Schnittstellen und Kooperation von interdisziplinären und interprofessio­nellen Teams in der Medizin

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2021/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10620
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(12):406-409

Publiziert am 30.11.2021

Im Rahmen der heute zunehmenden Multimorbidität und der breit gefächerten spezialisierten Medizin ist der Beizug von Ärzt:innen sowie Therapeut:innen verschiedener Fachdisziplinen für die Behandlung vieler Patient:innen sozusagen zum Normalfall geworden. Eine zuverlässige Zusammenarbeit von interdisziplinären und interprofessionellen Teams ist ein zentraler Faktor dafür, dass unsere moderne Medizin für einen bestimmten Patienten erfolgreich sein kann. 

Eine systemische Reflexion
Im Rahmen zunehmender Multimorbidität und einer immer weiter spezialisierten Medizin ist der Beizug von Fachpersonen verschiedener Disziplinen für die Behandlung vieler Patient:innen sozusagen zum Normalfall geworden. Eine zuverlässige Zusammenarbeit von interdisziplinären und interprofessionellen Teams ist ein zentraler Faktor für den Erfolg einer Therapie. Trotzdem bleibt es unter den involvierten ambulanten und stationären Instanzen oft bei einem losen «Nebeneinander» ohne das Wissen «Voneinander», und somit ergibt sich nicht eine wirkliche strukturelle Team-Kooperation, sondern bestenfalls eine fachliche Arbeitsteiligkeit. Die Kommunikation unter ihnen erfolgt meist rein schriftlich via Anmeldeformular und Bericht. Gerade in komplexen Situationen von multimorbiden Patient:innen kann durch eine solche lose Hand­habung der Schnittstellen der Blick für das Ganze verloren gehen – Stichwort «fragmentierte Medizin» – und zur Quelle für medizinische Irrwege werden. Eine besondere Problematik ergibt sich, wenn – häufiger als geahnt – zusätzliche Therapeut:innen, von denen nur der/die Patient:in weiss, involviert sind und somit ­verdeckt Einfluss auf den therapeutischen Prozess ausüben.
In diesem Artikel wollen wir betrachten, wie es zu dieser Diskrepanz von Notwendigkeit und Wirklichkeit kommt. Unter der Annahme, dass alle therapeutischen Instanzen gegenseitig bekannt sind, stellen wir Arbeitsteiligkeit und Team-Kooperation einander gegenüber. Wir legen dar, wie das heute übliche arbeitsteilige Schnittstellen-Management mit unserem medizinischen Weltbild zusammenhängt, und welchen Stellenwert die Kooperation für einen erfolgreichen per­sonenbezogenen therapeutischen Prozess hat. Wir machen uns Gedanken dazu, wie eine wirkliche Zusammenarbeit im stationären und ambulanten Bereich und die Pflege der Schnittstellen zwischen diesen gestaltet werden kann. Beginnen wir mit einem Fallbeispiel.

Ein krankheitsorientierter Blick und eine arbeitsteilige «Kooperation»

Fallvignette 

Denken wir an eine Patientin in ihren 70ern, eine ehemalige Raucherin mit Adipositas, Diabetes mellitus Typ 2, Hypertonie, Hyperlipämie und Anstrengungsdyspnoe. Während vieler Jahre wird sie regelmässig vom Hausarzt, Diabetologen, Pneumologen und Kardiologen behandelt. Klinisch und spirometrisch findet sich eine COPD, die Ergometrie ist unauffällig. Jede der Diagnosen wird mit zeitgemässen Möglichkeiten medikamentös optimal behandelt. Die Patientin nimmt regelmässig an einem therapeutischen Trainingsprogramm teil und bemüht sich auch sonst um regelmässiges körperliches Training. Periodisch finden Kontrolluntersuchungen bei den diversen Spezialisten und beim Hausarzt statt. Das Befinden der Patientin ist gut. Sie kann ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten. Die klinischen Messwerte sind in einem befriedigenden Rahmen. Die Patientin und die involvierten Ärzte sind zufrieden. Die Kontakte unter den beteiligten Therapeuten in Praxis und Spitalambulatorium erfolgen, wie allgemein üblich, durch unilateralen Austausch von Daten und Informationen mit schriftlichen Berichten. Ein interaktiver Austausch zwischen den beteiligten Instanzen oder gar einer Helferkonferenz mit Einbezug der Patientin und ihres Ehemanns findet nicht statt. Alles läuft standardmässig gut. Eine Verschlechterung der Atemsituation bei körperlicher Anstrengung ohne Brustschmerzen wird von der Patientin, trotz Besorgnis ihres Ehemanns, während längerer Zeit nicht als bedrohlich betrachtet und keinem der Ärzte gemeldet, bis es plötzlich zu einer schweren Atemnot-Krise kommt. Bei der Ankunft auf dem Notfall erleidet die Patientin einen Herzstillstand. Die Reanimationsmassnahmen bleiben erfolglos. Nach einigen Monaten wendet sich der trauernde Ehemann an den Hausarzt. Er ist enttäuscht von den Ärzten und quält sich mit der Frage, warum man bei seiner Ehefrau mit ihrem hohen kardialen Risikoprofil nie eine Koronar-Computertomografie gemacht habe.

