StoppSturz: Im Interprofessionellen Ansatz Stürze verhindern

Fortbildung
Ausgabe
2022/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2022.10458
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(09):284-286

Publiziert am 07.09.2022

Stürze gehören zu einem der grossen Risikofaktoren für den Verlust der Autonomie bei Menschen im hohen Lebensalter. Ein Grossteil der Stürze führt zu Bagatellverletzungen, die deswegen in der Sprechstunde meist nicht erwähnt werden. Gerade solche «banalen Ereignisse» sind aber oft Indizien für eine oder mehrere zugrundeliegende Ursachen.

Einleitung

Sturzprävention bei Personen im hohen Alter
Stürze gehören zu einem der grossen Risikofaktoren für den Verlust der Autonomie bei Menschen im hohen Lebensalter. Ein Grossteil der Stürze führt zu Bagatellverletzungen, die deswegen in der Sprechstunde meist nicht erwähnt werden. Gerade solche «banalen Ereignisse» sind aber oft Indizien für eine oder mehrere zugrundeliegende Ursachen [1]. Im Praxisalltag sollten daher Sturzrisiken identifiziert und wirksame, zweckmässige sowie wirtschaftliche Massnahmen zur Verhütung weiterer Stürze im Sinne einer Präventionsmassnahme in die Wege geleitet werden. Diesen Ansatz verfolgt das interkantonale Projekt StoppSturz, das sich zum Ziel gesetzt hat, Sturzprävention bei Personen im hohen Alter flächendeckend umzusetzen.

Hintergrund

StoppSturz/Parachutes (www.stoppsturz.ch) ist ein Public Health-Projekt, das vom Kanton St. Gallen koordiniert wird und ursprünglich von vier Kantonen (BE, JU, GR, SG) getragen wurde. Mittlerweile hat sich auch der Kanton Zürich angeschlossen. Das Projekt baut inhaltlich auf Vorstudien und Pilotprojekten aus den Jahren 2010–2017 auf (zum Beispiel Via: Best Practice Gesundheitsförderung im Alter) und wird weitgehend von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz im Rahmen der Projektförderung Prävention in der Gesundheitsversorgung getragen. Hinzu kommen kantonale Beiträge sowie personelle Ressourcen aus den teilnehmenden Kantonen. Eine grosse Zahl von ärztlichen Organisationen (KHM, SGAIM, SFGG, FMH)* hat sich bereit erklärt, das Projekt aktiv zu unterstützen. Die Besonderheit an StoppSturz ist die Tatsache, dass das Projekt interprofessionell organisiert ist und versucht, unterschiedliche Leistungserbringer im Gesundheitswesen bezüglich Sturzprävention zu sensibilisieren und untereinander zu verknüpfen. Daher sind auch die Spitex und nationale Verbände therapeutischer Berufe (Ergotherapie, Physiotherapie, Ernährungstherapie, medizinische Praxisassistentinnen) und Apotheken sowie Organisationen wie die ProSenectute, das Schweizerische Rote Kreuz und nicht zuletzt Krankenkassen eingebunden. Das grundlegende Prinzip von StoppSturz besteht darin, alte Menschen im Rahmen möglichst vieler Berührungspunkte mit dem Gesundheitswesen bezüglich potenzieller Risikofaktoren zu sensibilisieren, Personen mit hohem Risiko zu entdecken, dieses abzuklären und präventive Massnahmen in die Wege zu leiten. Hierbei kommt der Grundversorgung eine zentrale Rolle als «Dreh-und Angelpunkt» der Sturzprävention zu (Abb. 1).
Das Projekt ist modular in Teilprojekten aufgebaut, die an solche Berührungspunkte anknüpfen. Es erstreckt sich im Idealfall von den Kontakten alter Personen im ambulanten Bereich über aufsuchende Sturzberatung bis hin zum Entlassungsmanagement aus dem Spital. Jedes Teilprojekt hat berufsgruppenspezifische und möglichst evidenzbasierte Instrumente entwickelt, die alle auf der Homepage zur Verfügung stehen. Ein weiteres wesentliches Merkmal von StoppSturz ist der Versuch, im Rahmen der kommenden Jahre Informationslücken zwischen den unterschiedlichen Anbietern zu schliessen. So ist es durchaus im Sinne von StoppSturz, dass die Spitex ein erhöhtes Sturzrisiko in der Wohnumgebung erfasst, dieses in die Praxis meldet und eine Abklärung somatischer Sturzrisiken initiiert wird. Langfristig soll diese Form der Prävention schweizweit ausgerollt werden.
Abbildung 1:
Abklärungs- und Behandlungskreislauf des Projektes StoppSturz. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Public Health Services, Bern.

Was sollten Hausärztinnen und Hausärzte wissen?

