Wie lässt sich chronische ­Depression behandeln?

Fortbildung
Ausgabe
2021/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2021.10625
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(07):

Publiziert am 06.07.2021

Wenn die Hausärztinnen und -ärzte ihre Tätigkeit beschreiben, spielt der Begriff «Werkzeug» eine grosse Rolle.

Einleitung

Wenn die Hausärztinnen und -ärzte ihre Tätigkeit beschreiben, spielt der Begriff «Werkzeug» eine grosse Rolle. Aubert [1] führt 2013 die Idee des «Werkzeugsatzes» für Hausärztinnen und -ärzte ein. Neben den technischen Werkzeugen (Labor, EKG, usw.) und klinischen Scores oder Skalen (die von anderen als «Toolkits» bezeichnet wurden [2]) berücksichtigt Aubert in seiner Liste der Kommunikationswerkzeuge (gemäss der Definition von Kurtz und Silverman [3, 4]) die Stadien nach di Clemente1, die Beziehungsfelder nach Velluet2 [5] und die Grundsätze der Bioethik. Diese Sichtweise findet sich auch im Buch Toolbox – pour la pratique du médecin de famille[6]. In einer Bestandesaufnahme der Entwicklungen der letzten 30 Jahre in der Psychosomatik beschreiben Allaz und Widmer «Werkzeuge für die Reflexivität in der Psychosomatik», die eine Haltungsänderung der Ärztin bzw. des Arztes ermöglichen [7]. Diese Auffassung des Werkzeugs durch die Hausärztinnen und -ärzte lässt sich mit der üblichen Definition des Begriffs vergleichen, etwa mit jener des Larousse-Wörterbuchs: «Für bestimmte Zwecke geformter Gegenstand, der mit der Hand oder auf einer Maschine verwendet wird.» Die Hausärztinnen und -ärzte weiten also die herkömmliche Bedeutung des Werkzeugs als Gegenstand auf Kompetenzen und Fähigkeiten aus: Jeder Gegenstand, der als Erweiterung der Hand, der Ohren oder der Augen dient, sowie jede Vorgehensweise und jeder Prozess wird tendenziell als «Werkzeug» bezeichnet. Im Bereich der Informatik ­wären die Werkzeuge nach Larousse-Definition die «Hardware» und die Kommunikationswerkzeuge die «Software».
Im Mittelpunkt unserer qualitativen Forschungsarbeit stand die chronische Depression mit besonderem Augenmerk auf der Art und Weise, wie Hausärztinnen und -ärzte diese Krankheit wahrnehmen und behandeln und mit den Psychiaterinnen und Psychiatern ­zusammenarbeiten. Parallel wurden dieselben Fragen Psychiatern gestellt. Eine erste Veröffentlichung berichtete darüber, wie Hausärzte die chronische Depression wahr­nehmen und behandeln [8], eine zweite über die ­Zusammenarbeit mit den Psychiatern [9] und eine dritte über den Verlauf der Betreuung von Personen mit chronischer Depression [10]. In der letztgenannten Veröffentlichung wurden drei Pa­tiententypen unterschieden: Jene, die ohne Komplikation an die Psychiater zu überweisen sind, jene, bei denen eine Vorarbeit durch die Hausärztin nötig ist, und schliesslich jene, bei denen sich die chronische Depression hauptsächlich durch körperliche Symptome äussert und die an ihren somatischen Beschwerden festhalten, ohne dass eine weitere Abklärung möglich ist [10].
Unsere Forschungsfrage zur Behandlung der chronischen Depression umfasste zunächst nicht den Begriff Werkzeug. Wir wollten erfassen, wie die Hausärztinnen und -ärzte Personen mit chronischer Depression betreuen. In den Gesprächen unserer interdisziplinären Forschungsgruppe (Psychiater, Psychologe, Soziologin, Hausarzt, Medizinstudentin) erschien der Begriff Werkzeug in seiner weiter gefassten Definition dem Hausarzt klar, den Anderen jedoch problematisch: Den Nicht-Hausärzten war es anscheinend nicht möglich, auf Theorie oder wenigsten auf ein gedank­liches Bild (eine Theorie hinter jedem Werkzeug) zu verzichten.
In diesem Artikel untersuchen wir den Platz und die Referenzen des Konzepts «Werkzeug», so wie es aus den Aussagen der Hausärztinnen und Hausärzte im Hinblick auf die Betreuung von Personen mit chronischer Depression hervorgeht.