Diagnosezentrierte Arbeitsteiligkeit ­versus personenorientierte Kooperation

Alle in den Therapieprozess involvierten Instanzen ­haben – mit ihrem jeweiligen diagnosefokussierten spezialfachlichen Blick und im Rahmen der üblichen ­Arbeitsteiligkeit mit gegenseitiger brieflicher Information – in ihrem jeweiligen Fachgebiet «richtig gehandelt». Damit könnte dieser Artikel bereits zu seinem Ende gekommen sein.
Doch die Reaktion des Ehemanns der verstorbenen Patientin löst einige kritische Fragen aus: Konnten die therapeutisch Beteiligten mit ihrem arbeitsteiligen Austausch ein umfassendes medizinisches Gesamtbild der Patientin erhalten und ein gemein­sames fachliches Problemverständnis und Ziele/Lösungsansätze für ein koordiniertes Vorgehen entwickeln? Konnten sie die Patientin mit ihren Symptomen, ihrem Lebenskontext und ihren Bedürfnissen genügend verstehen, und sie und ihren Ehemann angemessen über die gesundheitliche Situation mit ihren Risiken informieren? Konnten sie unter allen Beteiligten eine gemeinsame Basis schaffen, um über mögliche Interventionen mit Nutzen und Risiko ­sowie Verlaufsmöglichkeiten und Verhaltensmassnahmen in Krisensituationen zu sprechen und dar­über zu entscheiden, was für die Patientin «das ­Richtige» ist? Dies alles sind Voraussetzungen für eine echte Kooperation mit personenbezogenem Ansatz.
Im geschilderten Fallbeispiel wären durch einen interaktiven Austausch unter allen Beteiligten auf der fachlichen Ebene die pulmonalen und kardialen Anteile der Dyspnoe prominenter diskutiert und gegeneinander abgewogen worden. Die unterschwelligen Fragen der Patientin und ihres Ehemanns betreffend der Notwendigkeit einer vertieften kardialen Abklärung wären explizit in den Entscheidungsprozess eingeflossen. Verhaltensweisen und Verantwortlichkeiten anlässlich einer gesundheitlichen Verschlechterung wären zum Thema geworden.
Ob dadurch das Schicksal der Patientin eine andere Wendung genommen hätte? Das lässt sich nicht sagen. Jedoch wären die Ärzte und die Patientin mit ihrem Ehemann gemeinsam und explizit einvernehmlich unterwegs gewesen. Offene Fragen und Themen wie das erhebliche Risikopotenzial der Gesamtsituation inklusive die Möglichkeit eines plötzlichen Herztodes wären transparent besprochen worden. Die Patientin und ihr Ehemann dürften so wohl besser «empowered» gewesen sein, wie sie sich bei diversen Verschlechterungsmöglichkeiten der Situation verhalten sollen.

Vom mechanistischen und krankheits­fokussierten Denken und Handeln ...

