Chancen und Gefahren der ­Fragmentierung in der Medizin

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2021/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10619
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(12):410-411

Publiziert am 30.11.2021

Die medizinische Behandlung unserer Patient:innen hat sich in den letzten Jahrzehnten fundamental geändert. Mit dem Fortschreiten der technologischen Entwicklungen, der neuen diagnostischen und therapeutischen Optionen sind auch vormals unheilbare Erkrankungen behandelbar oder können sogar geheilt werden. Der fortschreitende Erfolg in der modernen und zunehmend individualisierten Medizin führt dazu, dass Fachspezialist:innen sich zunehmend in (Teil-)Bereiche ihres Spezialgebietes vertiefen müssen, um in Diagnostik und Behandlung auf dem neusten Stand zu sein. 

Betreuung multimorbider Patient:innen im Fokus

Einleitung

Die medizinische Behandlung unserer Patient:innen hat sich in den letzten Jahrzehnten fundamental geändert. Mit dem Fortschreiten der technologischen Entwicklungen, der neuen diagnostischen und therapeutischen Optionen sind auch vormals unheilbare Erkrankungen behandelbar oder können sogar geheilt werden. Der fortschreitende Erfolg in der modernen und zunehmend individualisierten Medizin führt dazu, dass Fachspezialist:innen sich zunehmend in (Teil-)Bereiche ihres Spezialgebietes vertiefen müssen, um in Diagnostik und Behandlung auf dem neusten Stand zu sein. Diese zunehmende Hochspezialisierung übersetzt sich nicht direkt in die Anzahl Fachtitel oder Schwerpunkten im Schweizer Gesundheitswesen [1] sondern findet informell innerhalb der Fachbereichen statt und beeinflusst nachhaltig die Versorgung unserer Patient:innen im Spital und in der Hausarztpraxis. Je mehr Fachpersonen in die Behandlung eingebunden sind, umso mehr Schnittstellen gibt es, die beachtet werden müssen [2]. Schnittstellen im Gesundheitssystem beinhalten unter anderem die Gefahr von Informationsverlust und inadäquaten Zeitintervallen, bis eine nachfolgende Behandlung übernommen wird [3–5]. Es ist zudem wichtig zu erkennen, dass die Gefahr besteht, den direkten Austausch mit den Patient:innen zugunsten einer immer detaillierteren Datensammlung zu vernachlässigen [6].

Eine Chance für die AIM

Die OECD beschreibt in Ihrem Bericht zum Schweizerischen Gesundheitswesen die Betreuung chronisch kranker und multimorbider Patient:innen als wichtigste Herausforderung und empfiehlt, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern [7]. Die Hochspezialisierung und zunehmende Fragmentierung in der Patient:innenbehandlung ist – auch wenn dies auf den ersten Blick paradox erscheint – eine grosse Chance für die Allgemeine Innere Medizin (AIM) in Spital und Hausarztpraxis. Mit den Kernwerten einer umfassenden, patientenzentrierten und individualisierten Patient:innenbehandlung kommt den Ärzt:innen der AIM eine zentrale Rolle zu, uns zum Wohle unserer Patient:innen einzusetzen [8]. Dies hat auch die Politik erkannt und im Rahmen der vom BAG betriebenen Plattform «Zukunft ärztliche Bildung» [9] werden ­Lösungsansätze diskutiert, die die AIM stärken sollen. Die Kernherausforderung für die Ärzt:innen der AIM im Kontext der hochspezialisierten Medizin ist es, stets eine hochstehende und breite Fachkompetenz zu erhalten, damit wir mit den Fachspezialist:innen auf Augenhöhe diskutieren und unsere Patient:innen beraten können. Der Bund ortet zudem im Bereich der Behandlungsqualität ein grosses Verbesserungspotential [10], was für die AIM eine weitere Chance ist. Die in der AIM tätigen Ärzt:innen setzen sich seit Jahren an der Basis (bottom up) und in ihren Fachverbänden aktiv für eine Qualitätsverbesserung in der Behandlung ihrer Patient:innen ein [11]. Die Stärken der AIM sind von grosser Wichtigkeit, vor allem bei multimorbiden Patient:innen.
Die Breite unseres Fachs, die abwechslungsreichen Tätigkeiten und eine befriedigende Arbeit mit Patientenkontakten sind grosse Motivatoren für junge und ambitionierte Kolleg:innen, diese Fachrichtung zu wählen [12, 13]. Es ist entscheidend, dass Vorbilder und Mentor:innen in der AIM junge Kolleg:innen für unser Fach interessieren und begeistern [14]. Eine grosse Herausforderung ist es, die Faktoren, die die Ausübung unseres Berufs unnötig belasten, proaktiv zu reduzieren. Im Vordergrund stehen hier ineffektive Klinik- und Praxisinformationssysteme, der zunehmende Zeitdruck bei Effizienzsteigerungen und eine hohe administrative Last [15, 16].