Methode

In unserem ersten Artikel haben wir die Methode eingehend beschrieben [8]. Drei Focus Groups(FG) von Hausärztinnen und -ärzten wurden mithilfe einer Liste offener Fragen und einiger Rückfragen befragt. Den Teilnehmenden gaben wir bewusst keine Definition von chronischer Depression, da es eben darum ging, dass sie ihre Vorstellungen äusserten. Es wurden sowohl in der Stadt als auch in ländlichen Gebieten tätige Hausärzte befragt, jüngere und ältere, Frauen und Männer, mit Zusatzausbildung in Psychosomatik oder ohne. Insgesamt nahmen 22 Personen teil: 13 Ärzte und 9 Ärztinnen, 14 in der Stadt und 8 in ländlichem Gebiet oder in der Kleinstadt, 12 in der Gruppenpraxis oder Poliklinik und 10 in der eigenen Praxis, 10 mit Ausbildung in Psychosomatik und 12 ohne. Die Teilnehmenden waren zwischen 30 und 71 Jahren alt. Der Grossteil war niedergelassen (Dauer der niedergelassenen Tätigkeit: 1–40 Jahre), ausser vier Personen, die in der Poliklinik arbeiteten oder noch in Ausbildung waren. Die Focus Groups wurden mithilfe der Software MAXQDA codiert [11]. Im Rahmen des Teils, der sich mit der Behandlung befasste, wurde eine Codierung in Aktionsverben nach Charmaz [12] vorgenommen. Als Grundlage dienten dabei möglichst die Worte der Teilnehmenden selbst (In-vivo-Codierung). Eine weitere Codierung erfolgte ausgehend von den Passagen, in denen die Teilnehmenden selbst das Wort «Werkzeug» verwendeten. Nach der Aktionsverben-Methode gibt es mehr Codes, darin sind allerdings alle Codes enthalten, bei denen die Teilnehmenden den Begriff «Werkzeug» verwendeten. Die Intercoder-Übereinstimmung wurde im Rahmen unserer interdisziplinären Gruppe durchgeführt.

