt wird [10]. Das Ausmass der angebotenen Unterstützung wird unter anderem bestimmt durch die Todesumstände, die Praxiseigenschaften, die zeitlichen Ressourcen und auch die entsprechende Erfahrung der Hausärztin im Umgang mit spirituellen und existentiellen Nöten von Hinterbliebenen. Auch die Herangehensweisen sind sehr unterschiedlich, angefangen von einem Telefonanruf nach dem Tod der Patientin über einen Hausbesuch, ein persönliches Kondolenzschreiben bis hin zu einer sich über mehrere Wochen oder Monate hinziehenden Trauerbegleitung in der Sprechstunde der Hausärztin. Da eine diesbezügliche Aus- und Weiterbildung an der Universität und in den Akutkliniken kaum vermittelt wird, ist das hausärztliche Handeln in Trauersituationen weitgehend bestimmt durch persönliche Erfahrungen und Wertvorstellungen. Neben Kondolenz­bezeugungen informieren Hausärztinnen die Hinterbliebenen über den Verlauf des Trauerprozesses und animieren sie, ihren Gefühlen und existentiellen Nöten Ausdruck zu verleihen [11]. Häufig werden zugleich Hypnotika verschrieben [8].
Nicht selten sehen sich Hausärztinnen zu ­einer Trauerbegleitung kaum in der Lage, da sie der ­­Ansicht sind, möglicherweise einen Behandlungsfehler begangen zu haben und sich daher mitschuldig am Tod ihrer Patienten fühlen. Zu beachten ist auch die Tatsache, dass Hausärztinnen nach dem Verlust einer Patientin, die sie über Jahrzehnte betreut haben, ebenfalls einen Trauerprozess durchlaufen [12].
Angesichts der Tatsache, dass nicht nur Hinterbliebene, sondern auch Ärztinnen nach einem Todesfall ganz unterschiedliche Emotionen wie Trauer, aber auch Schuld und Wut erleben, sollten Ärztinnen unbedingt die Möglichkeiten einer Supervision oder auch eines regelmässigen Austauschs mit Berufskolleginnen in einer Balint-Gruppe in Anspruch nehmen.

Den Abschied gestalten

In unserer säkularisierten Gesellschaft sind viele Menschen unsicher, ob und wenn ja, wie sie den Abschied von ihren Angehörigen gestalten möchten. Immer häufiger bitten Menschen darum, dass man von Abschiedsritualen nach ihrem Tod absehen möge. Hinterbliebene möchten gegenüber ihren verstorbenen Mitmenschen loyal sein und verzichten daher auf jegliche Form einer Zeremonie. Die COVID-19-Pandemie hat uns eindrücklich erkennen lassen, was es bedeutet, sich nicht in Gemeinschaft von einem geliebten Menschen verabschieden zu können. Institutionen wie Hospize und Alters- und Pflegeheime haben in den ­vergangenen Jahren eine Kultur entwickelt, die den meisten Angehörigen ein Abschiednehmen erleichtert. ­Rituale ermöglichen gemeinsames Erinnern, vermitteln Geborgenheit in der Gemeinschaft und schaffen Vertrauen und Sicherheit für die Zukunft [13].
Wenn Menschen nicht in Institutionen sterben, die eine ritualisierte Abschiedskultur pflegen, gehört es zu den hausärztlichen Aufgaben, den Angehörigen die Möglichkeiten und auch die Vorteile eines ritualisierten Abschiednehmens aufzuzeigen. Es ist durchaus ­zulässig, den Hinterbliebenen aufzuzeigen, dass es sich dabei nicht primär um einen Abschied für die verstorbene Person handelt, sondern vor allem für diejenigen Menschen, die zurückgeblieben sind.

Komplizierte Trauer

In den allermeisten Fällen klingt die Trauer mit zunehmendem Abstand vom Verlusterlebnis allmählich ab. Die Bewältigungsarbeit in einem normalen Trauerprozess ist gemäss dem dualen Prozessmodell der Trauerbewältigung von Stroebe und Schut darauf ausgerichtet, einerseits den Verlust ins eigene Bedeutungssystem zu integrieren (verlustorientiert) und sich andererseits neuen Aufgaben zu stellen (wiederherstellungsorientiert) [14].
Hausärztinnen sollen Gesprächsbereitschaft anbieten, über den Verlauf einer normalen Trauerreaktion informieren und unter Umständen vorübergehende Unterstützung für die Erledigung von alltäglichen Aufgaben organisieren.
Es gibt aber Menschen, die eine sogenannte komplizierte Trauerreaktion zeigen; gehäuft beobachtet man dies nach sehr traumatischen Verlusten wie Suiziden, multiplen Verlusten oder auch wenn der Verlust von der Umgebung nicht als solcher wahrgenommen wird, wie nach einem Schwangerschaftsabbruch oder dem Tod einer geschiedenen Partnerin. Auch gewisse psychiatrische Erkrankungen wie eine Schizophrenie oder eine Borderline-Störung begünstigen eine komplizierte Trauer. Wenn der Trauerprozess in unverminderter Intensität über mehr als sechs Monate anhält, der Trennungsschmerz als so intensiv wahrgenommen wird, dass die alltägliche Routine dadurch nennenswert beeinträchtigt ist und die Einsamkeit nach dem Verlust des geliebten Menschen kaum ausgehalten wird, wenn es zu einer emotionalen Taubheit kommt und das eigene Leben ohne die verstorbene Person als unerfüllt und bedeutungslos wahrgenommen wird, soll an das Vorliegen einer komplizierten Trauer gedacht werden und eine professionelle psychotherapeutische Beratung vermittelt werden. Auch anhaltende Schuldgefühle, Suizidgedanken, eine extreme Hoffnungslosigkeit, eine unkontrollierbare Wut auf andere Menschen sowie nach dem Verlusterlebnis auftretender Missbrauch von Alkohol oder Medikamenten soll Anlass sein, an eine komplizierte Trauer und somit an eine Überweisung in eine fachärztliche Sprechstunde zu denken [15].