Wir alle waren wahrscheinlich schon in ähnlichen ­Situationen involviert. Sie gehen nicht nur den Patient:innen und ihren Familien nahe, sondern auch uns selbst – und bleiben im Gedächtnis. Wie kommt es trotzdem dazu, dass wir uns weiterhin mit der Arbeitsteiligkeit anstelle einer wirklichen Kooperation begnügen?
Die Medizin ist immer noch weitgehend von einem mechanistischen Verständnis über die Funktionen des menschlichen Körpers geprägt. Dies ist Grundlage unserer medizinischen «Sozialisierung». Es schlägt sich nieder in unserer medizinischen und gesellschaftlichen Vorstellung über Gesundheit, Krankheit und die Wirkungsweise medizinisch-technischer Möglichkeiten aller Art – bestätigt durch eine medizinische Forschung, die ihre Erkenntnisse unter möglichst dekontextualisierten Untersuchungsbedingungen sucht. Das dabei gewonnene fachspezifische Wissen und dessen Anwendungsmöglichkeiten ist für fachfremde Ärztinnen und Ärzte kaum mehr verständlich. Dies fördert die Spezialisierung von uns Ärztinnen und Ärzten, engt unseren Blick auf Teile des Ganzen ein und begünstigt eine Fraktionierung der Medizin. Mit dieser mechanistischen und hochspezialisierten krankheitsfokussierten Sicht auf Teilaspekte der Patient:innen verfolgen wir im Bereich unserer jeweiligen Spezialgebiete einen linearen Prozess vom Symptom/Problem über die Abklärung zur Diagnose und Therapie. Dies alles wirkt sich auch auf unsere Zusammenarbeit aus und begünstigt eine Form der Arbeitsteiligkeit anstelle einer echten Kooperation in einem therapeutischen Team. Bei der Begleitung und Behandlung von multimorbiden Menschen, wo Ärztinnen und Ärzte verschiedener Disziplinen involviert sind, ist jeder von uns mit seinem eigenen Problemverständnis parallel unterwegs. Die Kooperation an den Schnittstellen mit den Kolleginnen und Kollegen erfolgt ebenfalls linear digital mit schriftlicher Mitteilung über die fachspezifischen Belange. Die weiteren Krankheiten finden sich lediglich als Zeilen in einer überlangen Diagnoseliste, um die sich andere Ärztinnen und Ärzte kümmern.
In «einfachen» Situationen kann dieses risikobehaftete «Nebeneinander» ohne strukturierten Fokus auf die Schnitt- und Verbindungsstellen schadlos bleiben. In komplexeren Situationen hingegen kann es früher oder später zu teils irreversiblen Problemen führen als Folge von zum Beispiel ungeeigneten Kombinationen von Medikamenten oder Fehlinterpretationen. Es kann Auslöser sein von wenig zielführenden und ungenügend abgestimmten diagnostischen und therapeutischen Massnahmen und zu Versäumnissen und Fehlern führen – mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen für die Patient:innen. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf Qualität und Kosten.

… zu einer systemischen Sicht auf eine personenorientierte Medizin

Mechanistische Vorstellungen können uns zwar helfen, einfache Funktionsprinzipien von biologischen Systemen zu verstehen. Wir Menschen sind jedoch komplexe Wesen in einem komplexen Kontext. In diesem komplexen Kontext entwickeln sich unsere Gesundheit und Krankheiten und, genau so bedeutsam, unser individuelles Krankheitserleben, unser persönliches Gesund- und Kranksein mit unseren Zielen, Bedürfnissen, Ressourcen und unserer Resilienz. «Dieselbe» Krankheit oder Krankheitskombinationen mit «gleichen» Diagnosen können sich sehr unterschiedlich manifestieren und ein sehr unterschiedliches Kranksein bedeuten mit ganz verschiedenen Bedürfnissen nach Abklärungen und Therapien; viele davon ausserhalb des medizinischen Bereiches. Ein Umstand, der bei multimorbiden Patient:innen einen ganz besonderen Stellenwert bekommen kann.
Wenn sich eine Dysbalance in Bereichen dieses dynamischen Gleichgewichts entwickelt, wir krank werden und ärztliche Hilfe suchen, erweitern wir damit unser herkömmliches Lebenssystem um das Arzt-­Patienten-System.
Umgekehrt, wenn wir als Ärztinnen und Ärzte oder Therapeut:innen von Patient:innen beigezogen werden, werden wir im Rahmen dieses Arzt-Patienten-Systems, ob wir das wollen oder nicht, zu einem Teil des Lebenssystems des Patienten und, falls vorhanden, auch seiner weiteren Arzt-Patientensysteme.
Im Rahmen einer systemischen, komplexen und personenorientierten Sicht auf die Medizin wirkt sich jede therapeutische Handlung, die wir mit dem Patienten beschliessen, auch auf dessen Lebenssystem und ins­besondere auch auf seine weiteren, gleichzeitig statt­findenden therapeutischen Interaktionen aus. Ein ­koordiniertes Zusammenspiel in diesem gesamten therapeutischen Team ist Voraussetzung für einen zielführenden, das Ganze umfassenden Therapieprozess. Ohne Kooperation kann eine komplexe Situation leicht ins Chaos abdriften – mit allen möglichen Risiken.

