Schnittstellenprobleme und ­kritische Zwischenfälle in der Praxis

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2021/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10618
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(12):412-413

Publiziert am 30.11.2021

Wo unterschiedliche Dokumentations- und Kommunikationsmedien aufeinandertreffen, sind Schnittstellenprobleme und Fehler nicht weit weg. Anhand von drei Schweizer Datenquellen mit 371 kritischen Zwischenfällen fanden sich ursächlich in 31% Schnittstellenprobleme; am häufigsten involviert waren Spital, Heim, Spezialist:in, Apotheke und Spitex. Das Bewusstsein um das Problem sollte einerseits Anlass zu besonderer Sorgfalt bei der Zusammenarbeit geben, andererseits soll in den Praxen eine Fehlerkultur aufgebaut werden.

Einleitung

In einem Drittel relevant für die Entstehung kritischer Zwischenfälle
Schnittstellenprobleme gibt es überall, wo Dokumentations- oder Kommunikationsmedienbrüche vorhanden sind. Diese können innerhalb von Institutionen auftreten oder auch – und vor allem – beim Übertritt von einer Institution in eine andere.
Um die Schnittstellenproblematik in der allgemeininternistischen und pädiatrischen Praxis mit Schweizer Daten beleuchten zu können, betrachten wir hier die Fälle aus dem CIRS (Critical Incident Reporting System) des Kollegiums für Hausarztmedizin (KHM, 2003 bis 2017) resp. der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) und pädiatrie schweiz (ab 2017). Zudem lassen wir die Daten aus der Medikationszwischenfälle-Studie des Sentinella-Meldesystems (2015) einfliessen [1].

Resultate

Im alten System des KHM (2003 bis 2017) wurden 75 Fälle erfasst. Die Patientendaten werden in Kasten 1 präsentiert. Schnittstellenprobleme wurden nicht explizit erfragt, bei der Durchsicht der Fälle fanden sich die folgenden Nennungen: 6x Spezialist:in, 3x Heim, 2x Spital, 1x Apotheke, 1x Arzt-zu-Arzt in eigener Praxis.
Ab Sommer 2017 wurde explizit nach Schnittstellenproblemen gefragt; in 22 von 99 Fällen (22%) wurden solche genannt. Sie lauteten: 12x Spezialist:in, 9x Heim, 5x Spital, 5x andere, 3x Behörden, 2x Apotheke, 1x Spitex, 1x Arbeitgeber. In der Sentinella-Studie [1] zu den Medikationszwischenfällen wurde ein Schnittstellenproblem in 64 von 197 Fällen bejaht (32%). Die Nennungen betrafen 28x Spital, 14x Heim, 9x Apotheke, 6x Spitex, 4x andere, 3x Spezialist:in. Fasst man alle drei Datenquellen zusammen, fanden sich Schnittstellenprobleme in 115 von 371 Fällen (31%). Bei allen drei Datenquellen handelte es sich um Meldungen von Haus- und Kinderärzten. Die Abbildung 1 stellt die Häufigkeit der Nennungen über alle drei Quellen zusammen.
Abbildung 1:
Nennung von Schnittstellenproblemen von 2002–2021 (115 von 371 Fällen, 31%).

Interpretation

Schnittstellenprobleme sind in etwa einem Drittel der Fälle relevant in die Entstehung von kritischen Zwischenfällen in der ambulanten haus- und kinderärztlichen Praxis involviert. Über die absolute Häufigkeit von derartigen Ereignissen können Meldesysteme keine Auskunft geben, da viele Zwischenfälle unentdeckt bleiben (non-detection bias) und auch bemerkte Ereignisse häufig nicht oder nur die «spektakulärsten» davon gemeldet werden (non- or selective reporting). So beschränken wir uns hier auf die Interpretation der relativen Häufigkeit innerhalb der Meldesysteme.
Die fünf häufigsten Nennungen waren: Spital, Heim, Spezialist:in, Apotheke und Spitex. Solange Medienbrüche vorhanden sind, werden sich Schnittstellenprobleme nie vollständig vermeiden lassen. Die erste Massnahme muss deshalb sein, dass wir praktizierenden Ärztinnen und Ärzte uns des Problems bewusst werden, und bei der Zusammenarbeit mit den genannten Institutionen/Personen besondere Sorgfalt walten lassen. So wäre es weise, vom Altersheim zu verlangen, dass die Medikationsliste beim Spitalaustritt dem/der Haus- respektive Heimarzt/-ärztin vorgelegt wird, bevor die Medikamente in der Apotheke bestellt und eingesetzt werden. Ideal wäre zudem, wenn der provisorische Austrittsbericht bereits einen Tag vor dem Spitalaustritt vorliegen würde. Viele Probleme resultierten aus missverständlicher mündlicher oder handschriftlicher Kommunikation. Es wäre sinnvoll und fehlerreduzierend, in schriftlicher und lesbarer Form zu kommunizieren. Zugriff auf die Informationssysteme der umliegenden Spitäler oder der von uns betreuten Heime könnte auch helfen. Die Verwendung des «e-Mediplans», eines einheitlichen Datenformats auf Papier mit QR-Code, könnte viele Abschreibfehler vermeiden.
Unsere Praxen sollten eine Fehlerkultur etablieren und einen ärztlichen Mitarbeitenden als CIRS-Verantwortlichen definieren, der ein CIRS-Journal der Praxis führt, das an der Teamsitzung besprochen wird und allenfalls zum Austausch der Fälle innerhalb von Qualitätszirkel, Netzwerk oder nationalem CIRS (SGAIM, pädiatrie schweiz) dient.

Kasten 1: Zusammenstellung der KHM-Daten 2002–2017

Die Altersverteilung war: 0–20: 8%, 21–60: 36%, >60: 53%, fehlend: 3%. 55% waren männlich. Der potenzielle Gefährdungsgrad der Patient:innen wurde folgendermassen abgeschätzt: minimal, keine Massnahmen nötig 3%; geringer Schaden aber Vertrauensverlust 39%; mittelschwer, Massnahmen/Überwachung notwendig 41%; schwer, lebensbedrohlich, bleibender Schaden 14%; fehlend 3%. Als hauptsächlicher Kontext des Zwischenfalls wurde angegeben: Analyse 7%, Diagnostik 17%, invasive Prozeduren 20%, Monitoring/Pflege 12%, Medikation 15%, Information 26%, andere 3%. Als auslösender Trigger wurde genannt (Mehrfachantwort): Kommunikation 5%, Ausbildung 3%, Mit­arbeiterfaktoren 38%, Teamfaktoren 21%, Praxisorganisation 23%, Patientenfaktoren 2%, Technik 1%, Medikation 2%, andere 5%.
Dr. med. Markus Gnädinger
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
Birkenweg 8
CH-9323 Steinach
markus.gnaedinger[at]hin.ch
1. Gnädinger M, Conen D, Herzig L et al: Medications incidents in primary care medicine: a prospective study in the Swiss Sentinel Surveillance Network (Sentinella). BMJ open 2017; 7: e013658.