Zusammenfassung

• Abschiede von geliebten Mitmenschen sind ein integraler Bestandteil jedes Lebens; Trauer ist in der überwiegenden Mehrheit der Fälle eine physiologische Reaktion auf einen Verlust.
• Die Bewältigungsarbeit in einem normalen Trauerprozess ist charakterisiert durch einen Wechsel von Verlust- und Wiederherstellungsorientiertheit.
• Hinterbliebene schätzen es in der Regel, wenn sie nach dem Tod ihres geliebten Mitmenschen proaktiv von der Ärztin oder Pflegefachperson ihres Vertrauens auf den Verlust angesprochen, in ihrer Trauer verstanden und unter Umständen auch unterstützt und begleitet werden.
• Die Art der Kontaktaufnahme mit der trauernden Person (Telefongespräch, Hausbesuch, Kondolenzschreiben) ergibt sich aus der jeweils individuellen Beziehung.
• Eine bewusste Gestaltung des Abschieds unter Umständen auch in Form von Ritualen erleichtert vielen Hinterbliebenen den Umgang mit dem Verlusterlebnis und schafft Vertrauen und Sicherheit für die Zukunft.
• Auf die Selbstsorge von Gesundheitsfachpersonen im Kontext von Verlusterlebnissen und Trauerprozessen ist ein besonderes Augenmerk zu richten (Supervision, Balint-Gruppen).
• Menschen mit einem komplizierte Trauerverlauf sind zeitgerecht einer fachpsychologischen oder fachpsychiatrischen Behandlung zuzuführen.
PD Dr. med. Klaus Bally
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel
Kantonsspital Baselland 
Rheinstrasse 26
CH-4410 Liestal
klaus.bally[at]unibas.ch
1 Boss P. Da und doch so fern. Rüffer & Rub. 2014.
2 Schärer-Santschi E. Trauer in Palliative Care: Wie können Fachpersonen trauernde Menschen hilfreich begleiten? Pallitaive.ch 2/2013:6–9.
3 Steptoe A, Shankar A, Demakakos P, Wardle J. Social isolation, loneliness, and all-cause mortality in older men and women. Proc Natl Acad Sci U S A. 2013 Apr 9;110(15):5797–801.
4 Stroebe M, Schut H, Stroebe W. Health outcomes of bereavement. Lancet. 2007 Dec 8;370(9603):1960–73.
5 Barclay S. Palliative care of non-cancer patients: a UK perspective from primary care. In: Higginson I, Addington-Hall J, editors. Palliative care for non-cancer patients. Oxford: Oxford University Press; 2001. pp. 172–188.
6 Charlton R, Dolman E. Bereavement: a protocol for primary care. Br J Gen Pract. 1995 Aug;45(397):427–30.
7 Main J. Improving management of bereavement in general practice based on a survey of recently bereaved subjects in a single general practice. Br J Gen Pract. 2000 Nov;50(460):863–6.
8 Mazza D. Bereavement in adult life. GPs should be accessible, not intrusive. BMJ. 1998 Aug 22;317(7157):538–9.
9 Lemkau JP, Mann B, Little D, et al. A questionnaire survey of family practice physicians’ perceptions of bereavement care. Arch Fam Med. 2000;9(9):822–829.
10 Makarem M, Mohammed S, Swami N, Pope A, Kevork N, Krzyzanowska M, Rodin G, Hannon B, Zimmermann C. Experiences and Expectations of Bereavement Contact among Caregivers of Patients with Advanced Cancer. J Palliat Med. 2018 Aug;21(8):1137–44.
11 Cartwright A. The role of the general practitioner in helping the elderly widowed. J R Coll Gen Pract. 1982 Apr;32(237):215-27
12 Saunderson EM, Ridsdale L. General practitioners’ beliefs and attitudes about how to respond to death and bereavement: qualitative study. BMJ. 1999;319(7205):293-296. doi:10.1136/bmj.319.7205.293
13 Schärer-Santschi E. Abschiedskultur in Palliative Care. In Steffen-Bürgi B et al. Lehrbuch Palliative Care; Hogrefe Verlag:459–68.
14 Stroebe, M. S., & Schut, H. (2001). Models of coping with bereavement: A review. In M. S. Stroebe, R. O. Hansson, W. Stroebe, & H. Schut (Eds.), Handbook of bereavement research: Consequences, coping, and care: 375–403.
15 Znoj H. Komplizierte Trauer. Hogrefe Verlag 2. überarbeitete Auflage 2016.