Ergebnisse

In der Tabelle 1 sind die Codes zusammengefasst, die wir aufgrund der Aussagen definiert haben. Sie antworten auf die Frage: Wie geht die Hausärztin bzw. der Hausarzt mit einer Person mit chronischer Depression um? Die Antwort ist ein Verb im Infinitiv (Charmaz verwendet die Endung -ing [12]), das einer Vorgehensweise oder Haltung entspricht. Dieses Know-how und diese sozialen Fähigkeiten haben wir «Werkzeuge» genannt. Dabei wenden wir die weit gefasste Definition des Begriffs an, so wie in der eingangs erwähnten Fachliteratur. Anschliessend haben wir die Codes in sechs Hauptkategorien von Werkzeugen eingeteilt:
1. Werkzeuge des diagnostischen Know-hows: Differenzialdiagnose, Vermeiden zu vieler Untersuchungen und Sondierung der Hintergründe der somatischen Beschwerden. Es geht für die Hausärztin somit vor allem darum, ihre Diagnose offenzuhalten, die Diagnose der somatischen Beschwerden durch tiefgehende Untersuchungen zu erarbeiten und nicht übermässig auf technische Untersuchungen zurückzugreifen. Es mag vielleicht erstaunen, dass die Liste lediglich drei Werkzeuge des diagnostischen Know-hows umfasst. Die meisten diagnostischen Fragen fanden sich in der Tat vor allem in der Rubrik der Wahrnehmung der chronischen Depression wieder, die wir hier nicht betrachten, und wenige in jener der Behandlung [8].
2. Werkzeuge des Know-hows für die Behandlung der der Patienten: Die Definition des Behandlungsrahmens ist von grosser Bedeutung und beinhaltet eine klare Erläuterung der Möglichkeiten und dessen, was der Hausarzt tun wird, wobei er verfügbar ist und ­regelmässige Termine vorgesehen sind. Der Hausarzt muss den Gefühlszustand berücksichtigen und ihn in Worte fassen. Spezifische Werkzeuge wie Entspannungsmethoden, Kurzzeittherapie oder kognitive Verhaltenstherapie ermöglichen es ihm, auf unterschiedliche Weise mit der Patientin zu sprechen. Es geht darum, ver­borgene Ressourcen neu zu erschliessen und zu ­zeigen, wozu sie fähig ist. Zur Verschreibung von Antidepressiva, die manche Hausärztinnen und -ärzte bisweilen unter dem Deckmantel der Schmerzbehandlung einführen, kommt noch die Krankschreibung oder die Verschreibung von komplementärmedizinischen Präparaten hinzu.
3. Werkzeuge des Know-hows für den Umgang mit dem Kontext: Durch einen veränderungsfähigen Kontext ist es möglich, die chronifizierende Diagnose hinter sich zu lassen («ein Depressiver in der Psychiatrie» FG2), ebenso wie durch die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen.
4. Werkzeuge für sich selbst: Die Betreuung von Personen mit chronischer Depression ist für die Hausärztin eine starke Belastung, die nur durch eine gute Zusatzausbildung bewältigt werden kann. Die Haus­ärzte sollten so ­lernen, mit ihren Emotionen umzugehen, auf sich selbst zu achten und sich untereinander auszutauschen.
5. Werkzeuge der sozialen Fähigkeiten: Diese Werkzeuge beruhen darauf, dass sich die Hausärztin bzw. der Hausarzt bewusst wird, selbst ein Werkzeug der Behandlung zu sein. Gleichzeitig gilt es, Mitgefühlsmüdigkeit zu vermeiden. Mehrere Teilnehmende gaben an, auf eine Heilung um jeden Preis zu verzichten, um mit den Betroffenen anders umgehen, sie begleiten und sich an sie anpassen zu können, aber auch, um langfristig durchhalten zu können.
6. Werkzeugsatz: Demnach verfügen Hausärztinnen und -ärzte im Gegensatz zu den Fachärztinnen und -ärzten über einen Werkzeugsatz, aus dem je nach klinischer Situation ein Element ausgewählt werden kann, um den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten möglichst zu entsprechen.