Kernstrategien zur Positionierung der AIM

Bereits im Jahre 2004 hat die Society of General Internal Medicine in den USA ein Arbeitspapier publiziert, das noch heute aktuell und lesenswert ist [8]. Mit folgenden Kernstrategien soll die AIM sich innerhalb der zunehmenden Fragmentierung positionieren und einen Innovationsschub auslösen: Konzentration auf die Kernwerte, Anpassen an die Wechsel im Umfeld, Kommunikation und Fachexpertise.
  • Die Konzentration auf die Kernwerte der AIM beinhaltet die Expertise in der patientenzentrierten, umfassenden und longitudinalen Behandlung erwachsener Patient:innen. Die AIM beinhaltet eine breite und tiefe evidenzbasierte Fachexpertise, um einfache sowie komplexe Behandlungen bei akuten und chronischen, komplexen Erkrankungen zu erbringen und/oder zu supervisieren. Weiter ist die AIM in der Qualitätsverbesserung und Prävention engagiert und koordiniert verschiedene Gesundheitssysteme.
  • Anpassen an die Wechsel im Umfeld: Die AIM sollte sich Veränderungen der Rahmenbedingungen (z.B. bei der Informationstechnologie) zunutze machen, um die Partnerschaft mit Patient:innen sowie die Selbstverantwortung der Patient:innen zu verbessern.
  • Kommunikation: Kernkompetenz der AIM ist eine aussergewöhnliche Kommunikationsfähigkeit und die Fähigkeit eine Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen und zu erhalten. Die AIM sollte eine führende Rolle einnehmen in der Kommunikation und Kollaboration mit Patient:innen. Dazu können auch neue Kommunikations- und Informationstechnologien helfen und neue Möglichkeiten eröffnen.
  • Fachexpertise: Die Kernkompetenz der AIM ist die intellektuelle Stringenz, ein Informationsmanagement sowie das lebenslange Lernen. Die Fort- und Weiterbildung sollte breit sein und dazu dienen, sich neue Fertigkeiten in verschiedenen, auch nicht medizinischen Bereichen anzueignen.
Verschiedene der oben erwähnten Punkte wurden in der Aus- und Weiterbildung unseres AIM Nachwuchses bereits initiiert oder sind in Planung. Einige Beispiele werden genannt, ohne die vielen und qualitativ hochstehenden Programme und Initiativen schweizweit abschliessend darstellen zu können. In einer zunehmend fragmentierten Weiterbildung, können Mentoring-Programme Studierende schon frühzeitig und individualisiert beraten. Das Berner Curriculum für Hausarztmedizin ist ein einmaliges Beispiel bei dem das Berner Institut für Hausarztmedizin (BIHAM) und die Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin des Inselspitals Bern gemeinsam Studierende und Assistenzärzt:innen beraten, um die Weiterbildung besser abzustimmen [17].
Neben Initiativen in Lehre und Weiterbildung, wurde in Forschungsprojekten wissenschaftlich untersucht, über welche Kompetenzen Schweizer Fachärzte der AIM im Spital verfügen müssen, um als Oberärzt:innen den Herausforderungen gewachsen zu sein [18]. Die Resultate der Studie werden bald publiziert und ein aus dem Projekt entstandener, preisgekrönter Leitfaden ist seit Kurzem verfügbar [19]. Der Leitfaden behandelt verschiedene Themen, die für junge Spitalinter­nist:innen sehr herausfordernd sein können und ­während der Weiterbildung oft nicht formell gelehrt werden. Attraktive Karriereoptionen sind ein weiteres wichtiges Mittel unserem Nachwuchs aufzuzeigen, wie vielfältig und attraktiv die Möglichkeiten in der AIM sind.
Zentral ist, dass systematisch in das Skillset investiert wird. Die Sonografie des Abdomens ist in der AIM ein wichtiges diagnostisches Tool. Nachdem es zunehmend schwierig wurde, während der Assistenzzeit eine Weiterbildung in der Abdomensonografie zu erlangen, gibt es auch in diesem Bereich Bewegung. Mit dem neuen Schweizerischen Lernzielkatalog Humanmedizin «PROFILES» [20] sollen Studierende bereits an ihrem ersten Arbeitstag als Assistenzärzt:innen häufige medizinische Situationen meistern können. Unter der Federführung des BIHAMs setzte sich die Medizinische Fakultät der Universität Bern zum Ziel, dass alle Studierenden die Basisfähigkeiten in praktischer Sonografie erlernen [21]. Zudem haben sich die Breite und auch die Aufgabenstellung an die Sonografie verändert. Spezifische Fragestellungen können durch die Point of care-Ultraschallmethode (POCUS) fokussierter und effizienter beantwortet werden. Die SGAIM hat sich zum Ziel gesetzt, die Ultraschallfertigkeit in ihr Weiterbildungscurriculum aufzunehmen [22]. Viele weitere Beispiele von Kolleg:innen in der Praxis und im Spital können nicht erwähnt werden, sind aber ein Ausdruck des Aufbruchs in der AIM.

