Mobile Palliativdienste

Ambulante Intensivstationen mit Fokus auf Lebensqualität

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2021/10
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10449
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(10):319-320

Affiliations
Freie Journalistin BR, Köniz BE

Publiziert am 06.10.2021

Im Kanton Bern haben sich ambulante und stationäre Gesundheitsdienst­leister:innen in einem Modellversuch zu spezialisierten mobilen Palliativdiensten (MPD) zusammengeschlossen. Sie sollen die Behandlung schwerkranker und ­sterbender Menschen in deren jeweiligen Versorgungs-Settings stärken und zu ­Best-Practice-Lösungen führen.

Am Lebensende wird es für manche Menschen, die mit Palliative Care betreut werden, noch einmal hektisch. Wenn sich ihr Zustand verschlechtert und instabil wird, sind die Symptome häufig so komplex, dass sie hohe Ansprüche an die Behandlung stellen. Oft werden diese Patient:innen deshalb als Notfall in ein Akutspital eingeliefert. Für sie und ihre Angehörigen bedeutet dies eine zusätzliche Belastung in einer Zeit, in der ohnehin schwierige Entscheide betreffend allfälliger weiterer Therapien und der Gestaltung des Lebensendes anstehen.
Um die palliative Betreuung im Kanton Bern zu verbessern, wurden letztes Jahr die spezialisierten mobilen Palliativdienste (MPD) ins Leben gerufen. Sie sind in fünf Regionen tätig und setzen sich aus Pflegefachpersonen mit Tertiärausbildung sowie Ärztinnen und Ärzten zusammen, die alle Expert:innen in Palliative Care sind. Die MPD treten dann auf den Plan, wenn die Grundversorger – Hausärztinnen und -ärzte, Onko­log:innen, Spitex-Organisationen und Pflegefach­personen in Langzeiteinrichtungen – fachlich oder zeitlich am Limit sind. Als starkes, tragfähiges und interdisziplinäres Netzwerk mit einem 24/7-Bereitschaftsdienst bieten sie schwerkranken und sterbenden Menschen eine kontinuierliche Betreuung an. Dies tun sie im jeweiligen Versorgungs-Setting der Betroffenen, sagt Steffen Eychmüller. Er ist der ärztliche Leiter des Universitären Zentrums für Palliative Care der ­Insel Gruppe und des MPD Bern-Aare, wo er für die Stadt und Region Bern sowie das östliche Oberland zuständig ist. «Unsere Fachpersonen folgen den Patient:innen, nicht umgekehrt. Diese können so länger daheim oder in einer Langzeiteinrichtung bleiben. Denn unnötige Spitaleintritte lassen sich verhindern, wenn ausgebildete Fachleute zur Stelle sind. Erforderliche Hospitalisationen wiederum können besser geplant werden, erfolgen mit einer klareren Zielsetzung und dauern weniger lange.»

Zu den Personen

Prof. Dr. med. Steffen Eychmüller, ärztlicher Leiter des Universitären Zentrums für Palliative Care der ­Insel Gruppe und des MPD Bern-Aare.
Georgette Jenelten, Teamleiterin MPD bei der Spitex Bern und pflegerische Leiterin des MPD Bern-Aare.

Vor allem in der «zweiten Interventions­linie» tätig

Die MPD wurden von der Gesundheits-, Sozial- und ­Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI) in einem dreijährigen Modellversuch als sogenannte «zweite ­Interventionslinie» mit der Aufgabe betraut, bei der Betreuung von Menschen in der letzten Lebensphase beratend und unterstützend mitzuwirken. Ihre Hauptansprechpersonen sind die Grundversorger:innen. In Absprache mit diesen sind die Fachpersonen der MPD zudem in «Bedside-Teachings» beratend vor Ort tätig. Manche Patient:innen werden auch direkt von diesen betreut. Gefragt sind die MPD bei der Linderung von physischen Beschwerden, bei medizintechnischen ­Verrichtungen, in psychosozialen oder spirituellen ­Krisensituationen sowie bei schwierigen Entscheidungsfindungen. «Die MPD sind eine Art ambulante ­Intensivstation mit Schwerpunkt Lebensqualität», bringt es Georgette Jenelten auf den Punkt. Sie ist Teamleiterin MPD bei der Spitex Bern und die pflegerische Leiterin des MPD Bern-Aare.
Die persönlichen Kontakte mit den Patient:innen und den Akteur:innen der Grundversorgung seien für den Erfolg des Modellversuchs wesentlich, sagt Georgette Jenelten. «Wenn wir vor Ort sind, lernen uns die Patient:innen sowie ihre Angehörigen, aber auch die Spitex-Mitarbeitenden, die Hausärztinnen und -ärzte sowie weitere involvierte Fachpersonen schon einmal kennen. Diese Beziehung schafft das Vertrauen, das ­nötig ist, damit man uns bei Komplikationen mitten in der Nacht anruft.»