Tabelle 1:Codierung und Aussagen (Zitate aus den drei Fokusgruppen).
KategorieUnterkategorieAussage
Werkzeuge des ­diagnostischen Know-howsDifferenzialdiagnose ­stellenDeprimierte oder erschöpfte Menschen, aber eigentlich funktioniert nur ihr CPAP-Gerät nicht so gut [...] Manchmal gibt es auch gewisse Zusammenhänge zwischen somatischen Beschwerden und Stimmungsstörungen. FG2
 Zu viele Untersuchungen ­vermeidenAber diese Patienten mit Somatisierung und unklaren, unerklärlichen Schmerzen, bei denen man eine Untersuchung nach der anderen macht. Ab einem gewissen Zeitpunkt muss man ­wissen, dass man damit aufhören sollte. FG3
 Hintergründe der somatischen Beschwerden ­sondierenEs gelingt, das Gespräch ein wenig zu vertiefen: Was passiert zu Hause, wie geht es mit den Angehörigen usw. Dann wird dies zu einem Werkzeug und unter Umständen kann man so dem Problem ein­wenig besser auf den Grund gehen [...] FG3
Werkzeuge des Know-hows für die BehandlungBehandlungsrahmen ­definierenIch definiere einen Rahmen [...] Ich spreche die Dinge aus und sage: Ich nehme mir drei oder vier ­Sitzungen lang Zeit, um mit Ihnen das Problem zu erkunden. FG3
 Regelmässige TermineAls Werkzeug sehe ich den Terminkalender, weil regelmässige Termine sehr wichtig sind, um unangenehme Ereignisse zwischen zwei Terminen zu verhindern. FG3
 Verfügbar seinAuf Patientenmails antworten, wenn es ihnen nicht gut geht. FG2
 Ressourcen erschliessenBisweilen verfügen die Betroffenen über Ressourcen, die ihnen gar nicht bewusst sind. Man muss ­ihnen dabei helfen, sie zu entdecken. FG2
 Wieder in Bewegung ­bringenMan bittet darum, dass alle eine Kleinigkeit für ein Buffet mitbringen. Manche haben seit Jahren keinen Kuchen gebacken, aber auch sie bringen etwas mit. Es macht auch Freude zu zeigen, dass man das Kochen noch nicht verlernt hat. FG1
 Behandlungsmöglichkeiten erläutern«Wir haben mehrere Möglichkeiten, Ihnen zu helfen: Medikamente, Psychiater, Behandlung hier in der Praxis.» Und dann muss man sehen, was gewünscht wird. FG3
 Krankschreibung ausstellenAber auch eine Krankschreibung. Dazu sind wir befugt. Das wissen die Menschen und bitten manchmal darum; ich denke, dass dies Teil unseres Arsenals ist. FG2
 Arzneimittel für eine andere Indikation verschreibenOft wurde bereits ein antidepressiv wirkendes Medikament verschrieben, unter dem Deckmantel der Behandlung chronischer Schmerzen; und dann hofft man, dass dies auch der Stimmung guttut. FG2
 Komplementärmedizinische Präparate verschreibenOft versuche ich es mit Johanniskraut-Präparaten [...] So kann ich es vermeiden, SSRI zu verschreiben [...] FG2
 Auf unterschiedliche Weise mit den Patientinnen und ­Patienten sprechenMan hat also Werkzeuge zur Verfügung, seien es Entspannungsmethoden, sei es eine Kurzzeittherapie; das gibt uns die Möglichkeit, einen Dialog mit den Patientinnen und Patienten aufzubauen. FG2
 Emotion berücksichtigenEin Arzt – das heisst: Stethoskop und eine Packung Taschentücher. Diese beiden Instrumente setzen wir am häufigsten ein, und das stimmt. Es ist ein empfehlenswertes Werkzeug. FG3 [8]Gerne greife ich auf die kognitive Verhaltenstherapie zurück, besonders für den Umgang mit Emotionen im Zusammenhang mit Depression. Das ermöglicht den Betroffenen, in Worte zu fassen, was sie gerade tun, was sie empfinden. FG3