Kommunikation zwischen kooperierenden Therapiesystemen

Eine interdisziplinäre Kooperation findet an Schnittstellen statt. Diese virtuellen Verbindungen sind hoch sensible Stellen, an denen unterschiedliches berufliches Knowhow, aber auch verschiedene Problem- und Lösungsvorstellungen, berufliche Philosophien sowie ambulante und stationäre Betriebskulturen mit zusätzlich unterschiedlichen Tarifstrukturen aufeinandertreffen. Mit geeigneter Kommunikation können diese Schnittstellen definiert und strukturiert gestaltet werden, sodass der nötige Informationsaustausch verlässlich und zeitgerecht fliessen kann. Dies alles verbindet die therapeutischen Teilsysteme und das System der Patient:innen zu einem kohärenten Ganzen und hat eine direkte Auswirkung auf das Krankheits- und Therapiegeschehen.
Eine echte Kooperation unter den involvierten Therapierenden und Institutionen sowie eine professionelle Pflege der Schnittstellen sind somit Grundessenzen für ­einen erfolgreichen personenbezogenen Therapieprozess. Sie erhalten den Stellenwert eines medizinischen Instruments, das allen übrigen klinischen und medizinisch-technischen Interventionen gleichbedeutend ist.

Qualitative und strukturelle Anforderungen

Eine zuverlässig funktionierende interdisziplinäre Kooperation beinhaltet einerseits qualitative, schwieriger erfassbare und nachweisbare Anforderungen an die beteiligten Personen und Institutionen und andererseits strukturelle Anforderungen, die quantitativ messbar sind.

Qualitative Anforderungen

Das Bewusstsein über die Bedeutung von Schnittstellen ist zentral für ein umfassendes Gelingen einer interdisziplinären Therapie. Neben gutem Fachwissen gilt es, die Grenzen des eigenen Wissens anzuerkennen und die Tatsache, dass man mit (s)einem spezifischen Blick nur einen Teil des Ganzen erkennen, und damit bedeutsame Zusammenhänge verkennen kann. Erforderlich ist zudem eine ergebnisoffene Haltung gegenüber unerwarteten neuen Möglichkeiten, die sich im Austausch mit den weiteren Beteiligten ergeben können.
Eine gute Zusammenarbeit an den Schnittstellen gründet auf einer wertschätzenden Beziehung, gegenseitigem Respekt und Vertrauen unter den therapeutisch Beteiligten, zudem auf Offenheit und ehrlicher Information betreffend der eigenen Kompetenzen, Bedürfnisse und Ressourcen.