Fallbeispiel

Der Patient ist 58 Jahre alt und lebt mit seiner Ehefrau, einer Pflegefachfrau, in einem Einfamilienhaus in ­einer ländlichen Gegend im Kanton Bern. Bei ihm wurde 2019 eine bösartige Lungenerkrankung diagnostiziert. Bis vor ungefähr einem Jahr benötigte er keine Unterstützung, dann aber ging es ihm schlechter. Er litt ­unter schwer zu kontrollierenden Schmerzen und ­drohender Paraplegie durch fortschreitende Veränderungen an der Wirbelsäule. Der Patient wurde im Spital operiert, doch die Aussicht auf Heilung war nicht mehr gegeben. So empfahl ihm eine Palliativärztin des Spitals den MPD. Eine der MPD-Pflegefachfrauen besuchte den Patienten und seine Ehefrau kurze Zeit später zuhause. Sie lernten einander kennen und hatten durch den frühen Einbezug der Pflegefachfrau Zeit, die künftige Pflege, Wünsche und Bedürfnisse zu besprechen. Im Laufe der Zeit wurde der Patient immobiler, weshalb das Ehepaar einen privaten Pflegedienst für Grundpflege und Hauswirtschaft engagierte. Die Spitex-Mitarbeitenden lernten vom MPD, wie sie die notwendig gewordene Schmerzmittelpumpe bedienen und betreuen können. Nebst dem MPD und der Spitex ­gehört ein Hausarzt zum Betreuungsnetz des Patienten. Er visitiert den Patienten meist gemeinsam mit der Pflegefachfrau des MPD.

PROAKTIV – eine Studie über ­gesundheitliche Vorausplanung

Das Fallbeispiel stammt von der Pflegefachfrau BSc Nursing Marina Maier. Im Rahmen ihrer Arbeit als Koordinatorin der PROAKTIV-Studie und ihrer Masterarbeit im Studiengang MSc Nursing der Berner Fachhochschule hat sie Interviews mit ­Betroffenen durchgeführt. proaktivstudie.ch

Integrierte Versorgung

Mit ihren «Bedside-Teachings» sowie Fort- und Weiterbildungen bauen die MPD fachliches Know-how bei den Grundversorger:innen auf und vernetzen diese untereinander. Gleichzeitig entlasten die MPD die Grundversorgung dadurch, dass die Übergänge zwischen stationärer und ambulanter Behandlung und der Langzeitpflege begleitet werden und so als Drehscheibe zwischen den verschiedenen Schnittstellen im Gesundheitssystem agieren können. «Gerade Hausärztinnen und Spezialärzte wie Onkologen sind so stark in ihre Sprechstunden eingebunden, dass ihnen kaum Zeit für die oft kurzfristige Koordination der Schnittstellen bleibt», sagt Georgette Jenelten.

Regelfinanzierung für MPD wird geprüft

Die GSI verfolgt mit den MPD mehrere Ziele. So soll ­einerseits der Bedarf an MPD im Kanton geklärt und deren Nutzen evaluiert werden. Aus dem Modellversuch soll wenn möglich eine Best-Practice-Lösung für urbane und ländliche Regionen eruiert werden. Weil die regulären Tarifsysteme keine Leistungen der «zweiten Interventionslinie» abgelten, ist weiter die Aus­arbeitung einer Regelfinanzierung vorgesehen. Georgette Jenelten und Steffen Eychmüller hoffen beide, dass ­dafür Leistungspakete gebildet werden, die auch den teuren, aber essenziellen 24/7-Bereitschaftsdienst ­berücksichtigen. Derzeit verrechnen die MPD ihre Zweitliniendienstleistungen dem Kanton. Die direkte Betreuung von Klient:innen wird hingegen über die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) abgegolten.
Dieser Text ist die gekürzte Version eines Beitrags, der im «Spitex Magazin» 2/2021 erschienen ist. Die vollständige Fassung finden Sie auf www.spitex.ch. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Spitex Schweiz.
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