Werkzeuge des Know-hows für den Umgang mit dem KontextKontext pflegenMan versucht, die Person in ihren Kontext zu setzen und ihren Kontext zu pflegen, damit es sich nicht um einen Depressiven in der Psychiatrie handelt, sondern um einen Menschen, der gerade eine schlechte Phase durchlebt oder der ein schweres Leben hat oder der viele Probleme hat; gleichzeitig kann sich all dies verändern, alles kann sich bewegen und sich entwickeln. FG2
 Mit anderen Berufsgruppen zusammenarbeitenEs steht ja ein gutes Netz zur Verfügung, in dem man [...] bestimmte Aspekte, die an der Problematik der chronischen Depression einen Anteil haben, delegieren kann. FG1 
Werkzeuge für sich selbstZusatzausbildung ­absolvierenJa, es gibt Hausärzte, denen es schlecht geht. Wenn man keine Zusatzausbildung hat, wenn man kein Werkzeug zur Verfügung hat, keine Referenzgruppe – da genügen zwei, drei dieser Patienten und 50 Notfälle, und schon geht es einem schlecht. Es ist also ein Risikoberuf. FG2
 Lernen, mit dem Echo der Emotionen umzugehenZu Beginn ist das etwas, mit dem nur schwer umzugehen ist [...] Die Patientenemotionen, die uns ­erfassen und mit unseren ein Echo bilden. FG3
 Die Pflegeperson pflegenDie Pflegeperson pflegen, um in der Lage zu sein, Mitgefühlsmüdigkeit zu vermeiden; diese Müdigkeit kann gegenüber Patientinnen und Patienten auftreten, die über zahlreiche Beschwerden klagen, aber nicht unbedingt therapietreu und nicht besonders positiv sind. FG3
 Darüber reden, damit es ­einem besser geht ­(Super­vision)In der Tat fühlt man sich manchmal erschöpft, und dann sind die Balint-Gruppen sehr hilfreich. Denn man kann reden und anschliessend geht es einem besser; man sieht die Patientinnen und Patienten anders, und nach einem Gespräch in der Balint-Gruppe geht es häufig auch den Patientinnen und ­Patienten besser. FG3
Werkzeuge der ­sozialen Fähig­keitenEigene Erfahrungen ­berücksichtigenManche Personen betreut man zehn, fünfzehn Jahre. Man gewinnt Erfahrung und erlebt die Depression völlig anders als man es sich aufgrund der DSM-Definition vorstellt. Das ist konkret, man erlebt es, es sind Emotionen, die über die Ausbildung hinausgehen. FG2
 Sich den Patientinnen und Patienten anpassenIch habe den Eindruck, dass es keine allgemeine Regel gibt, es hängt eher von den einzelnen Patientinnen und Patienten ab. FG3 [5]
 BegleitenSie zu begleiten, bedeutet meiner Ansicht nach nicht, dass man nichts tut. Das sollte man betonen, weil manche denken, dass man bei chronisch Depressiven nichts tun kann. Nein, ich begleite sie. FG1
 Langfristig durchhaltenDenn darum geht es in vielen Fällen: Man muss langfristig durchhalten. FG3
 Auf Heilung verzichtenWir müssen es akzeptieren, wenn wir machtlos sind. Wir müssen es akzeptieren, wenn wir nicht in der Lage sind, eine Heilung zu erreichen. FG1
WerkzeugsatzZahlreiche Werkzeuge zur ­Verfügung habenIm Vergleich zu den Psychiaterinnen und Psychiatern sind wir in einer glücklichen Lage; wir haben den Vorteil, über zahlreiche Werkzeuge zu verfügen. So können wir langfristig durchhalten. FG3
 Eklektisch vorgehenNatürlich können wir nicht wie die Psychotherapeuten agieren, die sich ja nur damit befassen. Wir greifen auf viele kleine Dinge zurück. Manchmal hören wir damit auf, lassen etwas beiseite, dann beginnen wir wieder damit. So können wir häufig Medikamente vermeiden, oder zumindest ihren Einsatz hinauszögern [...] FG3
FG: focus groups  