Zusammenfassung

Zusammenfassend bietet die zunehmende Spezialisierung und damit auch Fragmentierung in der Patientenbehandlung eine grosse Chance für die AIM. Es ist die Kernkompetenz der AIM, eine patientenzentrierte Behandlung zu erbringen. Gerade bei multimorbiden Patient:innen stellen Fachärzt:innen der AIM sicher, dass medizinisch relevante Faktoren in der Entscheidung berücksichtigt und mit den Patient:innen diskutiert werden.
Prof. Dr. med. Maria Wertli
Leitende Ärztin
Universitätsklinik für ­Allgemeine Innere Medizin,
Inselspital Bern
Präsidentin Qualitäts­kommission der SGAIM
Freiburgstrasse 16p
CH-3010 Bern
Maria.Wertli[at]insel.ch
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17 Das Berner Curriculum für Allgemeine Innere Medizin. 2021 [cited 2021 October 24]; Available from: https://www.bernercurriculum-aim.ch/de/
18 . Innovationen in Medical Education in Allgemeiner Innerer Medizin (AIM). 2018 [cited 2021 October 24]; Available from: https://www.sgaim.ch/de/forschung/sgaim-foundation/ausschreibung-20182019.html
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20 . Principal Relevant Objectives and Framework for Integrated Learning and Education in Switzerland. 2017 [cited 2021 October 24]; Available from: https://www.profilesmed.ch/
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22  Der neue Fähigkeitsausweis POCUS. Schweiz Arzteztg. 2018;99(16):506–7. http://dx.doi.org/10.4414/saez.2018.06507 Crossref reports that this reference lacks individual authors. (Ref. 22 "Knoblauch, et al., 2018")