Aufgrund vielfältiger Rückmeldungen aus der Grundversorgung soll das Projekt einfach umsetzbar und leicht in den Alltag integrierbar sein. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich und dem Basler Mobility Center (Dr. Stefanie Bridenbough) entstand ein pragmatisches und überschaubares Manual, das über die Homepage zum Herunterladen verfügbar ist. Alle Abklärungen des Sturzrisikos sind in diesem Manual erklärt und wurden in den ersten Monaten des Projektes in den teilnehmenden Kantonen an Fortbildungsveranstaltungen und Qualitätszirkeln punktuell vorgestellt. StoppSturz ist als themenspezifisches Modul in die FMH-Initiative «Prävention mit Evidenz in der Praxis (PEPra)» eingebettet.
Wie in unten angefügtem Algorithmus aufgezeigt, genügen drei Fragen zum Sturzrisiko, um die Abklärung zu beginnen.

Fragen zum Sturzrisiko sind:

  • Sind Sie in den letzten 12 Monaten einmal ­gestürzt?
  • Fühlen Sie sich unsicher beim Stehen oder ­Gehen?
  • Haben Sie Angst, zu stürzen?
Die einfachen Screening-Untersuchungen bestehen aus einem 4-Meter-Gehtest (Mobilität) und einem Uhrentest (Kognition/Delir).
Je nach Risikoprofil bietet das Manual spezifische Empfehlungen zur weiteren Abklärung und zur Einleitung von Massnahem zur Reduktion des Sturzrisikos an. Alle Massnahmen verfolgen das Ziel, Stürze zu verhindern, die zu Verletzungen und Frakturen führen. Die im Manual empfohlenen Screening- und Abklärungsuntersuchungen decken Funktionsstörungen oder Missstände in Bereichen auf, die bei Stürzen häufig betroffen sind:
  • Gang, Balance und Kraft
  • Funktionelle Einschränkungen
  • Medikamente und Medikamenten-/Substanzmissbrauch
  • Visus- oder Hörminderung
  • Kognitive Einschränkung
  • Neurologische Erkrankungen/Probleme
  • Osteoporose
  • Orthostatische Hypotonie, Arrhythmien
  • Inkontinenz
  • Stolperfallen / mangelnde Beleuchtung
  • Füsse und Schuhe
  • Unpassende oder fehlende Gehhilfen
Abbildung 2:
Vereinfachte Version des Abklärungsalgorithmus aus StoppSturz. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Public Health Services, Bern.
Die Massnahmen sind dem Risiko angepasst und basieren wo immer möglich auf der aktuell vorliegenden Evidenz. Dabei hat sich die Steuergruppe zum Ziel gesetzt, das Manual regelmässig auf Aktualität zu überprüfen.

Was machen andere Berufsgruppen?

Bis Ende 2022 ist in einigen Kantonen (z.B. Bern) vorgesehen, MPA und Praxiskoordinatorinnen bezüglich Sturzprävention zu sensibilisieren. Hier arbeitet das Projektteam mit dem entsprechenden Verband zusammen. In den Apotheken sollen bei Verdacht auf ein Sturzrisiko ebenfalls die Screening-Fragen gestellt werden. Je nach Risikoprofil bieten die Apotheken eine Medikamentenberatung an und informieren die zuständigen Praxen. Die ProSenectute Bern erarbeitete ein Modul «Aufsuchende Beratung», das vor allem in komplexen Wohnsituationen oder schwierigem sozialen Umfeld greifen soll. Physio- und Ergotherapie sowie die Spitex haben Test-und Interventionsmanuale erstellt, die vom Aufbau mit denen für die Grundversorgung analog sind. Alle Berufsgruppen mit direktem Kontakt zu potenziell betroffenen Personen haben entsprechende Schulungskonzepte erarbeitet.

Und die Betroffenen?

In Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) und der Rheumaliga hat StoppSturz eine grosse Anzahl an Unterlagen zusammengestellt, die interessierten Laien helfen sollen, sich selbst bezüglich Sturzrisiko einzuschätzen, den Haushalt sicherer zu machen und/oder Kraft und Gleichgewicht zu trainieren. Alle diese Massnahmen sollen helfen, autonomes und unfallfreies Leben bis ins hohe Alter zu ermöglichen.
Angesichts der vielen konkurrierenden Themen der gesundheitlichen Vorsorge und Fürsorge liegt die grosse Herausforderung wohl darin, professionelle Versorger wie auch Betroffene für solche Aktivitäten überhaupt ins Boot zu bekommen. Falls Sie sich von diesem wichtigen Thema angesprochen fühlen, können Sie gerade den ersten Schritt tun: Besuchen Sie die Webseite www.stoppsturz.ch, wo Sie eine Fülle von Informationen und Tools dazu finden. Zwischenzeitlich wurde die Sturzprävention von der SGAIM als Qualitätskriterium anerkannt.

* Abkürzungen

KHM: Kollegium für Hausarztmedizin
SGAIM: Schweizerisch Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin
SFGG: Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie
FMH: Foederatio Medicorum Helveticorum
PD Dr. med. Thomas Münzer
Geriatrische Klinik ­St. Gallen
Rorschacherstrasse 94
CH-9000 St. Gallen
thomas.muenzer[at]geriatrie-sg.ch
1. Mujanovic A, Münzer T.Sturzprävention bei alten Personsn, was hilft. Ther Umsch. 2021;78(2):99-104.