Diskussion

Mithilfe unserer Studie konnten wir sechs Hauptkategorien von Werkzeugen erarbeiten, die bei der Betreuung von Personen mit chronischer Depression in der Allgemeinmedizin zum Einsatz kommen. Aus der Analyse der Focus Groups gingen Werkzeuge des Know-hows hervor, die 1. die Diagnose, 2. die Behandlung und 3. den Kontext betreffen, aber auch 4. die Hausärztinnen und -ärzte selbst. Zudem wurden 5. Werkzeuge der sozialen Fähigkeiten identifiziert, ebenso wie die Idee, dass den Hausärztinnen und -ärzten ein 6. Werkzeugsatz zur Verfügung steht. Unsere Ergebnisse lassen sich in Verbindung mit der Studie «Comment le médecin généraliste induit le processus du changement chez son patient: l’exemple de la douleur chronique» von Bonjour et al. [13] betrachten: Dieser Studie zufolge greifen Hausärztinnen und -ärzte «eher auf Werkzeuge zurück als auf während des Studiums oder der Fort- und Weiterbildung erlernte Theorien». Diese «Werkzeuge» wurden in vier Hauptkategorien eingeteilt, die sich in zwölf Unterkategorien gliedern:
1. alle Faktoren untersuchen, die mit dem Problem verbunden sind, um Veränderung zu ermöglichen;
2. aufmerksam für die Beziehung mit den Patienten sein;
3. den Rhythmus der Patienten achten und
4. den Kontext berücksichtigen.
Mit ihrer Vorstellung der chronischen Depression «zwischen psychosozialem Leiden und ­somatischen Beschwerden» [8] definieren die Haus­ärztinnen und -ärzte unserer Studie eine Entität, die ­sicherlich auch den chronischen Schmerz und medizinisch nicht erklärbare Symptome umfasst. Darum ist es nicht verwunderlich, ähnliche Werkzeuge wie die von Bonjour [13] beschriebenen vorzufinden, auch wenn sie anders ausgedrückt werden.
Wir beschreiben Werkzeuge, die Vorgehensweisen oder Haltungen sind; diese beruhen auf erlebten Situationen und stehen den Handgriffen der konkreten Erfahrung näher als den Leitlinien. Es handelt sich dabei weder um allgemeine Empfehlungen wie jene der WONCA [14], noch lassen sie sich zusammenfassen in Toolkits, in ein Ensemble von Scores und Skalen wie jene der MacArthur-Stiftung [2]. Dennoch ist es möglich, bestimmte Übereinstimmungen und Divergenzen mit dieser Fachliteratur festzustellen. Die im Rahmen unserer Focus Groups Befragten waren bei der Verschreibung von Antidepressiva zurückhaltend [8]. Dies steht im Einklang mit der Empfehlung der WONCA, im Bereich der psychischen Gesundheit nichtmedikamentöse Interventionen [15] und die quaternary prevention, durch die Übermedikalisierung vermieden werden soll [16], zu bevorzugen. Im Gegensatz zum Expertenkonsens fand sich in unserer Studie zur chronischen Depression ebenso wie in der Studie von Bonjour et al. [13] nicht die Dimension der Psychoedukation. Die Studienteilnehmenden bieten zwar an, die diversen Behandlungsmöglichkeiten zu erläutern oder im emotionellen Bereich gemeinsam mit den Betroffenen eine Erklärung für die Beschwerden zu konstruieren, sie wenden aber kaum das Konzept an, das Launer [18] als Ko-Konstruktion der Diagnose bezeichnet hat und das in den Bereich der Narrative-Based Primary-Caregehört. Dieser Methode zufolge kann die Psychoedukation erst beginnen, wenn sich Ärztin und Patient hinsichtlich der Ätiologie geeinigt haben; allerdings geben manche der von uns Befragten an, mit jenen Patienten, die ihr Leiden haupt­sächlich durch somatische ­Beschwerden äussern, nur schwer über die Diagnose einer chronischen Depression sprechen zu können. Die WONCA vertritt dagegen die Ansicht, dass «die Hausärztinnen und -ärzte eine greifbare und gezielte Erklärung der Ursache der Symptome in der Sprache und innerhalb des Kulturmodells der Betroffenen liefern müssen». Zur Erklärung medizinisch nicht erklärbarer Symptome schlägt die WONCA sieben Modelle vor [17] und gibt uns damit ein sehr nützliches Werkzeug an die Hand, um mit den Patientinnen und Pa­tienten während der Konsultation zu interagieren und die Diagnose gemeinsam zu konstruieren.
Die Wahl des richtigen Werkzeugs aus dem Werkzeugsatz (© Adil Abdrakhmanov | Dreamstime.com).
Ebenso wenig finden sich in unseren Daten klar definierte Werkzeuge zum Monitoring der Depression. D ie MacArthur-Stiftung [2] bietet ein symptombasiertes System zur Bewertung des Verlaufs der Depression sowie Dokumente für die Überweisung an die Fachärztin bzw. den Facharzt gemäss einer Kriterienliste. Auch auf der WONCA-Website stehen Referenzkriterien zur Verfügung [17]. Diese sehr formalen Werkzeuge können möglicherweise bessere Ergebnisse erzielen, wenn man erreichbare Ziele setzt [13] und den Behandlungsrahmen definiert, so wie in unserer Studie gezeigt (Häufigkeit der Sitzungen, Dauer, Verfügbarkeit).
Durch den Beitrag unserer Forschungsarbeit kann das Vorhaben der WONCA etwas vorangebracht werden, eine reflexive Praxis zu etablieren, bei der die Hausärztinnen und -ärzte ihre Grenzen kennen, nötigenfalls Hilfe suchen und sich um die eigene psychische Gesundheit kümmern (Punkt 6: Reflective Practice [19]). Die Teilnehmenden an unserer Studie stellen eine ­eindeutige Verbindung her zwischen der ärztlichen ­Erschöpfung und dem langfristigen Umgang mit schwierigen Situationen, die sich kaum durch die DSM-Klassifikation einordnen lassen und bei denen es auch darum geht, durchzuhalten, zu begleiten, bisweilen zu scheitern und dabei die Emotionen der Betroffenen selbst zu durchleben. Nach Ansicht der Studienteilnehmenden erfordert diese Mitgefühlsmüdigkeit eine Supervision, etwa nach dem Balint-Modell, damit man lernt zu akzeptieren, dass man nicht in der Lage ist, eine Heilung herbeizuführen, und von Cure zu Care überzugehen.