Strukturelle Anforderungen

Von Beginn weg muss geklärt werden, wer fallbezogen zum interdisziplinären Team gehört, wer zur Kooperation befähigt und dazu bereit ist und wer nicht, welches Problemverständnis sowie welche Ziele und Lösungsansätze die verschiedenen Beteiligten haben. Ein gemeinsames Ziel muss erarbeitet und definiert werden, Rollen geklärt, Lösungsansätze und nächste Schritte vereinbart, Verantwortlichkeiten zugeteilt, Rückmeldesysteme festgelegt, eine Koordinationsperson bestimmt, ein Controllingsystem, Zeitpunkte für die Überprüfung der vereinbarten Prozesse sowie Interventionsmöglichkeiten bei neuen oder unvorhergesehenen Entwicklungen ausgemacht werden.
Erforderlich für eine kohärente und zielorientierte Kooperation ist eine explizite Vereinbarung über die zeitgerechte Kommunikation, die erwarteten fachlichen und kontextuellen Inhalte und Verhaltensweisen sowie die jeweiligen Kommunikationspfade.
Damit echte Team-Kooperationen ermöglicht werden, muss auch die Finanzierung von Teamkonferenzen zwingend geklärt werden, insbesondere wenn gleichzeitig stationäre und ambulante therapeutische Instanzen mit ihren unterschiedlichen Tarifstrukturen involviert sind. Therapeutische Prozesse sind naturgemäss unvorhersehbar, können, aus unterschiedlichsten Gründen, unerwartete Wendungen nehmen und es kann zu Krisen kommen. Dies kann durch das Verhalten des Patienten ausgelöst werden oder durch Fehler und Kommunikationsstörungen im System der Therapeut:innen. Es gilt deshalb im Voraus festzulegen, welche Indizien frühzeitig auf eine Krise hindeuten, wie dabei praktisch vorzugehen ist und wer was zu tun hat.
Da es trotz aller Sorgfalt und Umsicht zu unerwünschten Wirkungen, Beinahe-Fehlern und veritablen Fehlern kommen kann, gehört zu einer umfassenden Kooperation auch eine etablierte Fehlerkultur. Dies bedeutet, bei einem Fehler nicht einfach nach einem Sündenbock zu suchen, sondern die oben genannten Aspekte sorgsam zu überprüfen. So können an den Stellen, die an der Fehlerentstehung massgeblich mitbeteiligt waren, auf sachlicher und persönlicher Ebene gezielt die nötigen Anpassungen vorgenommen werden. Der physisch und emotional betroffene Patient und seine Angehörigen können transparent beraten werden. Den vom Fehler betroffenen Personen oder Gruppen kann entsprechende Unterstützung angeboten werden.

Wie kann koordinierte Kooperation gelehrt und gelernt werden?

  • Auf jeder Stufe der Aus-, Weiter- und Fortbildung erweitern wir die herkömmliche krankheitsfokussierte Wissensvermittlung um einen personenbezogenen Ansatz.
  • Wir fördern ein systemisches Verständnis von Gesund- und Kranksein und verstehen die Bedeutung des Lebenskontextes für das Krankheitsgeschehen und den Therapieprozess.
  • Wir kennen den therapeutischen Stellenwert unseres eigenen Verhaltens und unserer Beziehung mit den Patient:innen.
  • Als Lehrende und Lernende sind wir uns bewusst, dass wir im Rahmen des Patienten-Therapeuten-Systems Teil des Lebenssystems des Patienten und dessen weiteren Patienten-Therapeuten-Systeme werden.
  • Wir verstehen einen therapeutischen Prozess nicht als linearen Vorgang, sondern als komplexen interagierenden Prozess. Einer erfolgreichen Kooperation unter den Therapierenden gebührt der Stellenwert einer medizinischen Intervention.
  • Daher kümmern wir uns – als fester Teil der Anamnese – aktiv darum, wer sonst noch in die Behandlung involviert ist, und schaffen dadurch die Voraussetzung für eine echte Kooperation.
  • Wir wissen, dass ein interaktives analoges Gespräch, das nicht lange dauern muss, unter den Therapierenden oder eine umfassende Helferkonferenz unter Einbezug des Patienten und seiner Familie Basis einer echten Kooperation ist, und dass ein unilateraler digitaler schriftlicher Datenaustausch einer Arbeitsteilung und nicht einer Kooperation entspricht.
  • In Fallbesprechungen über kritische Situationen wollen wir der Schnittstellenproblematik und der Kooperation einen Stellenwert geben, der den medizinischen Begebenheiten ebenbürtig ist.

Schlussgedanke

Im gesundheitspolitischen Diskurs muss, insbesondere im Zusammenhang mit der zunehmenden Verlagerung von Therapien aus dem stationären in den ambulanten Bereich, das Bewusstsein um die Bedeutung echter Team-Kooperation unter den Therapeuten und Patienten geweckt werden. Die daraus entstehenden spezifischen strukturellen Anforderungen und Arbeitsweisen müssen weiter entwickelt und im Tarifsystem finanziell abgebildet werden.
Die Hintergründe für diesen Artikel finden sich im Buch «Die ärztliche Konsultation – systemisch-lösungsorientiert», Bruno Kissling, Peter Ryser, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2020; «Mastering the Medical Consultation: A Systemic, Solution-Oriented Process», Bruno Kissling, Peter Ryser, Free Association Books, London, 2021; ausgezeichnet mit dem Book Prize 2020 of the European Society for Person-Centered Healthcare.
Dr. med. Bruno Kissling
Facharzt AIM, pensionierter Hausarzt, Autor
bruno.kissling[at]live.com