Schlussfolgerung

In jedem Beruf gibt es Handlungsgrundsätze, in der Medizin sind die klinischen Leitlinien ein Teil davon. Sie werden je nach Situation befolgt oder angepasst und erfordern die Wahl des richtigen Werkzeugs aus dem Werkzeugsatz. Darum sind Ärztinnen und Ärzte eher Handwerkerinnen und Handwerker, als dass sie soldatisch die klinischen Leitlinien ausführen; sie verstehen sich besser auf das Konkrete als auf das Formale.
Korrespondenz:
Dr méd. Daniel Widmer
DMF-Unisanté
2, avenue Juste-Olivier
CH-1006 Lausanne
drwidmer[at]belgo-suisse.com
 1 Aubert J. The extraordinary development of a toolbox in general medicine. Technical, clinical and communication tools. Revue Médicale Suisse. 2013 Oct 16;9(402):1917–20.
 2 MacArthur Foundation’s Initiative on depression and Primary Care. Depression Management Tool Kit. https://www.integration.samhsa.gov/clinical-practice/macarthur_depression_toolkit.pdf
 3 Silverman J, Kurtz SM, Draper J. Skills for Communicating with Patients. 3rd ed. London, New York: Radcliffe Publishing; 2013.
 4 Kurtz SM, Silverman J. The Calgary-Cambridge Referenced Observation Guides: An Aid to Defining the Curriculum and Organizing the Teaching in Communication Training Programmes. Medical Education. 1996 March;30(2):83–9.
 5 Velluet L. Le médecin, un psy qui s’ignore, médecine de famille et psychanalyse. Paris, Budapest, Kinshasa: L’Harmattan; 2006.
 6 Pasche O. Toolbox – pour la pratique du médecin de famille. Chêne-Bourg: RMS; 2019.
 7 Widmer D, Allaz AF. Outils pour la réflexivité en psychosomatique. Rev Med Suisse. 2017 Jan 25;13(547):189.
 8 Linder A, et al. Les médecins généralistes face à la ‘dépression chronique’. Représentations et attitudes thérapeutiques. Revue française des affaires sociales. 2018;4:239–58.
 9 Linder A, Widmer D, Fitoussi C, de Roten Y, Despland JN, Ambresin G. Les enjeux de la collaboration entre médecins généralistes et psychiatres. Le cas de la dépression chronique en Suisse romande. S.F.S.P. Santé Publique. 2019;4(31):543–52.
10 Fitoussi C, Linder A, Widmer D, De Roten Y, Despland JN, Ambresin G. La médecine de famille face à la dépression chronique. [Facing chronic depression in family practice]. Rev Med Suisse. 2020 sept. 30;16(708):181821.
12 Charmaz K. Constructing Grounded Theory. 2nd edition. Introducing Qualitative Methods. London, Thousand Oaks, Calif: Sage; 2014.
13 Bonjour F, et al. Comment le médecin généraliste induit le processus du changement chez son patient: l’exemple de la douleur chronique. Exercer. 2018;143:204–11. https://archive-ouverte.unige.ch/unige:107143
15 Wonca. Family doctors’ role in providing non-drug interventions (NDIs) for common mental health disorders in primary care. http://www.globalfamilydoctor.com/site/DefaultSite/filesystem/documents/Groups/Mental%20Health/WPMH%20role%20of%20FPs%20in%20non%20drug%20interventions.pdf
16 Widmer D, Herzig L, Jamoulle M. Quaternary prevention: is acting always justified in family medicine? Revue Medicale Suisse. 2014 May 14;10(430):1052–6.
17 Wonca. Addressing the needs of patients with Medically Unexplained Symptoms (MUS). https://www.globalfamilydoctor.com/site/DefaultSite/filesystem/documents/Groups/Mental%20Health/MUS%2018.pdf
18 Launer J. Narrative-Based Primary Care: A Practical Guide. Abingdon: Radcliffe Medical Press; 2002.